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Thomas Franke: Russian Angst. Einblicke in die postsowjetische Seele

25.04.2017
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Autorenprofil
Natalie Wohlleben, Dipl.-Politologin
Hamburg, edition Körber-Stiftung 2017

Das Panorama der gegenwärtigen politischen Kultur Russlands zeichnet Thomas Franke in den düsteren Farben von Angst, Unfreiheit, Indoktrination, Rassismus und Gewalt. Während einige weiterhin für ein freies Leben in einer Demokratie arbeiten, haben sich andere scheinbar mit dieser postsowjetischen Realität abgefunden oder sind gar bereit, diese zu verteidigen. Und so ist die Gesellschaft von Angst geprägt – und diese Angst werde von Putin und seiner Clique gebraucht, um mächtig zu bleiben: „Angesichts des Versagens bei der Modernisierung der Wirtschaft und Gesellschaft wären ihre Tage sonst gezählt.“ (249)

Franke ist dieser Gesellschaft in seiner Zeit als Korrespondent in Moskau von 2012 bis 2016 nähergekommen und beginnt seine Bestandsaufnahme mit der dritten Amtszeit von Wladimir Putin. Zu dessen Wiederwahl habe das Regime alle Kraft eingesetzt, um entgegen von Hoffnungen auf einen Umbruch eine Farbrevolution zu verhindern. „Das Machtsystem reagiert mit sowjetischen Methoden [...]. Leute werden zu Loyalitätskundgebungen zusammengekarrt: Studenten, Lehrerinnen, Dozentinnen, andere Staatsangestellte. In den Metrostationen und auf den Straßen beobachte ich, wie Menschen Gruppen um sich scharen und Namenslisten abhaken. Ich höre, wie junge Leute sich austauschen, wie viel Geld sie für die Teilnahme bekommen.“ (29) Die Oppositionellen sind, auch bedingt durch mangelnden Zugang zu den Medien, dagegen nicht schlagkräftig organisiert. Die unmittelbare Zeit nach der Wahl ist von eher spontanen Protesten geprägt und das Regime demonstriert seine Unnachgiebigkeit mit der Verurteilung der Pussy-Riot-Künstlerinnen. Aus den Schilderungen Frankes von einer sommerlichen Reise nach Sibirien entsteht der Eindruck, eigentlich sei die Zeit doch in der Sowjet-Ära stehengeblieben.

Auf die Sowjetunion kann das Regime denn auch tatsächlich als Erfahrungshorizont der Bevölkerung zurückgreifen. Eine Angst aus der Stalin-Zeit habe daher wiedererweckt werden können, so Franke bei der Vorstellung seines Buches im April 2017 in Hamburg: Die Angst vor „Agenten“. Im Kapitel über die „Feindbilder“ schildert er, wie per Gesetz NGOs als ausländische Agenten diffamiert werden – „ein Volltreffer gegen die Zivilgesellschaft. Und es kommt rechtzeitig, bevor das Trauma der Großen Säuberungen sich in den Generationen verliert und die Angst nicht mehr spürbar ist.“ (78). Durch dieses Gesetz und andere Repressionen wird versucht, etwa die Arbeit von Memorial und des Moskauer Sacharow-Zentrums zu behindern. In diesen Kontext stellt Franke auch die irrationale Reaktion Russlands auf den Magnitsky Act, den der Kongress nach dem Tod des inhaftieren Anwaltes Sergej Magnitsky erlassen hat – die Adoption russischer Waisen in die USA wurde verboten.

Atmosphärisch dicht ist Franke das Kapitel über „Stalingrad“ gelungen, seine Schilderungen einer Recherchereise anlässlich des 70. Jahrestages der Schlacht eröffnen den Blick auf einen Umgang mit der Vergangenheit, der eher Spektakel denn Erinnerung ist. Gefeiert wird immer noch die siegreiche Sowjetunion und nebenbei werden so die Verbrechen Stalins marginalisiert, von einem Generationenkonflikt angesichts des gemeinsamen Blicks zurück kann Franke nichts entdecken. Erschreckend sind nicht nur die Schilderungen, dass die Toten beider Seiten nie geborgen und begraben (Freiwillige erledigen dies gelegentlich), sondern einfach auf den Feldern untergepflügt wurden. Eine Aufarbeitung dieses Kriegs unter den Vorzeichen des Stalinismus hat nie stattgefunden, weshalb das „Gedenken [...] zum Abziehbild der jeweiligen Propaganda [wird], und Putin nutzt das, wie es ihm gerade gefällt, schafft Parallelen, die historisch unhaltbar sind, um die Bevölkerung hinter sich zu vereinen [...]. Der Sieg über den Faschismus ist das Einzige, worauf sich die Menschen einigen können. Deshalb auch das Kampf-gegen-den-Faschismus-Gerede, wenn es später um die Ukraine geht“ (111).

Diese Geschichtspolitik, die die Vergangenheit als leere Hülle betrachtet, die immer wieder mit aktuellen Bezügen aufgefüllt werden kann, begünstigt – so der durch Franke lebendig vermittelte Eindruck – das Abdriften Russlands von der Rechtsstaatlichkeit, wie sich auch in dem Kapitel über eine seltsam geschichtsvergessene Renaissance des Kosakentums zeigt. Gruppen, die sich selbst als Kosaken deklarieren, ziehen als selbsternannte, jederzeit zu Handgreiflichkeiten neigende Ordnungshüter durch die Straßen; die Polizei, die gelegentlich angesichts von Straßenhändlern oder mutmaßlich illegalen Arbeitern gerufen wird, lässt nach Beobachtungen von Franke deren offene Amtsanmaßung geschehen. In dem Porträt des obersten Kosakenführers in Russland Pawel Sadoroschnyj arbeitet Franke die Ideologie dieser Gruppierung (von einem Volk ist in diesem Kontext nicht zu sprechen) heraus, deren „Maximen von Glaube und Vaterland [...] ganz auf der Linie des Kreml“ (136) liegen: Demokratie und Liberalismus sind für sie nur Synonyme für Chaos und Zusammenbruch, jeglicher Pluralismus wird rigoros abgelehnt, eine gesellschaftliche Akzeptanz der Homosexualität wird als Zeichen eine herannahenden Faschismus interpretiert. Die Kosaken seien bereit, Europa vor diesem Chaos zu retten. Als Franke Sadoroschnyj interviewt, „herrscht im Osten der Ukraine noch Frieden, und die Krim ist noch nicht besetzt“ (143). Seit deren Annexion scheinen dem Chauvinismus erst recht keine Grenzen mehr gesetzt zu sein, denn wer diese kritisiert, „setzt sich dem Vorwurf des Separatismus aus. Bis zu vier Jahre Haft gibt es für ‚Aufrufe zur Zerstörung der territorialen Integrität Russlands‘, fünf Jahre für ‚Aufrufe zu Separatismus mit Hilfe von Medien‘“ (212).

Bei den verschiedenen Begebenheiten, von denen Franke berichtet, sind nicht immer der Staat und die eigensinnigen Teile der Zivilgesellschaft direkt aufeinandergetroffen. Auch ohne das direkte Eingreifen der Polizei lässt sich Angst verbreiten – es treten Gruppen auf, die im Verdacht stehen, vom Kreml gesteuert zu ein. Für Moskau berichtet Franke von der Nationalen Befreiungsbewegung (NOD), bei deren Aktionen er wiederholt auf Maria Katasonowa getroffen ist. Sie ist Mitarbeiterin des Duma-Abgeordneten Jewgenij Fjororow, der der Regierungspartei Einiges Russland angehört und NOD gegründet hat – einen Mob, der sich jederzeit zur Einschüchterung gegen zivilgesellschaftliche Gruppen oder Künstler einsetzen lässt und dabei vorgibt, das wahre Russland zu vertreten. Die Angst, die damit verbreitet werden soll, ist die „Stärke der Regierung Putin“ (247).

 

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Presseschau

Widerspruch wird unterdrückt
Gewalt gegen Oppositionelle

Antonie Rietzschel
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Süddeutsche Zeitung, 20. April 2017
http://www.sueddeutsche.de/politik/nikolai-andruschtschenko-putin-kritiker-andruschtschenko-stirbt-nach-pruegelattacke-1.3470922

 

Christina Heben
Putin-Kritiker Kara-Mursa: Der nächste Giftverdacht
Spiegel online, 9. Februar 2017
http://www.spiegel.de/politik/ausland/russland-verdacht-auf-vergiftung-bei-putin-kritiker-wladimir-kara-mursa-a-1133844.html

 

Gesine Dornblüth
Prozess im Mordfall des Kreml-Kritikers Nemzow
Deutschlandfunk, 13. Januar 2017
http://www.deutschlandfunk.de/russland-prozess-im-mordfall-des-kreml-kritikers-nemzow.795.de.html?dram:article_id=376284


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