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Andreas Heinemann-Grüder

Der heterogene Staat. Föderalismus und regionale Vielfalt in Rußland

Berlin: Berlin Verlag Arno Spitz GmbH 2000; 449 S.; kart., 89,- DM; ISBN 3-87061-893-0
Auf Grund seiner ethnischen und regionalen Vielfalt ist der russische Staat heterogen. Bemerkenswert ist deshalb, dass es in Russland abgesehen vom tschetschenischen Unabhängigkeitsstreben keine sezessionistischen Loslösungen gibt. "Der russländische Vielvölkerstaat weist offenkundig nicht dieselbe Erosionsdynamik auf wie die Sowjetunion. Umso mehr sind die Ursachen desintegrativer Kräfte und der gleichzeitigen Kohäsion erklärungsbedürftig" (1). Heinemann-Grüder erkennt diese relative Stabilität in der Institutionalisierung von Multiethnizität, die sich in einer Föderalisierung des Landes niederschlägt. Insofern fällt sein Fazit zur russischen Staatsbildung optimistisch aus: "Die Institutionenbildung der 1990er Jahre hat das Potential sowohl nationalistischer als auch autoritärer Regression und die Arenen anarchischen Verhaltens verringert" (IX). Um die Besonderheiten des russischen Föderalismus zu analysieren, wählt Heinemann-Grüder einen bewusst multikausalen Erklärungsansatz. Geschichte, politische Kultur und Institutionen seien damit als Erklärungsvariablen für Akteursverhalten nicht grundverschieden, sondern informieren, aktivieren und beschränken die Verhaltensrepertoires. Historisch-kulturelle Handlungsmuster sind interessengeleitete Neukonstruktionen, die immer wieder neu von den Akteuren ausgehandelt werden. Drei Bestimmungsgründe für die Föderalisierung Russlands findet Heinemann-Grüder: "die Erbschaft des Ethnoföderalismus, Akteursinteressen während des Systemwechsels und föderale Institutionen" (393). Unter den Nicht-Russen hat der Ethnoföderalismus bisher keinen unbedingten Staatswillen entstehen lassen. Gerade weil großrussische Ambitionen der Zwangsassimilation nicht hegemonial wurden, konnte sich das postsowjetische Russland föderalisieren. Ohnehin ist es ein politisches Arrangement der Akteure im Moskauer Machtzentrum und in den Regionen, das, solange beide Partner Verteilungsvorteile sehen, nicht angetastet wird. Aus diesem Blickwinkel betrachtet sind es weniger die ethnischen, sondern die ökonomisch-regionalen Konfliktlinien, in denen die Brisanz der Föderalisierung Russlands liegt. Zwar festigen die Föderationsverträge von 1992 und die bilateralen Verträge von 1994 die institutionelle Basis des Föderalismus, doch die jüngste Initiative des Präsidenten Putin, die Gouverneure der Föderationssubjekte nicht mehr im Moskauer Föderationsrat zusammenkommen zu lassen, verdeutlicht, dass die russländische Föderation eine Art "Vertragsföderalismus in Aktion" (401) bleibt. Inhaltsübersicht: 1. Föderalismus und Zentrum-Regionen-Konflikte; 2. Russlands verhinderte Nationsbildung; 3. Die Erbschaft des Sowjetföderalismus; 4. Das Scheitern der Union und die Parade der Souveränitäten; 5. Russlands Verfassungsrevolution; 6. Integration durch Asymmetrie? Verfassungskonflikte und das Verfassungsgericht; 7. Assimilation oder Dissimilation? Ethno-Nationalismus und Föderalismus; 8. Zentrum-Regionen-Beziehungen und der föderale Prozeß; 9. Determinanten der Föderalisierung: Erbschaften, Akteure und Institutionen.
Wilhelm Johann Siemers (Sie)
Dipl.-Politologe, Journalist, Redakteur der Sprachlernzeitschrift vitamin de, Florenz.
Rubrizierung: 2.62 | 4.42 Empfohlene Zitierweise: Wilhelm Johann Siemers, Rezension zu: Andreas Heinemann-Grüder: Der heterogene Staat. Berlin: 2000, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/11634-der-heterogene-staat_13834, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 13834 Rezension drucken