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Álvaro García Linera

Vom Rand ins Zentrum. Die Neugestaltung von Staat und Gesellschaft in Bolivien. Aus dem Spanischen von Barbara Gelautz und Brigitte Schatzl

Zürich: Rotpunktverlag 2012; 301 S.; brosch., 28,- €; ISBN 978-3-85869-445-4
Die Rezeption politischer Theoretiker aus Lateinamerika führt in den deutschsprachigen Sozialwissenschaften ein Nischendasein, was mit der mangelnden Übersetzung lateinamerikanischer Autoren zusammenhängen mag. Umso erfreulicher ist die Initiative von Stephan Rist von der Universität Bern, eine Textsammlung des führenden politischen Intellektuellen Boliviens aus den vergangenen zehn Jahren ins Deutsche zu übertragen. García Linera bildet als Vizepräsident Boliviens seit 2005 ein ungewöhnliches Regierungsgespann mit dem ehemaligen Kokabauern Evo Morales. Während Morales aufgrund seiner Nähe zum Volk und seiner indigenen Herkunft breite Popularität genießt, agiert García Linera eher als politischer Stratege im Hintergrund. Im Exil studierte er die marxistischen Schriften, die er sich zur Analyse der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse aneignete. Das Faszinierende an seinem Denken ist jedoch nicht seine ungewöhnliche Marx-Exegese, sondern sein Weiterdenken westlicher Konzepte. Dazu gehören u. a. Theorien der Multitude (Hardt/Negri) und der politischen Hegemonie (Gramsci), der Konstruktion von Staatlichkeit (Bourdieu) oder zum Verständnis von Inter- und Multikulturalismus (Kymlicka). García Linera beschäftigt sich zudem mit dem Zusammentreffen revolutionärer Strömungen marxistischer und indianistischer Prägung im bolivianischen Kontext. Im Gegensatz zum orthodoxen Marxismus der Gewerkschaften betont er die indigen-gemeinschaftliche Tradition als Kern der bäuerlichen Bewegungen, die die Eroberung des Staates durch die „Bewegung zum Sozialismus“ möglich machten. García Linera gilt als einer der wesentlichen Konstrukteure des plurinationalen Staates, der seit 2009 verfassungsrechtlich festgeschrieben ist und von Mitbestimmungsrechten aller in Bolivien existenten kulturellen Nationen ausgeht. Die Schriften dienen einem tieferen Verständnis der bolivianischen Realität und Regierungsführung. Sie sind ein Fundus für alle, die sich eurozentrischer Analyseraster entledigen und tiefer in das Verständnis peripherer Staatlichkeit eindringen wollen. Zur Anregung deutscher Debatten fernab eingeschliffener Theoriepfade ist dies ein wichtiges Buch.
Andreas Hetzer (AHE)
Diplom-Medienwirt, Lehrkraft für besondere Aufgaben, Fach Politikwissenschaft, Universität Siegen.
Rubrizierung: 2.65 | 2.2 | 2.21 | 2.22 | 2.23 Empfohlene Zitierweise: Andreas Hetzer, Rezension zu: Álvaro García Linera: Vom Rand ins Zentrum. Zürich: 2012, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/34059-vom-rand-ins-zentrum_40828, veröffentlicht am 22.03.2012. Buch-Nr.: 40828 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken