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Tagungsbericht / 15.03.2023

Tagungsbericht: Frühjahrsakademie des Instituts für Parlamentarismusforschung

Wie gelingt der wissenschaftliche Blick in das Parlament? Die IParl-Akademie möchte Grundlagen der Parlamentarismus- und Repräsentationsforschung vermitteln. Foto: Pixabay, Anja.

Was ist der state of the art der Parlamentarismusforschung? Welche Theorien und empirischen Erkenntnisse hat die Politikwissenschaft über die Funktionen, Arbeitsweisen und Krisendiagnosen von Parlamenten? Antworten auf diese Fragen gibt die Frühjahrsakademie „Parlamentarismus in Forschung und Praxis: Hohe Häuser vor hohen Herausforderungen“ des Instituts für Parlamentarismusforschung (IParl), deren Programmpukte und zentrale Einischten wir in diesem Tagungsbericht zusammenfassen.


Ein Tagungsticker von David Kirchner und Sarah Ketteniß

 

Tag 1: Theoretische und empirische Grundlagen der Parlamentarismusforschung: Parlamente als „leistungsfähige, aber anspruchsvolle Institutionen“

Der Auftakt der Frühjahrsakademie stand im Zeichen der theoretischen und empirischen Grundlagen der Parlamentarismusforschung. Der erste inhaltliche Vortrag von Dr. Franziska Carstensen behandelte die unterschiedlichen Typologien und Funktionen, die Parlamenten in der politikwissenschaftlichen Forschung zugeschrieben werden. Grundlegend sei es zunächst, das Prinzip der Repräsentation als Wesensmerkmal des Parlamentarismus zu identifizieren. Schließlich mache erst die Logik der Repräsentation aus einer Versammlung ein Parlament und dieses wiederum zur zentralen Legitimationsinstanz repräsentativer Demokratien. Neben der Repräsentation könnten zudem der Gesetzgebungsprozess sowie die Artikulation gesellschaftlicher Interessen als Grundfunktionen demokratischer Parlamente definiert werden. Carstensen betonte, dass es wichtig sei, die Interdependenzen zwischen den einzelnen Funktionen zu berücksichtigen. Es sei ein Missverständnis zu glauben, dass Parlamente ihre Repräsentationsfunktion unabhängig von ihrer legislativen Entscheidungskompetenz ausüben könnten.

Relevant für die politikwissenschaftliche Praxis sei zudem die Frage nach sinnvollen Vergleichskriterien zwischen Parlamenten. So könnten Parlamente entweder nach ihrer Struktur oder nach ihren Funktionen typologisiert werden. Besonders prominent sei hier die funktionslogische Unterscheidung zwischen parlamentarischen und präsidentiellen Regierungssystemen, der bekanntlich sogar systemprägenden Wirkungen, etwa auf die Autonomie des Exekutivhandelns zugeschrieben werden. Auch die im deutschsprachigen Raum verbreitete Unterscheidung zwischen Rede- und Arbeitsparlament sei eine funktionslogische Unterscheidung, die nach Auffassung von Carstensen aber allenfalls idealtypischen Wert habe, da sie empirisch nur begrenzt haltbar sei. Vielversprechend seien zudem Ansätze, die Parlamente anhand zweier Funktionen, wie beispielsweise parlamentarische Entscheidungsmacht und Unterstützung für das Parlament in der politischen Elite und Öffentlichkeit, differenzierten.

Anschließend knüpfte Dr. Alexander Kühne mit einem Input zu den theoretischen Grundlagen der Repräsentationsforschung an das zentrale Legitimationsprinzip moderner Demokratien an. Er erklärte zunächst die fundamentalste Definition von Repräsentation als „etwas Abwesende[s] anwesend [zu] machen“, bevor er im Anschluss auf die unterschiedlichen Repräsentationstypen (formale, deskriptive, symbolische und handlungsbezogene Repräsentation) nach Hanna Pitkin einging. Anschließend thematisierte Kühne das Spannungsverhältnis zwischen Responsivität und politischer Führung. Während Responsivität, die Bereitschaft der Repräsentant*innen meint, die Interessen der Wähler*innen aufzunehmen und weiterzutragen, beschreibt politische Führung die Fähigkeit der Repräsentant*innen die eigene Handlungsautonomie zu erhalten. Dieses anspruchsvolle Spannungsverhältnis, das verschiedene Demokratietheorien durchaus unterschiedlich auflösen, brachte der ehemalige französische Abgeordnete Alexandre Ledru-Rollin, der zugleich einer der Anführer der Julirevolution von 1848 war, mit folgendem Satz auf den Punkt: „Ich muss ihnen folgen, ich bin ihr Anführer“.

Im nächsten Schritt stellte Kühne Möglichkeiten zur Operationalisierung der verschiedenen Repräsentationstypen vor und differenzierte das Konzept der Responsivität weiter aus. Abschließend konkretisierte er gemeinsam mit den Teilnehmenden die notwendigen Bedingungen für das Zustandekommen von Repräsentationsbeziehungen und stellte das von Michael Saward entwickelte Modell zur Dynamik politischer Repräsentation vor. Quintessenz des Modells ist die Annahme, dass weder Repräsentant*innen noch Repräsentierte einfach gegeben seien, sondern sich erst im Prozess der Repräsentation wechselseitig konstituierten. Dieser formierende Charakter der Repräsentation bleibt in öffentlichen Diskussionen häufig unterbelichtet, obwohl sich der Gedanke bereits bei einem der Gründerväter der Französischen Revolution in aller Klarheit findet. So heißt es bei Emmanuel Joseph Sieyès: „Erst die politische Repräsentation verleiht der Idee der Nation Sinn und Form. Nur als Repräsentation existiert das versammelte Volk, denn anders kann die Gesamtheit aller Mitglieder sich nicht versammeln.“

Am Nachmittag folgte die praktische Unterfütterung der Theorie durch Prof. Dr. Werner Patzelt, der in einem launigen Vortrag in die empirischen Methoden der Parlamentarismusforschung einführte. Im Mittelpunkt standen dabei die spezifischen Herausforderungen der qualitativen und quantitativen Parlamentarismusforschung und das frühzeitige Erkennen möglicher Fallstricke im Forschungsprozess. Von der Formulierung der Fragestellung, über die Rezeption der forschungsleitenden Literatur bis hin zur Art der Datenauswertung hielt Patzelt ein leidenschaftliches Plädoyer für die Einhaltung der Gütekriterien wissenschaftlichen Arbeitens und die Formulierung innovativer und vor allem relevanter Fragestellungen. Schließlich sei das Leben zu kurz, für triviale Fragestellungen und offensichtliche Ergebnisse. 

Tag 2: Zwischen Paulskirchenverfassung und „vorverlagerter Repräsentation“: Juristische und historische Perspektiven auf den deutschen Parlamentarismus

Der zweite Tag der IParl-Frühjahrskademie begann mit einem Bericht aus der parlamentarischen Praxis von Ministerialrat Thomas Hadamek, Leiter des Parlamentssekretariats des Deutschen Bundestages, über die Rolle des Rechts für das Handeln des Bundestages. Dabei standen sowohl das Verhältnis des Bundestages zu anderen Verfassungsorganen als auch die innere Verfasstheit des Parlaments im Mittelpunkt. Sehe man vom Europarecht ab, stelle das Grundgesetz die oberste Regelungsebene parlamentarischen Handelns in Deutschland dar. So lege das Grundgesetz beispielsweise die Dauer der Wahlperiode, die Beschlussfassung mit einfacher Mehrheit und das Prinzip des freien Mandats fest. Allerdings lasse das Grundgesetz wichtige Fragen wie etwa die genaue Ausgestaltung des Wahlrechts offen. Unterhalb des Grundgesetzes regelten einfache Bundesgesetze weitere Aspekte parlamentarischen Handelns, wie etwa die Organisation parlamentarischer Untersuchungsausschüsse. Unterhalb der gesetzlichen Regelungen sei für das „Binnenhandeln“ des Parlaments die Geschäftsordnung des Bundestages von entscheidender Bedeutung. Diese werde zu Beginn jeder Legislaturperiode mit einfacher Mehrheit vom Bundestag beschlossen und kann jederzeit von diesem verändert werden. Diese Vorgehensweise erlaube dem Bundestag eine hohe Autonomie und Flexibilität in der Selbstorganisation. Zudem sei die parlamentarische Praxis stark vom Konsensprinzip geprägt, erklärte Hadamek. So würden auch in der jetzigen Legislaturperiode mit sechs Fraktionen 95 Prozent der Tagesordnungen im Ältestenrat konsensual beschlossen. Dies zeige, dass der Bundestag sehr gut damit fahre, nicht jede Detailfrage seiner Selbstorganisation gesetzlich zu kodifizieren. Parlamentsforscher*innen sei daher zu raten, nicht nur die verschriftlichten Regelungen zu untersuchen, sondern sich einen Zugang zur parlamentarischen Praxis zu verschaffen.

Jenseits der Regelungshierarchie referierte Hadamek anhand zahlreicher Beispiele über das Verhältnis von Bundestag und Bundesverfassungsgericht, das Konzept der „vorverlagerten Repräsentation“ und die wenig beachtete Rolle der Fraktionen bei der Darstellung parlamentarischer Prozesse. Auch in der Forschung, so Hadamek, würden Fraktionen zu sehr als verlängerter Arm der Parteien und nicht als wesentliche Entitäten des Verfassungsorgans Parlament verstanden. Es sei eine verbreitete These, dass die Parlamente zunehmend von starken Exekutiven marginalisiert würden, was sich unter anderem daran zeige, dass 80 Prozent der Gesetzentwürfe von der Bundesregierung eingebracht würden und dem Parlament zu wenig Zeit bleibe, sich intensiv mit den Vorlagen zu befassen. Diese Sichtweise verkenne jedoch, dass zumindest die Mehrheitsfraktionen sehr früh über Gesetzesvorhaben informiert seien und die Regierung ihre Gesetze nicht aus dem luftleeren Raum ins Parlament einbringe. Hadamek gelang es in seinem Vortrag, die anspruchsvolle Materie der rechtlichen Grundlagen parlamentarischen Handelns verständlich darzustellen, ohne die der Materie innewohnende Komplexität unzulässig zu versimplifizieren. Nicht zuletzt durch zahlreiche Anekdoten und persönliche Eindrücke entstand so ein lehrreicher und spannender Einblick in die Rechtsfragen, die die politische Arbeit im Parlament strukturieren.

Am Dienstagnachmittag berichtete Prof. Dr. Jörg-Detlef Kühne detailreich über die Geschichte des Deutschen Parlamentarismus seit der Paulskirchenverfassung von 1848 und ihren regionalen Vorläufern im Deutschen Bund. Während die „stille Parlamentarisierung“ im Vereinigten Königreich längst in vollem Gange war, blieb sie auf der Ebene des Deutschen Bundes bis zur Weimarer Verfassung von 1919 angesichts der monarchischen Prärogative auf der Strecke. Zwar gab es während des „süddeutschen Frühkonstitutionalismus“ in Bayern, Baden und Württemberg parlamentarische Versammlungen, doch blieb das Elektorat auf einen wohlhabenden Bruchteil der Gesamtbevölkerung beschränkt, und die Adelskammern übten ihre antidemokratische Blockadehaltung mit großem Standesbewusstsein aus. Wie Thomas Hadamek, betonte auch Kühne in historischer Perspektive die Bedeutung der Fraktionen für das Gelingen parlamentarischer Arbeit. Zwar sei dem Paulskirchenparlament bekanntlich kein durchschlagender Erfolg gegen die Kräfte der Gegenrevolution beschieden gewesen, doch könne die Tatsache, dass sich in ihm erstmals auf deutschem Boden Abgeordnete auf der Grundlage geteilter politischer Überzeugungen organisierten, durchaus als vorläufiger Durchbruch gewertet werden. Die einzelnen Fraktionen der Paulskirche seien nach den Frankfurter Lokalen benannt gewesen, in denen sich die jeweiligen Gruppen von Abgeordneten trafen. So tagten die Konservativen beispielsweise im "Café Milani", während sich die links-progressiven Kräfte regelmäßig im „Donnersberg“ zusammenfanden. Gerade im Vergleich zu Großbritannien gelang es Kühne hervorragend, die Besonderheiten der deutschen Parlamentarismusgeschichte herauszuarbeiten und dabei immer wieder Bezüge zur Gegenwart herzustellen, etwa zur geplanten Wahlrechtsreform im Bundestag oder zur besonderen Rolle des House of Commons beim Brexit.

Am Dienstagabend stand schließlich ein Besuch im Wahlkreisbüro von Hanna Steinmüller (Bündnis 90/Die Grünen), der direkt gewählten Bundestagsabgeordneten für den Wahlkreis Berlin-Mitte, auf dem Programm. Der Besuch bot die Möglichkeit zu einem interessanten Austausch über die Bedeutung der Wahlkreisarbeit und deren Auswirkungen auf das Selbstverständnis von Abgeordneten. In einer Fragerunde beantwortete Steinmüller unter anderem die Fragen, wie die Wahlkreisarbeit organisiert ist und welche Rolle Lokaljournalismus und Social Media in der Wahlkreisarbeit spielen.

Tag 3: Parlamente im politikwissenschaftlichen Vergleich: Über Gemeinsamkeiten und Unterschiede Hoher Häuser

Der Vergleich gehört zu Recht zu den beliebtesten und am weitesten verbreiteten Methoden der Politikwissenschaft. Schließlich erlaubt er den Forschenden, ihre Beobachtungen zu systematisieren, Klassifikationen zu entwickeln und Hypothesen auf der Grundlage der beobachteten Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu formulieren. Dr. Michael Kolkmann, Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für Politikwissenschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, präsentierte am Mittwoch theoretische Grundlagen, empirische Befunde und zahlreiche Anekdoten aus der weiten Welt des Parlamentsvergleichs. Mit der Unterscheidung zwischen parlamentarischen, hybriden und präsidentiellen Regierungssystemen, Konsens- und Mehrheitsdemokratie sowie Rede- und Arbeitsparlament wurden zunächst die unverzichtbaren Grundlagen der Parlamentarismusforschung aufgefrischt. Anschließend stellte Kolkmann neuere Typologien sowie verschiedene Analyseraster vor, die den politikwissenschaftlichen Vergleich von Parlamenten anhand unterschiedlicher Dimensionen ermöglichen.

Einen weiteren thematischen Schwerpunkt bildeten die Unterschiede in der Wahlkreisarbeit der Abgeordneten. So zeigten empirische Untersuchungen, dass Parlamentarier*innen teils sehr unterschiedliche Rollenverständnisse ihrer Abgeordnetentätigkeit haben. Während sich einige besonders stark als Interessenvertreter*innen ihres Wahlkreises identifizierten, fokussierten sich andere auf die Rolle des Fachpolitikers oder der Fachpolitikerin im Gesetzgebungsprozess. Darüber hinaus bot der Vormittag den Teilnehmenden viel Raum für inhaltlichen Austausch. So wurde neben der Diagnose einer „US-Amerikanisierung“ der Wahlkämpfe auch die Frage diskutiert, wovon die Macht eines Parlaments abhängt und welche Rückschlüsse sich aus der Architektur von Parlamenten ziehen lassen. Da neben theoretischen Konzepten auch Lesetipps und „Fun Facts“ rund um das Thema Parlamentarismus nicht zu kurz kamen, kannten die Teilnehmenden nach Kolkmanns Vortrag nicht nur elaborierte Prozessmodelle der Repräsentation, sondern wussten auch, wie Farbe der Sitze im Plenarsaal des Bundestages heißt (Reichstagsblau), wie viele Blumenkübel vor dem Bundesrat stehen (35) und wie lange der längste Filibuster in der Geschichte des US-Senats dauerte (24 Stunden und 18 Minuten).

Am Mittwochnachmittag hatten die Teilnehmenden die Möglichkeit, eigene Forschungsprojekte aus dem Bereich der Parlamentarismus- und der Parteienforschung vorzustellen. Aufgrund des interdisziplinären Publikums und der verschiedenen Perspektiven entstand dabei viel Raum für Diskussion, Weiterentwicklung und wissenschaftlichen Austausch.

Tag 4: Parlamente und Krisen: Warum es während COVID-19 keine „Entmachtung“ des Bundestags gab?

Finanzkrise, Eurokrise, Migrationskrise, COVID-19-Pandemie, Ukraine-Krieg und Klimakrise: Die Häufung und partielle Gleichzeitigkeit ganz unterschiedlicher Krisen hat viele Beobachter*innen dazu veranlasst, ein neues Ausmaß der Krisenhaftigkeit moderner Gesellschaften festzustellen. So popularisierte der renommierte Wirtschaftshistoriker Adam Tooze den Begriff der „Polykrise“, die sich dadurch auszeichne, dass sie heftiger sei als die Summe ihrer Einzelkrisen. Was aber wissen wir empirisch über das Verhältnis von Krisen und Parlamenten? Und führt die Tatsache, dass Parlamente in Krisenkontexten agieren und diese zwangsläufig auf die Parlamente rückwirken, automatisch zur Diagnose einer „Krise der Parlamente“? Erste Antworten auf diese Fragen für die COVID-19-Krise gibt das Projekt „Parliaments in the Pandemic“ (PiP), das Forschungsleiter Prof. Dr. Sven Siefken, Senior Research Fellow am IParl und Professor für Politikwissenschaft an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, am Donnerstagvormittag vorstellte. Nach einigen begrifflichen Klärungen erarbeiteten die Teilnehmenden in welchen Dimensionen sich Krisen auf Parlamente auswirken können, welche politikwissenschaftlichen Fragestellungen sich daraus ergeben und wie diese untersucht werden können.

Anschließend referierte Siefken die bisherigen Ergebnisse des PiP-Projekts. Mit Hilfe umfangreicher Fragebögen hatte PiP internationale Parlamentsexpert*innen zum Verhalten von 33 nationalen Parlamenten während der Pandemie befragt. Untersucht wurde, ob organisatorische Einstellungen, parlamentarische Funktionen, die öffentliche Wahrnehmung und die parlamentarische Performanz zu einer Machtverschiebung zu Ungunsten der Parlamente gegenüber den nationalen Exekutiven geführt haben. Entgegen der verbreiteten These einer Entmachtung der Parlamente während der Pandemie, zeigten die Ergebnisse, dass die Parlamente in stabilen Demokratien nicht geschwächt wurden. Dass die Pandemie als „Stunde der Exekutive“ jedoch durchaus negative Auswirkungen auf die Parlamente haben könne, verdeutlichten die Ergebnisse aus den „defekten Demokratien“, in denen es nach Einschätzung der Expert*innen durchaus zu einer Marginalisierung der Parlamente gekommen war. Für den Bundestag sei hervorzuheben, dass es zwar Anpassungen auf Ebene der Geschäftsordnung gegeben habe (beispielsweise Beschlussfähigkeit ab 25 Prozent der Abgeordneten und elektronische Abstimmungen in den Ausschüssen), das Parlament aber zu keinem Zeitpunkt in einen institutionellen Notbetrieb übergegangen sei. Insgesamt gab es daher während der Pandemie keine grundsätzlichen Änderungen in der Arbeitsweise des Bundestages. Sowohl im Hinblick auf die Anzahl der verabschiedeten Gesetze als auch auf die Kontrolle des Regierungshandelns habe der Bundestag seine Funktionen weiterhin effektiv wahrgenommen.

Auch der häufig geäußerte Vorwurf, der Bundestag habe die zentrale Reform des Infektionsschutzgesetzes im März 2020 lediglich abgenickt, sei nicht haltbar. Zwar hätten zwischen dem Regierungsentwurf und der Verabschiedung des Gesetzes nur zwei Tage gelegen, doch verkenne eine solch formalistische Sichtweise den Einfluss der Fraktionen in der vorparlamentarischen Phase des Gesetzgebungsprozesses. Selbst die Oppositionsparteien würden betonen, dass sie im Falle des Infektionsschutzgesetzes besonders umfassend informiert worden seien, bevor die Regierung den Gesetzentwurf ins Parlament eingebracht habe. Die Tatsache, dass in der Öffentlichkeit häufig der Eindruck einer Entmachtung des Parlaments entstanden sei, deute jedoch darauf hin, dass der Bundestag seine tatsächliche Rolle nicht immer optimal kommuniziert habe. Sowohl die mangelnde Außenwahrnehmung des Bundestages als auch die Bedeutung der vorparlamentarischen Phase zeigten, so Siefken, dass es für Parlamentarismusforscher*innen nicht ausreiche, bei ihren Untersuchungen nur das Parlament oder gar nur das Plenum in den Blick zu nehmen. Vielmehr müsse das Wirken und die Wirkung parlamentarischer Praxis auch jenseits der Außenmauern der hohen Häuser betrachtet werden.

