Skip to main content
Volker Hentschel

Ludwig Erhard. Ein Politikerleben

München/Landsberg am Lech: Olzog 1996; 712 S.; geb., 78,- DM; ISBN 3-7892-9337-7
Die zum 100. Geburtstag des früheren Wirtschaftsministers und Bundeskanzlers rechtzeitig erschienene Biographie - die erste mit umfassendem wissenschaftlichen Anspruch - zeichnet ein wenig vorteilhaftes Bild des Politikers Ludwig Erhard. Daß Erhard als Regierungschef kaum geeignet war, darüber besteht heute weitgehend Einvernehmen. Anders als seinem übermächtigen Vorbild Adenauer mangelte es ihm an der dazu erforderlichen taktischen Kaltschnäuzigkeit ebenso wie an administrativen Führungsqualitäten und der Fähigkeit, fremde Interessen zu respektieren und für die eigene Politik in Rechnung zu stellen - Eigenschaften, die einen erfolgreichen Politiker ausmachen. Letzteres wurde insbesondere im Bereich der Europa- und Frankreichpolitik offenbar, wo Erhard seit 1963 - aus mangelnder Wirklichkeitswahrnehmung, wie der Autor betont - das von Adenauer aufgebaute Vertrauensverhältnis zu de Gaulle leichtfertig aufs Spiel setzte. Während das Scheitern Erhards als Bundeskanzler insoweit vorgezeichnet war, ist sein Mythos als "Vater des Wirtschaftswunders" nach wie vor ungebrochen. In dessen nachhaltiger Zerstörung liegt denn auch das eigentliche Ziel der Biographie. Angefangen von der fehlenden Eignung zum Wissenschaftler bis hin zu seinen ordnungspolitischen Leistungen wird Erhard als ein Mann von notorischer Selbstüberschätzung und -gerechtigkeit geschildert, der immer nur "dann gut war, wenn er nichts tat." Der Autor bestreitet Erhard nicht das Verdienst, mit der Aufhebung der Preisbindung 1948 die Wende von der Plan- zur Marktwirtschaft eingeleitet zu haben, betont aber, daß das nachfolgende "Wirtschaftswunder" in erster Linie auf Gratiseffekte wie den Korea-Boom zurückging, d. h. mit der Erhardschen Wirtschaftspolitik kaum etwas zu tun hatte. Darüber hinaus legt Hentschel überzeugend dar, wie wenig Erhard in seinem ureigenen Feld der Ordnungspolitik reüssieren konnte. Der Ausbau des Sozialstaates in der Bundesrepublik, beginnend mit der Einführung der dynamischen Rente 1957, wurde ebenso gegen seinen Willen betrieben wie die wirtschaftliche Integration der europäischen Sechsergemeinschaft, die Adenauer aus politischen Gründen forciert hatte. Auch das "Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen", das Erhard als eigentliches Herzstück einer "Sozialen" Marktwirtschaft betrachtete, blieb aufgrund zahlreicher Ausnahmebestimmungen ein für ihn unbefriedigender Kompromiß. Etwas störend wirkt - bei allem berechtigten Zweifel am Politiker Erhard - der durchweg sarkastische Tenor des Buches, der die Lesbarkeit fördert, der Objektivität der Darstellung aber bisweilen einen schlechten Dienst erweist. Der Mythos des "Wirtschaftswundermannes" bleibt letztlich unerklärt, weil die Hauptstärke Erhards - die vertrauenerweckende Darstellung und Selbstdarstellung seiner Politik - nicht genügend gewürdigt wird. Darüber hinaus beweist die heutige Auseinandersetzung um den Sozialstaat, daß Erhard in seinen Ahnungen und Mahnungen vielfach Recht behalten hat. Ob das liberale Credo Erhards eine geeignete Grundlage bietet, die im Zeichen der Globalisierung anstehenden Probleme zu bewältigen, ist eine andere Frage. Insoweit setzt die Arbeit gegen die zumeist unkritische Beschwörung des Erhardschen Mythos und dessen Vereinnahmung durch den liberalen Zeitgeist einen wohltuenden Kontrapunkt.
Frank Decker (FD)
Prof. Dr., Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie, Universität Bonn.
Rubrizierung: 2.3 | 2.313 | 2.331 Empfohlene Zitierweise: Frank Decker, Rezension zu: Volker Hentschel: Ludwig Erhard. München/Landsberg am Lech: 1996, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/1594-ludwig-erhard_1813, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 1813 Rezension drucken