Das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Domestizierung einer Illusion
Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist seit der Entstehung moderner Nationalstaaten und deren Krise im 20. Jahrhundert einer der umkämpftesten völkerrechtlichen Begriffe. Seine systematische Aufarbeitung lässt wohl auch deshalb bis heute auf sich warten, weil bisweilen konträre politische Konzepte mit diesem ambivalenten Begriff verbunden werden. Mit der seiner Arbeit scheint der Züricher Historiker Fisch den hohen normativen Rang, der dem Begriff anhaftet, infrage zu stellen. Das Buch ist zweigeteilt: Zunächst entwirft Fisch eine Theorie des Selbstbestimmungsrechtes der Völker, um in einem zweiten Schritt anhand ausgewählter Beispiele der letzten 250 Jahre seine Position zu belegen. Im theoretischen Kapitel definiert er das Selbstbestimmungsrecht philosophisch-formal als herrschaftsfreie Äußerung des Volkswillens und ergänzt, dass weder der Volksbegriff exakt bestimmt werden könne noch die empirische Entsprechung eines solch apriorischen Begriffs gewährleistet sei. Dies zeigt auch der praktische Teil: Historisch gesehen war das Selbstbestimmungsrecht stets das Recht der Stärkeren. Dieser Widerspruch zwischen normativer Überhöhung des Selbstbestimmungsrechts und faktischer Infragestellung stellt den roten Faden des Buches dar und lässt den Leser eine Zurückweisung der Idee im Namen eines realistischen Politikverständnis erwarten. Doch den – zweifellos radikalen – Schluss, den Begriff als bloße Illusion abzulehnen, wie es der Titel nahelegt, oder ihn zumindest zu historisieren, zieht der Autor nicht, denn dass der Begriff politisch benutzt wird, reicht dem Historiker Fisch aus, um an ihm festzuhalten. Vor allem erkennt er aber in dem normativen Anspruch des Selbstbestimmungsrechts der Völker das Versprechen, das Recht des Schwächeren auf Autonomie zu verwirklichen, was letztlich – bei aller Domestizierung – die Persistenz dieser Idee begründet. Ob man diesen letztlich optimistischen Befund teilt, sei dahingestellt; jedoch sollte erwähnt werden, dass das Buch von der Fixierung auf den Prozess der Entkolonisierung lebt, während die kaum thematisierten postkolonialen Konflikte, die Bürgerkriege auf dem Balkan und die Auseinandersetzungen im Nahen Osten wohl ein nüchternes Bild zur Folge gehabt hätten.