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Kai Schlüter

Günter Grass im Visier. Die Stasi-Akte. Eine Dokumentation mit Kommentaren von Günter Grass und Zeitzeugen

Berlin: Ch. Links Verlag 2010; 379 S.; 2., durchges. Aufl.; geb., 24,90 €; ISBN 978-3-86153-567-6
Auf mindestens 2.200 Seiten der MfS-Akten komme der Name Grass, seine Fahndungsnummer oder sein Deckname vor, schreibt Schlüter einleitend zu diesem „Lesebuch“ (14), das ausdrücklich keine wissenschaftliche Edition ist. Grass selbst habe dem „scheinbar dokumentarischen Charakter“ (10) der Akten misstraut und sich lange geweigert, sie zur Kenntnis zu nehmen. Schlüter kann nun aber doch die Spitzel-Berichte der IMs und Einschätzungen des MfS über Grass’ Aufenthalte in der DDR publizieren, lässt sie aber nicht für sich sprechen – aus gutem Grund, wie sich bei der Lektüre zeigt. Er hat Grass selbst und andere Zeitzeugen um Stellungnahmen gebeten bzw. zitiert aus anderweitig erschienenen Erinnerungen. Und so ist ein spannendes Buch entstanden, in dem die Diskrepanz zwischen der Paranoia der Staatssicherheit und den Versuchen von Schriftstellern aus Ost und West, möglichst normal über ihre Arbeit zu reden, geradezu plastisch deutlich wird. Grass hatte diese Treffen initiiert, weil er Deutschland zwar als politisch geteilt, aber weiter durch die gemeinsame Sprache verbunden sah. Von der Stasi war er allerdings „als antisozialistischer Reaktionär eingestuft“ (21) worden, nachdem er 1961 von der SED die Freiheit des Wortes gefordert und den Mauerbau kritisiert hatte. Da Grass sich für die SPD engagierte, traute man sich lange nicht, den aus Sicht der Stasi beunruhigenden Schriftsteller-Treffen in Ost-Berlin ein Ende zu setzen und ihm die Einreise zu verwehren. Stattdessen reisten – im Anschluss an die Ausbürgerung Biermanns – schließlich viele Schriftsteller aus. Auffällig an den Akten sind der oft abfällige Ton und die abwertenden Beurteilungen über Grass, wobei sich die an den Gesprächsrunden Beteiligten ganz anders erinnern. Aber am Wahrheitsgehalt der Akten ist nicht nur wegen der Böswilligkeit der Stasi zu zweifeln, es wurde auch – wenn es opportun erschien – beschönigt. So wird im November 1980 nebulös von gegen die DDR gerichteten Verhaltensweisen geschrieben. Lutz Rathenow erinnert sich genauer, Grass hatte gefragt: „Wie könnt ihr polnische Verhältnisse in der DDR erreichen, und wie können wir euch dabei unterstützen?“ (177)
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 2.3 | 2.314 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Kai Schlüter: Günter Grass im Visier. Berlin: 2010, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/32492-guenter-grass-im-visier_38774, veröffentlicht am 08.07.2010. Buch-Nr.: 38774 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken