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Manfred Grieger / Christian Jansen / Irmtrud Wojak (Hrsg.)

Interessen, Strukturen und Entscheidungsprozesse! Für eine politische Kontextualisierung des Nationalsozialismus

Essen: Klartext 2010; 202 S.; brosch., 19,95 €; ISBN 978-3-8375-0403-3
„Die anscheinend das ganze NS-System erklärende öffentliche Auseinandersetzung um die NSDAP- oder SS-Mitgliedschaft der bundesdeutschen Vorzeigeintellektuellen Walter Jens und Günter Grass trug fast schon neurotische Züge“ (9), kritisiert Manfred Grieger in der Einleitung zu diesem Band, der anlässlich des 80. Geburtstages von Hans Mommsen erscheint. Überhaupt habe in Publizistik und Geschichtswissenschaft der kritische Empirismus, dem auch Mommsen verpflichtet sei, an Gewicht verloren, so Grieger weiter. An die Stelle einer gewissenhaften Strukturanalyse sei eine Skandalisierung – siehe Jens und Grass – getreten. Mit diesem Band aber werde auf die Repolitisierung der NS-Forschung gezielt und zwar in dem Sinne, die Akteure wieder gesellschaftlich zu kontextualisieren. Deshalb verzichten die Autoren „auf eine unmittelbare moralische Bewertung [...] und bemühen sich stattdessen um eine möglichst präzise Analyse der gesellschaftlichen Strukturen und Konfliktfelder“ (10). Zuerst aber knüpft im ersten Beitrag Christian Jansen an Griegers Kritik an und lässt in einem Essay drei Jahrzehnte Geschichtsschreibung über den Nationalsozialismus Revue passieren – ausgehend von dem Eindruck, dass die Reflexionen der großen Fragen in den vergangenen Jahren hinter bereits erreichte Erkenntnisse zurückgefallen seien. Zudem stellt er interessanterweise fest, dass sich wesentliche Gegensätze in der neueren NS-Forschung aus einem Bedeutungswandel zentraler Begriffe wie Staat und Moderne ergeben. War mit der Moderne lange ein progressives Denken gemeint und wurde der Staat an den liberalen Normen des westlichen Rechtsstaats gemessen, so werden heute das Paradigma der Ambivalenz der Moderne und ein Staatsbegriff verwendet, der failed states kenne. Jansen schreibt zwar, diese Perspektiven könnten auch als Weiterentwicklung gesehen werden. Seine plakative Ermahnung, der bisherige Forschungsstand sei aber erst einmal gründlich zu rezipieren, verkürzt allerdings die Schlüsse, die aus der an sich aufschlussreichen Beobachtung über Moderne und Staat gezogen werden könnten. Jürgen Matthäus würdigt dann Mommsens Ansatz der Holocaust-Interpretation, mit dem sich problematischen analytischen Verengungen vorbeugen lassen. Weitere Beiträge sind einzelnen Themen gewidmet, so der Wannsee-Konferenz, der Transformation der NSDAP nach 1933 oder dem Selbstverständnis der Beamten in der Reichsfinanzverwaltung. Insgesamt wird ein Band vorlegt, der zur kritischen Reflexion über die immer noch aktuelle NS-Forschung einlädt.
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 2.35 | 2.312 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Manfred Grieger / Christian Jansen / Irmtrud Wojak (Hrsg.): Interessen, Strukturen und Entscheidungsprozesse! Essen: 2010, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/33590-interessen-strukturen-und-entscheidungsprozesse_40209, veröffentlicht am 30.06.2011. Buch-Nr.: 40209 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken