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Irina Scherbakowa

Zerrissene Erinnerung. Der Umgang mit Stalinismus und Zweitem Weltkrieg im heutigen Russland

Göttingen: Wallstein Verlag 2010 (Vorträge und Kolloquien 7); 152 S.; brosch., 15,- €; ISBN 978-3-8353-0601-1
Das Schlüsselereignis des 20. Jahrhunderts im historischen Gedächtnis der Russen sei der Große Vaterländische Krieg, schreibt die russische Historikerin Irina Scherbakowa. Sie zeigt in ihrem Essay, dass der Sieg im Zweiten Weltkrieg bis heute in der offiziellen Geschichtspolitik die Erinnerung an die Zeit des Stalinismus überformt: Stalin ließ den Krieg glorifizieren. Alles, was dem Bild des Siegers widersprach, wurde verleugnet. Auch nach Stalins Tod 1953 griffen die sowjetischen Machthaber auf diesen Mythos zurück. Nur in der Zeit der Perestroika wurde offen über die Verbrechen Stalins gesprochen. Heute würden die stalinistischen Verbrechen wieder unter den Teppich gekehrt, so die Autorin: Die Bereitschaft der russischen Gesellschaft, die Wahrheit über ihre Geschichte zu erfahren und vor allem auch zu akzeptieren sei Ende der 80er-Jahre zwar ziemlich groß gewesen, seit Mitte der Neunziger sei sie jedoch nicht nur der Gleichgültigkeit, sondern dem Unwillen gewichen, „in der Vergangenheit ‚zu graben‘“. Dabei zeige sich eine Kluft zwischen historischer Forschung und öffentlicher Meinung. Längst gebe es jenseits der staatlichen Geschichtspolitik viele zivilgesellschaftliche Akteure, die konkret an die stalinistischen Verbrechen erinnerten. „Nach unserer heutigen Erfahrung wirkt die Aufklärungsarbeit nur dann, wenn sie konkret wird: wenn es um Gedenktafeln geht oder wenn eine ganze kleine Stadt sich daran beteiligt, irgendein Schicksal oder einige Schicksale von Landsleuten zu erforschen“ (138), schreibt Scherbakowa. Diesen Weg der konkreten Geschichtsaufarbeitung ging die Autorin selbst. Sie entdeckte Ende der 70er-Jahre die Methode der Oral History für sich und zeichnete Interviews mit Opfern des Stalinismus auf. Bei der Menschenrechtsorganisation „Memorial“ in Moskau initiierte sie 1999 den großen Schülerwettbewerb zur russischen Geschichte. Schüler sollten sich mit der sowjetischen Geschichte auseinandersetzen. Das Ergebnis war verblüffend: Mehr als 30.000 Arbeiten wurden in den letzten Jahren eingereicht. Es zeigt, dass viele junge Russen mehr über ihre Geschichte im 20. Jahrhundert wissen wollen und der Geschichtspolitik der russischen Regierung wenig Glauben schenken.
Wilhelm Johann Siemers (SIE)
Dipl.-Politologe, Journalist, Redakteur der Sprachlernzeitschrift vitamin de, Florenz.
Rubrizierung: 2.622.23 Empfohlene Zitierweise: Wilhelm Johann Siemers, Rezension zu: Irina Scherbakowa: Zerrissene Erinnerung. Göttingen: 2010, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/32506-zerrissene-erinnerung_38794, veröffentlicht am 08.12.2010. Buch-Nr.: 38794 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken