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Hassan Abu Hanieh / Mohammad Abu Rumman: Dschihadistinnen. Faszination Märtyrertod

26.11.2018
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Autorenprofil
Michael Rohschürmann
Aus dem Arabischen übersetzt von Günther Orth.
Bonn, Dietz Verlag 2018

Der Islam und umso mehr der Islamismus gelten vielen Menschen im Westen als konservativ und vor allem wird die Stellung der Frau häufig als rückständig kritisiert. Speziell im Bereich des Dschihadismus und insbesondere, wenn es um den Komplex der Selbstmordattentate geht, herrscht Unverständnis hinsichtlich der Motive der Täterinnen und Täter – vor allem im Hinblick auf Täterinnen scheinen die klassischen Anreizstrukturen (Paradiesjungfrauen) wenig reizvoll.

Wie also ist es zu erklären, dass es sowohl in der arabischen Welt als auch im Westen eine erhebliche Anzahl Mädchen und junger Frauen gibt, die ihr gewohntes Leben hinter sich lassen, um sich dem Islamischen Staat anzuschließen? Welche Rekrutierungsmechanismen greifen hier? Welches sind die sozialen und psychologischen Faktoren, die einen entsprechenden Entschluss begünstigen? Diesen Fragen widmen sich die jordanischen Islamismus-Forscher Hassan Abu Hanieh und Mohammad Abu Rumman.

Ausgehend von einer Analyse der IS-Ideologie und des Frauenbildes sowie umfangreichen Quellenmaterials beschreiben sie Werdegang und Motivation von Dschihadistinnen. Die Studie gliedert sich in einen historischen Abriss „Frauen im Dschihad von Al-Qaida bis zum IS“ (26-126) sowie die Analyse der Motive „Wie und warum Frauen in den Dschihad zogen“ (131-275). In die Analyse werden nicht nur aktive Kämpferinnen einbezogen, sondern auch diejenigen, die für sich beschlossen hatten, im Islamischen Staat zu leben.

Dabei trennen die Autoren scharf – vielleicht zu scharf – „islamischen Feminismus“ und „weiblichen Dschihad“. Ersteres sei eine Herleitung gleicher Rechte lediglich aus islamischen Traditionen ohne einen Rückgriff auf im Westen entstandene Ideen, während Letzteres eine feste und nicht hinterfragbare religiöse Identität in den Mittelpunkt stelle. Hier könnte durchaus argumentiert werden, dass eine Abwendung von westlichen – auch emanzipatorischen – Diskursen hin zu imaginierten Werten eines ebenfalls imaginierten islamischen goldenen Zeitalters durchaus auch einen Akt der Selbstermächtigung darstellen kann. Dies wäre umso relevanter, da die Autoren sehr wohl darauf verweisen, dass der Dschihad postuliert, der Weg zu sein, mit dem sich sowohl das Individuum selbst als auch seine Glaubensgemeinschaft von Unterdrückung befreit. Wenn hiergegen immer wieder angeführt wird, dass die Gesellschaftsvorstellung der Dschihadisten eben gerade nicht Freiheit, sondern maximale Reglementierung des Lebens bedeutet, so verkennt dieses Argument die andere Stoßrichtung des islamisch-theologischen Freiheitsbegriffes. Freiheit ist hier nicht zu verstehen als Freiheit zu etwas, sondern als Freiheit von der Bevormundung durch andere Menschen oder von Menschen gemachten Gesetzen. Unter der Prämisse, dass die göttlichen Regeln, qua ihrer göttlichen Herkunft, genau dem Leben entsprechen, das für den Menschen von seinem Schöpfer angedacht ist, befreien diese Regeln die Gläubigen von den Regeln anderer Menschen, die ja eben nicht wissen können, was für sie natürlich ist.

In den Einzelfallbetrachtungen zeigen Abu Hanieh und Abu Rumman denn auch Beispiele von Frauen auf, die genau dieses Argument zu überzeugen vermochte – auch weil ihre sozialen und privaten Verhältnisse ebenfalls von einengenden Regeln bestimmt waren. Letzten Endes stand hier der Tausch eines Regelsets gegen ein anderes im Vordergrund.

Noch einen Schritt weiter in der Selbstermächtigung gehen die Beispiele sogenannter schwarzer Witwen, also von Selbstmordattentäterinnen. Hier wird nicht nur bewusst ein Regelset gewählt (und die Frau nicht qua Geburt in eines sortiert), sondern die Attentäterin nimmt für sich auch eine soziale Rolle in Anspruch, die gewöhnlich eher Männern zukommt. Die Autoren erkennen korrekt, dass die Entscheidung, Selbstmordattentäterin zu werden, durchaus eine bewusste sein muss und keine Gehirnwäsche dazu notwendig ist: „Die Initiative für den Einsatz bei Selbstmordmissionen kommt überwiegend von den betroffenen Frauen.“ (126)

Ihre Individualuntersuchungen gliedern die Autoren nach den jeweiligen Herkunftsländern. Eine Gliederung nach Motivlage wäre ebenfalls denkbar gewesen. In den jeweiligen Kategorien finden sich differenzierte Darstellungen und diese sind mit erfreulich umfangreichem Quellenmaterial hinterlegt. Dadurch werden die vielfältigen Bewegründe der Dschihadistinnen deutlich und umso mehr wäre eine Clusterung nach diesen Beweggründen hilfreich gewesen. Mit Blick auf die Motivationslagen lassen sich häufig Kombinationen aus religiösen Überzeugungen und sozialem Verantwortungsbewusstsein finden. Im Fall der westlichen Auswanderinnen zeigen sich häufig Kombinationen aus misslungener Integration beziehungsweise – im Fall von Konvertitinnen – Entwurzlungen und einem dysfunktionalen sozialen Umfeld. Vor allem die circa 200 ausgewanderten Frauen aus den USA geben als Hauptmotivation Isolation an. Hier räumen die Autoren mit immer wieder zu lesenden Erklärungsmustern auf. Dazu gehört, dass Frauen nur durch Gehirnwäsche zu einem Anschluss an den IS gebracht werden könnten. „Die Anziehungskraft des IS für Frauen […] besteht u. a. darin, dass er ein alternatives ‚politisches Projekt‘ zum Leben in der westlichen Moderne und zu säkularen arabischen Regime anbietet“ (281). Ebenso wird beständig eine formal geringe Bildung der betreffenden Frauen angenommen – und auch hier widersprechen die Autoren: „Akademikerinnen stellen […] einen großen Teil der Dschihadistinnen". (283)

Das Buch ist weniger als Einstiegslektüre geeignet, stellt aber eine gute und wichtige Ergänzung der Debatte über die Anziehungskraft radikaler islamischer Organisationen dar.

 

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Rezension

Christoph Reuter

Maryam A.: Mein Leben im Kalifat. Eine deutsche IS-Aussteigerin erzählt

München, Deutsche Verlags-Anstalt 2017

Christoph Reuter bietet eine seltene Innenansicht des IS aus dem Blickwinkel einer deutschen Konvertitin, die zusammen mit ihrem Mann im Sommer 2014 dem Ruf zur Ansiedlung im Machtbereich des IS in Syrien folgt. Unter dem Pseudonym Maryam beschreibt sie ihre Erlebnisse im Mikrokosmos der Frauen. Es ist der persönliche Blickwinkel, der dem IS-Terror einen menschlichen Anstrich verleiht, hebt Rezensent Michael Rohschürmann hervor. Damit offenbare sich angesichts der Wahrnehmung des Tötens als alltägliches Ereignis eine erschreckende „Banalität des Bösen“, wie sie schon Hannah Arendt am Beispiel des Eichmann-Prozesses beschrieben hatte.


Studie

Erin Marie Saltman / Melanie Smith
‘Till Martyrdom Do Us Part’ Gender and the ISIS Phenomenon
Institute for Strategic Dialogue, 2015



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