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Richard Herzinger

Republik ohne Mitte. Ein politischer Essay

Berlin: Siedler Verlag 2001; 191 S.; Ln., 18,- €; ISBN 3-88680-734-7
"Republik ohne Mitte" - das ist kein Kassandraruf, sondern ein vehementes (und sehr anregend zu lesendes) Plädoyer für einen konsequenten Pluralismus. Herzinger, der als Publizist und Autor der "Zeit" in Berlin lebt, wendet sich gegen die Idee einer Leitkultur, die die politisch-moralische Einheit der Gesellschaft bildet: "Das Unbehagen an einer Gesellschaft ohne ideelles und moralisches Sinnzentrum ist groß. Doch darin besteht gerade die zivilisierende Kraft einer freiheitlichen, pluralistischen Gesellschaft: In der Fähigkeit zu lernen, mit der fehlenden Mitte auszukommen." (83) An vielen Beispielen diagnostiziert der Autor, dass der Verlust ideologischer Gewissheiten und verbindlicher moralischer Instanzen zu einer allgemeinen Verunsicherung führt. Diese Verunsicherung äußert sich in den verschiedenen (in dem Essay analysierten) Debatten zur Sterbehilfe, Gentechnik oder Bildung darin, dass ihr Ziel nicht eine "moralische Übereinkunft [ist], die die Gesellschaft aushandelt", sondern dass "Sittenregulatoren in Parteien, Kirchen, Verbänden und Redaktionsstuben" versuchen, "die Fassade eines imaginären, intakten Wertegebäudes" (159) zu bewahren. Dahinter steht die "Unfähigkeit, ein transzendenzloses Leben im Konflikt, ohne Aussicht auf letzte Antworten auf immer mehr offene Fragen auszuhalten" (178) und alle ethischen Maßstäbe als verhandelbar anzusehen (8). Der Verzicht auf die Mitte der Republik setzt also den Verzicht auf eine Mitte im eigenen Leben voraus: Auch das "autosuggestiv erzeugte[...] Ich" (185) der modernen Selbstverwirklichungskultur darf nicht als Ersatz für tradierte Werte die Mitte ausfüllen wollen. Wie dieser Pluralismus ohne Mitte (und folglich ohne Sinn) gelebt werden und ob ein Amor fati die Kraft zum Aushalten der Leere geben soll, bleibt offen - ebenso wie die Frage, auf welche Weise die Werte Freiheit und Gleichheit, auf denen der Pluralismus beruht, begründet werden können, wenn alle Werte (also auch diese!) als verhandelbar angesehen werden. Der Kern des eloquenten Plädoyers ist ein großes Rätsel, Herzingers Essay ein Buch ohne Mitte.
Hendrik Hansen (HH)
Dr., Lehrbeauftragter, Politische Theorie und Ideengeschichte, Universität Passau.
Rubrizierung: 2.3 | 2.23 | 5.42 Empfohlene Zitierweise: Hendrik Hansen, Rezension zu: Richard Herzinger: Republik ohne Mitte. Berlin: 2001, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/15734-republik-ohne-mitte_17948, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 17948 Rezension drucken