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Eberhard Wagemann

Verdrängte Geschichte. Verteidigung und Verfassung in Europa

Mainz: v. Hase & Koehler 1999; XXV, 1.007 S.; hardc., 65,45 €; ISBN 3-7758-1376-4
Als "verdrängte Geschichte" empfindet der Autor den engen Zusammenhang zwischen Wehrverfassung, Demokratie und Freiheit der Bürgergesellschaft. Das Bewusstsein für diesen Themenkreis will Wagemann durch eine umfassende historische Untersuchung fördern, die sich von der Antike über das Mittelalter und den Absolutismus bis zu den Preußischen Reformen zieht (Band 1); beziehungsweise von der Neuordnung Europas nach den napoleonischen Kriegen bis hin zum Ersten Weltkrieg (Band 2). Die danach folgende Zeit wird gestreift und ist eigentlich immer präsent, aber detailliert untersucht wird sie nicht. Vor allem in Band 2 ist das Schwergewicht auf Deutschland gelegt, aber die französische und britische Politik wird gleichfalls intensiv behandelt. Der Autor ist bereits 1918 geboren, und der Buchrücken von Band 2 informiert über ein bewegtes Leben: "Kriegsteilnehmer des II. Weltkriegs, als Zug-, Kompanie- und Bataillonsführer in der Infanterie und Panzertruppe". Nach dem Krieg dann ein Lehramtsstudium mit Promotion, ab 1956 in der Bundeswehr: "Im Bundesverteidigungsministerium Verwendung auf dem Gebiet Innere Führung, Personal und Ausbildung und in der Truppe als Bataillons-, Brigade- und Divisions-Kommandeur. Zuletzt Kommandeur der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg." Also ein wissenschaftlich geschulter Militär, der in höchsten Funktionen als Bürger in Uniform diente. Ganz offenkundig ist das Thema der beiden Bände nicht nur ein beliebiges Forschungsgebiet, sondern zugleich Herzensangelegenheit. Wagemann versucht denn auch, die Thematik breit zu fassen. Überall bettet er die Entwicklung der Wehrverfassung in dem oben angegebenen Sinn in die allgemeine politische Geschichte und Ideengeschichte der Zeit ein, und die Zeitläufe werden daran gemessen, ob sie den Gedanken des freiheitlichen Bürgers in Uniform erkannt und gefördert oder aber verdrängt und behindert haben. Hier beginnen die Probleme der Studie. Die Subsumierung der Weltgeschichte unter der erkenntnisleitenden Fragestellung führt zu zahllosen ahistorischen Wertungen, in denen die Epochen an Maßstäben gemessen werden, die nicht die ihren sind. Dieses Problem wird auch nicht dadurch gelöst, dass im Vorwort bewusst "auf die Auseinandersetzung mit einzelnen Historikern [verzichtet]" wird; die "Absicht ist, das bisherige geschichtliche Denken verständlich zu machen" (Band 1, XIV). Wie Letzteres ohne diese Auseinandersetzung möglich sein soll, wird nicht deutlich. So quillt das Buch denn auch über mit Handbuchweisheiten, die längst nicht mehr dem Stand der Forschung entsprechen. Einzelne Autoren, die geeignet scheinen, die Ideen von Wagemann zu stützen, werden über Seiten hinweg ausführlich zitiert. Das durchsetzt sich immer stärker mit ideologischen Gedanken, je mehr sich Wagemann dem 20. Jahrhundert nähert. Es mag wissenschaftliche Freiheit sein, Nationalismus, Militarismus, Patriotismus und, unter Umständen, auch Kolonialismus für wünschenswert und positiv zu halten. Gleiches gilt für die Sonderwegsdebatte. Für Wagemann hat es nicht nur unzweifelhaft einen Sonderweg gegeben, sondern er wird eindeutig befürwortet als ein Positivum deutscher Geschichte. Aber "Preußens Militär als Friedensmacht" (Band 2, 89) ist eine gewagte Einschätzung. England verstand unter Militarismus angeblich "alles, was von der eigenen liberalen Verfassung abwich" (Band 2, 397). Das einzige Problem der politisch nicht verantwortlichen Kommandogewalt des Kaisers lag darin, dass sie "nicht geeignet [war], das Verantwortungsbewusstsein des Parlaments für die Verteidigung zu fördern" (Band 2, 399). Den Ersten Weltkrieg haben die "Einschließungsmächte" (Band 2, 528) verursacht. Dem steht im August 1914 "die Beweglichkeit und Friedensliebe der deutschen politischen und militärischen Führung" (Band 2, 403) gegenüber, und so kommt der Begriff "Kriegsschuldlüge" bei vielen Gelegenheiten ganz flüssig und ohne weitere Beweise aus der Feder. Und später? "Die Frage der Schuld am II. Weltkrieg wird zur Zeit noch im Sinne der Siegermächte und ihrer politischen Erziehung beantwortet. Erst, wenn der Besiegte sich mit Recht für besiegt hält, da er moralisch unverantwortlich oder sogar verbrecherisch gehandelt hat, ist der Sieg im Sinn des angelsächsischen Sozialdarwinismus vollendet. [...] Wenn die Schuld auch der 'großen Drei' am II. Weltkrieg gegen Deutschland bekannt wird, zeichnet sich der Zusammenbruch des Sozialdarwinismus als Ersatzreligion des Zeitalters der Naturwissenschaften ab." (Band 2, 541) Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Der Buchrücken von Band 1 behauptet, hier "liegt ein wichtiges Grundlagenwerk der politischen Bildung vor". Bei dem Gedanken, dass diese beiden Bände in der politischen Bildung oder gar in der Bundeswehr Verwendung finden könnten, wird nicht jedem Leser wohl sein.
Michael Dreyer (MD)
Prof. Dr., Institut für Politikwissenschaft, Universität Jena.
Rubrizierung: 2.21 | 2.31 | 2.61 | 4.2 Empfohlene Zitierweise: Michael Dreyer, Rezension zu: Eberhard Wagemann: Verdrängte Geschichte. Mainz: 1999, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/11733-verdraengte-geschichte_13976, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 13976 Rezension drucken