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Willi Baer / Karl-Heinz Dellwo (Hrsg.)

Paris Mai 68. Die Phantasie an die Macht

Hamburg: LAIKA Verlag 2011 (Bibliothek des Widerstands 16); 168 S.; EUR 29,90 €; ISBN 978-3-942281-86-7
Der Band, der als Zusatzmaterial zwei DVDs mit Filmmaterial und Reportagen zum Thema enthält, bietet aus Sicht des „revolutionären Marxismus“ (209) eines Daniel Bensaid (1946-2010) einen Rückblick auf jene Proteste nicht nur der Studierenden der späten 60er-Jahre, die für mehr als eine ganze Generation identitätsstiftend – im Positiven wie im Negativen – gewirkt haben. Bensaid, neben Daniel Cohn-Bendit eines der Gesichter der 68er, kommentiert in einer Auswahl von Presseveröffentlichungen und Artikeln die Ereignisse, die Paris – und darüber hinaus auch Europa – im Mai 1968 ergriffen. Obschon es natürlich verquer wäre, eine direkte Linie von den friedlichen Protesten zu den zahlreichen Manifestationen des Linksterrorismus in den 70er-Jahren zu ziehen (beide Herausgeber sind ehemalige Mitglieder der Rote Armee Fraktion), so drängt sich – nicht zuletzt auch in gegenwartsdiagnostischer Perspektive – die Frage nach der vermeintlich progressiven politischen Wirkung von Veränderungsgewalt auf. Dass „die Gewalt“ in und um 68 „ein ganz eigenes Thema“ (93) wurde und war, wie Bensaid anmerkt, ist insofern eine unverfängliche Aussage, als dass damit zunächst nichts weiter gesagt ist. Und dass es schwierig geworden sei, im Laufe der Proteste hinsichtlich der Ausübung von Gewalt „zwischen Realität und Einbildung“ (94) zu unterscheiden, mag der subjektive Eindruck eines Beteiligten sein – Bilder von Gewalt, wie sie heute aus Ägypten, Libyen und auch Syrien immer häufiger zu uns kommen, vermitteln hingegen ein beklemmendes Gefühl der Ohnmacht angesichts allzu realer Schrecken im Kampf um mehr Demokratie. Was aber letztlich verstört, ist der unversöhnliche Duktus der präsentierten Zeitdokumente, die allesamt von einer Freund-Feind-Logik getragen werden. Manches wird damit zwar als „Illusionen“ (129) anerkannt – ikonografisch gesprochen: Che Guevara ja, Osama Bin Laden nein (Vgl. 177), Pol Pot taucht irgendwie nicht auf – jedoch nicht vom vermeintlich richtigen Pfad der Geschichte abgewichen. „So schreitet die Geschichte voran“ (121). Mit diesen Worten endet einer der Aufsätze des Bandes – und es beschleicht einen das komische Gefühl, dass die radikale Linke da nicht dabei ist.
Matthias Lemke (LEM)
Dr. phil., Politikwissenschaftler (Soziologe, Historiker), wiss. Mitarbeiter, Institut für Politikwissenschaft, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.
Rubrizierung: 2.61 | 2.23 | 2.22 Empfohlene Zitierweise: Matthias Lemke, Rezension zu: Willi Baer / Karl-Heinz Dellwo (Hrsg.): Paris Mai 68. Hamburg: 2011, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/34187-paris-mai-68_41011, veröffentlicht am 22.09.2011. Buch-Nr.: 41011 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken