Skip to main content
Annette Ohme-Reinicke

Das große Unbehagen. Die Protestbewegung gegen "Stuttgart 21": Aufbruch zu neuem bürgerlichen Selbstbewusstsein?

Stuttgart: Schmetterling Verlag 2012; 195 S.; 14,80 €; ISBN 978-3-89657-059-8
„Stuttgart 21“ als Ausdruck eines neuen Polisbewusstseins, als Ausdruck einer neuen rätedemokratischen Bewegung? Als Abbild der Pariser Commune gar? Das Bild, das die Autorin vom „Ausnahmezustand der Proteste“ (8) zeichnet, hält einige Überraschungen bereit. Lässt man das erste Kapitel „Fortschritt und Kritik“ beiseite, in dem sich – wohl dem überblicksartigen Charakter des Buches geschuldet – einige kurze und in dieser Verkürzung kaum mehr hilfreiche Seitenblicke auf die Geschichte der Arbeiterbewegung, der Techniksoziologie oder der Bewegungsforschung finden, dann stößt man auf einen durchaus spannenden, aus dem Blickwinkel der unmittelbaren Betroffenheit geschriebenen Text, der die Genese und ein Stück auch die Stimmung der vielfältigen Proteste gegen „Stuttgart 21“ abbildet. Aus soviel empathischer Nähe können jedoch auch Probleme entstehen. Und davon enthält das Buch mindestens eines – das aber ist sehr gravierend. Dass nämlich vom Schlichtungsverfahren nur unter dem Stichwort „sogenannte Schlichtung“ (106) beziehungsweise von Heiner Geißler nur als „sogenanntem Schlichter“ (106) die Rede ist, ist mehr als ein Lapsus – es ist die zentrale Schwäche des Buches. Wo, wenn nicht beim Schlichtungsverfahren, hätte man analytisch ansetzen können, um tatsächlich die Möglichkeiten alternativer, so in der Öffentlichkeit noch nie erprobter Verfahren in demokratisch organisierten Entscheidungsprozessen analysieren zu können? Stattdessen auf die analytisch nicht wirklich tiefgehende Formel des Stuttgarter Bürgers als Citoyen zurückzugreifen, der sich selbstbewusst, im wahrsten Sinne des Wortes auf der Barrikade stehend, aus dem Klammergriff des totalitären Neoliberalismus befreit, ist sozialromantisch nett und sicherlich auch Teilaspekt der Frage der Durchsetzung von technischen Großprojekten. Wissenschaftlich zielführend mit Blick auf die demokratierelevanten Auswirkungen der Schlichtung und des Protests in Stuttgart ist ein solches Vorgehen indes sicher nicht.
Matthias Lemke (LEM)
Dr. phil., Politikwissenschaftler (Soziologe, Historiker), wiss. Mitarbeiter, Institut für Politikwissenschaft, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.
Rubrizierung: 2.331 | 2.325 Empfohlene Zitierweise: Matthias Lemke, Rezension zu: Annette Ohme-Reinicke: Das große Unbehagen. Stuttgart: 2012, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/34666-das-grosse-unbehagen_41658, veröffentlicht am 09.02.2012. Buch-Nr.: 41658 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken