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Jeffrey Verhey

Der "Geist von 1914" und die Erfindung der Volksgemeinschaft. Aus dem Englischen von Jürgen Bauer und Edith Nerke

Hamburg: Hamburger Edition 2000; 416 S.; geb., 58,- DM; ISBN 3-930908-58-1
Im August 1914 war das deutsche Volk von der Vorstellung des kommenden Krieges begeistert. Mit patriotischem Jubel wurden fröhlich winkende Soldaten verabschiedet und mit Blumen und Schokolade überhäuft. - Dieses Bild des "Augusterlebnisses" ist nicht nur auf vielen historischen Postkarten abgelichtet, es hat sich in der Rezeption der Zeitgenossen genauso wie in der historiographischen Erinnerung hartnäckig gehalten. Die jüngere historische Forschung hat berechtigte Zweifel an dem Ausmaß einer solchen Kriegsbegeisterung der Deutschen geübt. Der amerikanische Historiker Verhey, zurzeit Mitarbeiter bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn, widerlegt den sogenannten "Geist von 1914" als politischen Mythos. Anhand einer umfassenden Auswertung von deutschen Zeitungen jeder politischen Couleur der Sommermonate von 1914 zeichnet Verhey ein minuziöses Stimmungsbild der deutschen Bevölkerung. Dieses war keineswegs so einheitlich, wie es im nachhinein oft beschworen wurde. Zwar gab es im Juli und Anfang August patriotische Umzüge in fast allen größeren Städten Deutschlands. Doch beteiligten sich längst nicht alle Bevölkerungsschichten an ihnen. Die Demonstrationen "deutscher Gesinnung" wurden überwiegend von Jugendlichen sowie Männern und Frauen des Bürgertums getragen, Arbeiter fehlten zumeist völlig. In ländlichen Gebieten und den Grenzregionen überwog die Angst vor dem Krieg. Doch auch in den Städten war nicht jede Menschenmenge, die durch die Strassen zog und vaterländische Lieder sang, allein durch Kriegsbegeisterung motiviert. Vielfach fungierten die Umzüge auch als Ventil einer steigenden Erregung und Angst vor dem drohenden Krieg. Die Stimmung der Demonstranten konnte durchaus begeisterte, karnevaleske und panische Züge zugleich aufweisen, wie Verhey detailliert belegt. Dennoch wurde das "Augusterlebnis" nachträglich für die Zeitgenossen zu einem kollektiven Narrativ der Einheit aller Deutschen - so Verhey im zweiten Teil der Arbeit, die sich mit dem Prozess der Mythenbildung des "Geistes von 1914" befasst. Der Bezug auf die angeblich so einmütige Begeisterung für den Krieg diente dazu, den Kriegseintritt zu legitimieren und die Durchhaltebereitschaft der Bevölkerung zu stärken. Auch der sogenannte "Burgfrieden" im Innern des Reiches wurde mit dem Rekurs auf den einheitsstiftenden "Geist von 1914" begründet. Die Auseinandersetzungen zwischen Nationalisten und Monarchisten auf der einen und sozialdemokratischen, katholischen sowie jüdischen "Reichsfeinden" auf der anderen Seite, sollten für die Zeit des Krieges unterbleiben. Die Zensurbestimmungen unterdrückten die Austragung parteipolitischer Konflikte, sodass das deutsche Volk zu einer "Einheit" im Sinne des "Geistes von 1914" geworden zu sein schien. Tatsächlich wurde jedoch hinter dieser Fassade der Geschlossenheit wenig an den vorhandenen Klassengegensätzen geändert. Rechte wie linke Gruppierungen begründeten ihre divergierenden politischen Vorstellungen mit dem Rekurs auf das "Augusterlebnis". Die Linke forderte aufgrund der "Volkserhebung" von 1914 demokratische Reformen und sozialen Ausgleich, die Rechte begründete mit dem nationalen "Geist von 1914" die Erhaltung der monarchischen Ordnung. Nach Verdun und dem entbehrungsreichen Winter von 1916/17 wurde aus der Beschwörung deutscher Einheit und Geschlossenheit die Erinnerung an eine "feste Entschlossenheit zum Sieg", die das deutsche Volk angeblich schon 1914 gezeigt hätte. In diesem Sinn lieferte der "Geist von 1914" auch nach dem verlorenen Krieg die tröstende Illusion, dass jedes Problem allein durch die reine "Willenskraft" und "Geschlossenheit" des Volkes zu lösen sei, jetzt allerdings unter dem verheißungsvollen Etikett der "Volksgemeinschaft". Aus nationalen, chaotischen Begeisterungsgefühlen wurde so, laut Verhey, zuerst eine Legitimation für den Krieg, dann die Parole zum Durchhalten und schließlich die Vision einer nationalen (Ehren-)Rettung durch totale Geschlossenheit und fanatische Willenskraft, die sich die Nationalsozialisten zu Eigen zu machen wussten. Mit der Realität der Juli- und Augusttage von 1914 hatte dieser Mythos kaum noch etwas zu tun.
Claudia Bruns (CB)
Dr., Historikerin.
Rubrizierung: 2.311 | 2.312 Empfohlene Zitierweise: Claudia Bruns, Rezension zu: Jeffrey Verhey: Der "Geist von 1914" und die Erfindung der Volksgemeinschaft. Hamburg: 2000, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/11844-der-geist-von-1914-und-die-erfindung-der-volksgemeinschaft_14129, veröffentlicht am 25.06.2007. Buch-Nr.: 14129 Rezension drucken