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Mathias Wagner

Die Schmugglergesellschaft. Informelle Ökonomien an der Ostgrenze der Europäischen Union. Eine Ethnographie

Bielefeld: transcript Verlag 2011 (Kultur und soziale Praxis); 374 S.; 33,80 €; ISBN 978-3-8376-1775-7
„Die Kunst des Schmugglers besteht darin, dem Zöllner eine Brücke zu bauen, die ihm eine Entscheidung zwischen oberflächlicher und genauer Kontrolle erleichtert.“ (134) Wagner vergleicht das Geschehen mit einem Theaterstück – alle Beteiligten gehen zwar davon aus, dass 95 Prozent des polnisch-russischen Grenzverkehrs in der Nähe der masurischen Gemeinde Sępopol dem Schmuggel von Waren wie Zucker, Wodka und Benzin dienen. Auf ihrer Bühne, an der Grenzkontrollstelle, aber spielen sie „legalen Kleinhandel“ (138), jedenfalls fast. Auf der russischen Seite, dort, wo legal billig eingekauft wird, verlangen die Zöllner eine informell festgelegte Abgabe. Ihre polnischen Kollegen dagegen sind nur in Ausnahmen korrupt. Aber sie finden oft nur einen kleineren Teil der Schmuggelware – selten, weil sie bedroht werden, meist aus Nachsicht. Auch in der örtlichen Bevölkerung wird der Schmuggel toleriert. Um herauszufinden, wie dieser fester und akzeptierter Bestandteil der regionalen Ökonomie werden konnte, ist Wagner ein Jahr nach Sępopol gezogen und hat nach ethnografischer Methode geforscht – für seine Nachbarn habe dies nach Müßiggang ausgesehen, berichtet er, sei er doch viel in der Bibliothek, bei Nachbarn und in der Kneipe unterwegs gewesen. Aber nur so sei es möglich gewesen, das Vertrauen der Schmuggler zu gewinnen und sie auf ihren Fahrten zu begleiten. Im Ergebnis dieser spannend beschriebenen Feldforschung legt Wagner eine umfassende und aufschlussreiche, mit vielen theoretischen Hinweisen gespickte Analyse vor. Nach einem Überblick über den Schmuggel in Geschichte und Literatur werden Sozialstruktur und wirtschaftliche Entwicklung in Sępopol seit Beginn der Transformation vorgestellt. Wagner unterscheidet verschiedene Schmugglertypen, von der Rentnerin, die Kleinstmengen im Linienbus über die Grenze bringt, bis hin zu organisierten Gruppen und schätzt ihren Gewinn ab. Deutlich wird, dass es kein leicht verdientes Geld ist, sondern Schmuggeln enormen Stress bedeuten kann. Auffällig ist, dass eher selten auf sich allein gestellte Arbeitslose schmuggeln, sondern meist jene damit (unsicheres) Geld verdienen, deren Partner z. B. mit einer legalen Tätigkeit für eine finanzielle Basis der Familie sorgt. Dennoch identifiziert Wagner den Schmuggel eindeutig als Symptom von Verarmung und ungerechten ökonomischen Verhältnissen. Die Schmuggler, die keinerlei Aussicht auf eine legale Arbeit haben, befreien sich – nach eigener Einschätzung und vor allem auch in den Augen der Gesellschaft – durch eigene Initiative aus ihrer Notlage und entgehen so einer gesellschaftlichen Stigmatisierung.
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 2.2 | 2.22 | 2.21 | 2.61 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Mathias Wagner: Die Schmugglergesellschaft. Bielefeld: 2011, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/34315-die-schmugglergesellschaft_41184, veröffentlicht am 02.02.2012. Buch-Nr.: 41184 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken