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Walter Krämer

Armut in der Bundesrepublik. Zur Theorie und Praxis eines überforderten Begriffs

Frankfurt a. M./New York: Campus Verlag 2000; 135 S.; kart., 39,80 DM; ISBN 3-593-36490-5
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Armut sieht sich grundsätzlich mit zwei Problemen konfrontiert. Einerseits ist Armut ein Relationsbegriff, der sich auf sehr unterschiedliche Dimensionen beziehen kann (etwa Einkommen, Lebenslagen, soziale Kompetenzen). Andererseits stellt Armut in einer modernen Gesellschaft mit (wenigstens normativ) institutionalisierter Chancengleichheit immer auch ein politisches Problem dar. Aufgrund dieser begrenzten Objektivierbarkeit des Phänomens sind sozialwissenschaftliche Untersuchungen über Umfang und Betroffenheit von Armut stets hinsichtlich der jeweils zugrundegelegten begrifflichen Konventionen kritisierbar. Der Autor, Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik in Dortmund, setzt sich mit methodischen Schwächen - sowohl unter begrifflichen Aspekten (22 ff., 39 ff., 65 ff.) als auch in erhebungstechnischer Hinsicht (106 ff.) - gängiger Armutskonzepte auseinander. Zumal der heute vielfach verwendete relative Armutsbegriff (der 50 % des gewichteten Durchschnittseinkommens als Armutsgrenze ansieht) vom Autor als willkürlich und formal verworfen wird (26 ff.). Zwar ist das Buch unter methodischen Gesichtspunkten - also mit Blick auf die "Praxis eines überforderten Begriffs" - vielfach anregend, doch der Titel könnte falsche Erwartungen wecken: es liefert keinen materialen Beitrag zur Armutsforschung. In dieser Hinsicht hält der Autor als "wichtigstes Fazit der [...] Untersuchung" fest: "so etwas wie die Armut gibt es nicht" (115). Inhalt: 1. Chronik der deutschen Armut ab 1945: 1.1 Armut in den ersten Nachkriegsjahren; 1.2 Armut in der Zeit des Wirtschaftswunders; 1.3 Die "Neue Soziale Frage"; 1.4 Armut in der DDR; 1.5 Suppe genug, aber Seele kaputt - das Gesicht der Armut heutzutage. 2. Wer ist arm? Die Festlegung der Armutsgrenze: 2.1 Armut als mehrdimensionaler Begriff; 2.2 Relative versus absolute Armut; 2.3 Statistisch-ökonometrische Bestimmungen der Armutsgrenze. 3. Wie groß ist die Armut? Die Aggregation von individueller Armut zu einem globalen Armutsindikator: 3.1 Armutsmaße und Armutsordnungen; 3.2 Die Unzulänglichkeit der Armutsquote und die Maße von Watts und Sen; 3.3 Der axiomatische Ansatz der Armutsmessung; 3.4 Armutsordnungen. 4. Armut als soziale Behinderung: 4.1 Ein Kompromissvorschlag von Sen; 4.2 Die deutsche Sozialhilfe im Licht der Sen' schen Theorie. 5. Die Problematik des Einkommens als Basisgröße: 5.1 Einkommen versus Vermögen als Indikator für die Armut; 5.2 Probleme der Definition und statistischen Erfassung von Individual- und Volkseinkommen; 5.3 Verdeckte Einkommen aus Schattenwirtschaft; 5.4 Verdeckte Einkommen aus Staatstransfers. 6. Armut: Chronisch oder transitorisch: 6.1 Die Bedeutung der Referenzperiode; 6.2 Statische versus dynamische Armutsmessung; 6.3 Dynamik versus Risiko. 7. Die Problematik der Bedarfsgemeinschaft: 7.1 Familien-, Haushalts- oder Individualeinkommen; 7.2 Die Problematik von Äquivalenzskalen; 7.3 Ungleichheit innerhalb von Haushalten. 8. Ausgaben statt Einnahmen als Armutsindikator: 8.1 Direkte versus indirekte Armutsmessung; 8.2 Der Konsum als Indikator für die Armut; 8.3 Der Lebenslagenansatz. 9. Probleme der Datenerhebung: 9.1 Stichproben versus Totalerhebungen; 9.2 Falschangaben der Befragten; 9.3 Ausgewählte deutsche Armutsstudien im Licht der Wissenschaft. 10. Ausblick und Fazit. Exkurs: Armut als politischer Kampfbegriff.
Thomas Mirbach (Mir)
Dr., wiss. Mitarbeiter, Lawaetz-Stiftung Hamburg, Lehrbeauftragter, Institut für Politische Wissenschaft, Universität Hamburg.
Rubrizierung: 2.342 | 2.37 | 1.2 Empfohlene Zitierweise: Thomas Mirbach, Rezension zu: Walter Krämer: Armut in der Bundesrepublik. Frankfurt a. M./New York: 2000, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/11913-armut-in-der-bundesrepublik_14215, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 14215 Rezension drucken