Skip to main content
René Rémond

Religion und Gesellschaft in Europa. Von 1789 bis zur Gegenwart. Aus dem Französischen von Jochen Grube

München: C. H. Beck 2000 (Europa bauen); 304 S.; Ln., 58,- DM; ISBN 3-406-45309-0
Europa bauen - das ist ohne eine intensive Auseinandersetzung mit dem religiösen Erbe unseres Kontinents nicht denkbar. Religion und Kirchen sind und waren als gesellschaftliche Gruppen ein sozialer Tatbestand, den heute jeder europäische Staat im Sinne eines neutralen, aber kooperativen Verhältnisses zu allen Religionsgemeinschaften anerkennen sollte. Dies ist die Grundlinie, die der in Paris lehrende Historiker und Präsident der Fondation nationale des sciences politiques Rémond hier in der von Jacques Le Goff herausgegebenen Reihe vertritt. Dass solch eine friedliche Kooperation heute möglich ist, verdankt sich nach Rémond der "Säkularisation", wobei er unter dem umstrittenen Begriff vor allem die Geschichte der Konflikte zwischen Staat und Kirche versteht (11-28). Knapp und umsichtig wird für alle europäischen Länder zunächst die Rolle der Konfessionen vor 1789 beschrieben (31-56). Zum eigentlichen Ausgangspunkt der Argumentation wird aber die französische Revolution (57-73). Ihre religionspolitischen Entscheidungen geben dem 19. Jahrhundert das Thema Säkularisation vor. Im Rückblick zeigt sich, dass sich in allen Staaten Europas seit 1789 das Staat-Kirche-Verhältnis und die Rolle der Kirchen im öffentlichen Leben in sehr ähnlicher Art und Weise geändert haben. Rémond benennt verschiedene Phasen der Säkularisation: Zunächst wurde um die öffentliche Anerkennung anderer Konfessionen neben der "Staatskirche" und freie Religionsausübung gerungen, dann um die Neutralität des Staates gegenüber den verschiedenen Religionsgemeinschaften und schließlich um eine kämpferische Trennung oder friedliche Entflechtung von Staat und Kirche (171-205). Diese Geschichte verlief in jedem Staat anders, insbesondere in der Zeit der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts (209-248). Aber wesentliche Konfliktpunkte wie Eherecht oder Schulfrage ähnelten sich stets (77-108). Obschon aus dem öffentlichen Leben also zunehmend verdrängt, gewannen die Kirchen durch die Säkularisation wesentliche neue Freiheiten, insbesondere die ihrer inneren Selbstbestimmung (239-248). Modellhaft werden vor allem der Laizismus in Frankreich und die politische Rolle des Papsttums vorgestellt. Über andere Staaten und christliche Bekenntnisse erfährt man viele historische Details; ein ausgewogenes, zusammenhängendes Bild entsteht hier nicht. Wünschenswert wäre zudem ein kontrastierender Blick auf das zweite historische Vorbild, die USA, gewesen. Und schließlich verstellt der auf die politisch-rechtlichen Konflikte gerichtete Fokus den Blick auf die übrigen Facetten des Themas "Religion und Gesellschaft in Europa". Auch wenn das Buch so vor allem einem französischen Publikum entgegenkommt (288), ist es faszinierend und lehrreich zu sehen, dass - trotz bleibender Fragen (274-286) - im europäischen Kulturraum heute die "Unterschiede zwischen den Ländern weniger deutlich sind als man denkt" (289 ff.). Religionsfreiheit und ein kooperativ verstandener "Laizismus [zählen] zu den verbindenden Elementen zwischen den Partnern der Europäischen Union" (289, siehe 249-254).
Antonius Liedhegener (Li)
Dr., wiss. Ass., Institut für Politikwissenschaft, Universität Jena (www.uni-jena.de/svw/powi/sys/liedhege.html).
Rubrizierung: 2.23 Empfohlene Zitierweise: Antonius Liedhegener, Rezension zu: René Rémond: Religion und Gesellschaft in Europa. München: 2000, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/11861-religion-und-gesellschaft-in-europa_14147, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 14147 Rezension drucken