Am Nachmittag hatten die Teilnehmenden erneut die Gelegenheit, ihre eigenen Forschungsprojekte und -vorhaben vorzustellen, bevor sie sich persönlich ein Bild von der parlamentarischen Praxis machen konnten. Bei einem Besuch des Bundestages und der Teilnahme an einer Plenarsitzung konnte die Akademie-Gruppe 60 Minuten lang verfolgen, wie die Parlamentarier*innen zunächst über eine Stiftung zur unabhängigen Patientenberatung und anschließend über das Programm „Startchancen 2023“ debattierten. Zum Abschluss des Tages konnte die Gruppe bei einem Kuppelbesuch den Himmel über Berlin bei Sonnenuntergang genießen.

Tag 5: Wie viel frischen Wind braucht der Bundestag?

Wie viel personelle Erneuerung ist in Parlamenten notwendig, damit sie einerseits nicht „verkrusten“ und andererseits genügend Erfahrung und Prozesswissen vorhanden bleiben? Um diese Fragen politisch zu diskutieren, fand am Freitagvormittag eine Podiumsdiskussion mit den Bundestagsabgeordneten Armand Zorn (SPD) und Catarina dos Santos (CDU), die beide 2021 erstmals in den Bundestag eingezogen sind, sowie dem ehemaligen Bundestagsabgeordneten Patrick Sensburg (CDU), der von 2009 bis 2021 zwölf Jahre lang Mitglied des Bundestages war, statt. Die (ehemaligen) Abgeordneten berichteten von ihren „Anfängerfehlern“ und persönlichen Lernkurven im Bundestag. Sie waren sich einig, dass man zwar die grundlegenden Abläufe schnell verstehe, aber Zeit brauche, um sich ein Netzwerk aufzubauen und zu wissen, wann man an welcher Schraube drehen müsse. Zudem betonten alle Redner*innen, dass es eine Balance aus Erfahrung und frischem Wind brauche. Der Bundestag müsse vielfältig genug sein, um alle gesellschaftlichen Gruppen angemessen zu repräsentieren und dafür brauche es neue Perspektiven. Gleichzeitig hob insbesondere dos Santos hervor, wie sehr sie in ihrem ersten Jahr von der Unterstützung erfahrener Abgeordneter ihrer Fraktion profitiert habe. Besonders interessant waren die Einblicke in die parlamentarische Praxis innerhalb der Fraktionen. So berichtete Zorn von den Abläufen in den Fraktionssitzungen und dos Santos erläuterte, wie zu Beginn einer Legislaturperiode festgelegt werde, welche*r Abgeordnete für welche Themen zuständig sei. Anschließend informierte Sensburg über die Arbeit in Gremien wie dem Ältestenrat und die Freiheiten direkt gewählter Abgeordneter.

Nach der politischen Diskussion folgte der politikwissenschaftliche Blick auf das Thema der personellen Erneuerung in den Parlamenten. Daniel Hellmann, wissenschaftlicher Mitarbeiter am IParl, stellte die Ergebnisse der Forschungsprojekte „Kandidatenaufstellung zur Bundestagswahl 2017“ und „CandiData“ vor. Während im ersten Projekt untersucht wurde, wer wen warum für eine Kandidatur auswähle, baue das CandiData-Projekt auf diesen Erkenntnissen auf und frage nach den langfristigen Entwicklungen bei der Kandidatenrekrutierung. Dabei stehe insbesondere die personelle (Dis-)Kontinuität im Mittelpunkt der Forschung. Mitentscheidend für die Frage, ob Abgeordnete wiedergewählt werden, sei der Amtsinhaber*innenbonus, der von der Kandidaturentscheidung über die Kandidierendenaufstellung bis hin zur Wahlentscheidung der Wähler*innen eine große Bedeutung habe. Aufgrund des „Platzhirsch“-Effekts, der starken innerparteilichen Stellung, der Bekanntheit im Wahlkreis sowie des Informationsvorsprungs im Politikbetrieb haben Amtsinhaber*innen gute Chancen, wiedergewählt zu werden, wenn sie sich für eine erneute Kandidatur entscheiden. Vor diesem Hintergrund lasse sich empirisch feststellen, dass Erstkandidierende die Chancen ihrer Kandidatur genau abwägen, um keine aussichtslosen Rennen gegen starke Amtsinhaber*innen zu beginnen.

Betrachte man die Gesamtheit der Kandidat*innen (unabhängig von den Erfolgschancen des jeweiligen Listenplatzes und Wahlkreises), so zeige sich je nach Wahl und Partei meist ein relativ hoher Newcomer*innen-Anteil von 50 bis 75 Prozent. Dieser empirische Befund widerspreche dem Klischee, dass bei Wahlen stets die gleichen Gesichter antreten würden. Doch wie sieht es mit den Erfolgschancen der Erstkandidierenden aus? Wie vielen Neulingen gelingt der Sprung ins Parlament? Für die Bundestagswahl 2017 lasse sich konstatieren, dass 22 Prozent der gewählten Abgeordneten zuvor noch bei keiner Landtags-, Europa- oder Bundestagswahl kandidiert haben, also „echte Newcomer“ sind. Dabei variiere die Quote zwischen den Parteien deutlich. So hatte die SPD nur 12,7 Prozent Neulinge im Bundestag, während die wiedereingezogene FDP auf 33,7 Prozent und die erstmals im Bundestag vertretene AfD sogar auf 55,2 Prozent Neulinge kam. Der hohe Anteil bei FDP und AfD erkläre auch den Irrtum, dass bei Newcomer*innen meist an die jungen und diversen Wilden gedacht werde, die den Bundestag aufmischten. Tatsächlich seien die Newcomer-Abgeordneten 2017 mit durchschnittlich 47,8 Jahren kaum jünger als die restlichen Abgeordneten gewesen und mit einem Männeranteil von 71,1 Prozent geschlechtsspezifisch sogar weniger divers. Bemerkenswert sei auch ein auf den ersten Blick kontraintuitiver Zusammenhang. Je schwächer eine Partei im Vergleich zur Vorwahl abschneide, desto weniger ihrer Newcomer*innen ziehen in das neu gewählte Parlament ein. Der Grund hierfür sei, dass die etablierten „Platzhirsche“ dann die wenigen Plätze unter sich aufteilten.

Nach Auffassung von Hellmann könne es sowohl zu viel als auch zu wenig personelle Erneuerung geben. Wo genau die goldene Mitte liege, sei aber empirisch kaum festzustellen und hänge stark vom politischen Kontext sowie den persönlichen normativen Erwartungen ab. Um diese wichtige Diskussion sinnvoll zu strukturieren, sei es wichtig, die verschiedenen Konzepte von Repräsentation (formal, deskriptiv, symbolisch und handlungsbezogen) analytisch zu unterscheiden. Anschließend nahm die Gruppe an einer Führung durch den Bundesrat teil. Dabei besuchten die Teilnehmer*innen neben der Wandelhalle auch den Plenarsaal und die ausgestellten Kunstwerke von Udo Lindenberg. Zudem erhielten sie einen Vortrag zur Geschichte, Arbeitsweise und Zusammensetzung des Bundesrates.

Nachdem sich die Teilnehmenden einen persönlichen Eindruck von der Atmosphäre im Bundesrat verschaffen und sich mit den Arbeits- und Funktionsweisen der Institution vertraut machen konnten, folgte eine wissenschaftliche Einordnung der Struktur und Relevanz Zweiter Kammern weltweit. Dr. Claire Bloquet, wissenschaftliche Mitarbeiterin am IParl, gab zunächst einen Überblick über die Ursprünge Zweiter Kammern, der bereits im Römischen Reich und im antiken Griechenland liegt, und referierte über Gemeinsamkeiten und Unterschiede bikameraler Parlamente im internationalen Vergleich. Darüber hinaus stellte sie das Forschungsprojekt "Second Chambers" vor, das sie gemeinsam mit Dr. Franziska Carstensen am Institut für Parlamentarismusforschung betreut. Im Rahmen des Projekts soll untersucht werden, wie Zweite Kammern Repräsentation leisten und wie diese wahrgenommen wird. Dazu werden Daten aus europäischen Ländern wie Deutschland, Frankreich, Polen und Irland erhoben.

Tag 6: Wahlkreisarbeit und Wahlrechtsreform

Der letzte Tag der Frühjahrsakademie begann bei bestem Frühlingswetter im IParl mit einem Vortrag von Daniel Hellmann zu den Themen Wahlkreiseinteilung und Wahlrechtsreform. In seinem Vortrag stellte Hellmann verschiedene Formen der Wahlkreiseinteilung, aber auch mögliche Einfluss- und Manipulationsmöglichkeiten wie Gerrymandering und Malapportionment vor. Darüber hinaus wurde die deutsche Wahlkreiseinteilung näher beleuchtet, indem zunächst ihre historische Entwicklung seit der Kaiserzeit nachgezeichnet wurde. Anschließend wurden die rechtlichen Grundlagen der Wahlkreiseinteilung erörtert, die vorsehen, dass die Wahlkreise zusammenhängende Gebiete bilden, die sowohl die Landes- als auch die Gemeindegrenzen einhalten und deren Zahl möglichst dem Bevölkerungsanteil in den einzelnen Bundesländern entsprechen soll. Außerdem wurden die Zusammensetzung und die Einflussmöglichkeiten der Wahlrechtskommission erörtert. Abschließend gab Hellmann einen Überblick über die Änderungen der kürzlich beschlossenen Wahlrechtsreform und deren Auswirkungen auf die Wahrnehmung der Bedeutung der Wahlkreise. Dabei räumte er unter anderem die Befürchtung verwaister Wahlkreise mit dem Argument aus, dass nicht nur direkt gewählte Bundestagsabgeordnete, sondern auch die über Landeslisten eingezogenen Abgeordneten die Interessen ihres Wahlkreises vertreten.

Anschließend stellte Dr. Alexander Kühne das Forschungsprojekt CITREP vor, das die Repräsentation der Bevölkerung durch Abgeordnete der nationalen Parlamente in Deutschland und Frankreich, insbesondere auf Wahlkreisebene, untersuchte. Dabei gab Kühne vor allem einen praxisorientierten Überblick über die im Forschungsprojekt angewandten Formen der Datenerhebung, die aus einer dreitägigen teilnehmenden Beobachtung von 60 Bundestagsabgeordneten und ergänzenden Leitfadeninterviews bestand. Ein besonderer Fokus lag dabei auf seinen persönlichen Erfahrungen während der teilnehmenden Beobachtung, wobei deutlich wurde, dass insbesondere bei Interviews die theoretische und praktische Umsetzung stark voneinander abweichen können. Anhand eines Beobachtungsleitfadens wurde den Teilnehmenden die Vorgehensweise bei der Datenerhebung anschaulich vermittelt, indem die eigenen Beobachtungen während des Gesprächstermins mit Hanna Steinmüller exemplarisch eingeordnet wurden.

Im Anschluss an den theoriegeprägten Vormittag, erwartete die Teilnehmenden am Nachmittag ein Besuch der parlamentshistorischen Ausstellung im Deutschen Dom, die ebenfalls die bereits erworbenen Kenntnisse aus den Vorträgen von Prof. Dr. Jörg-Detlef Kühne und Daniel Hellmann aufgriff. In einer anschaulichen Führung wurden die Anfänge und die Entwicklung der deutschen Parlamentsgeschichte von der Paulskirchenverfassung 1848 über die Kaiserzeit bis heute nachgezeichnet. Im Mittelpunkt standen dabei die Entstehung des Grundgesetzes, die Bedeutung der deutschen Nationalfarben und die Veränderungen in der Zusammensetzung der deutschen Parlamente. Zum Abschluss der Frühjahrsakademie konnten die Teilnehmenden die vergangene Woche schließlich in geselliger Runde bei einem gemeinsamen Ausklang im Restaurant und Biergarten Zollpackhof Revue passieren lassen.

Weitere Informationen zur Veranstaltung finden Sie auch hier.




Das Institut für Parlamentarismusforschung (IParl) will dazu beitragen, die demokratische Ordnung in der Gesellschaft zu verankern und fortzuentwickeln. Mit diesem Ziel widmet sich das IParl der theoretischen und empirischen Erforschung demokratischer Repräsentation und Legitimation in ihren Grundlagen wie in ihren Details. Dabei wird besonderer Wert auf den engen Bezug zur politischen Wirklichkeit gelegt.

Weitere aktuelle Termine des Instituts für Parlamentarismusforschung mit dem Schwerpunkt Parlamente und Parteien finden Sie hier.


Diese Frühjahrsakademie des Instituts für Parlamentarismusforschung (IParl) findet im Rahmen des Jubiläumszeitraums der Stiftung Wissenschaft und Demokratie statt. Die Stiftung ist seit 30 Jahren tätig und verfolgt mit ihren Einrichtungen und Förderprojekten das Ziel, insbesondere die Politikwissenschaft bei der Lösung praktischer und normativer Probleme der Demokratie zu unterstützen.               

                                                                                                                                                                                                                                                                                       


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