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Peter Birle / Matias Dewey / Aldo Mascareño (Hrsg.)

Durch Luhmanns Brille. Herausforderungen an Politik und Recht in Lateinamerika und in der Weltgesellschaft

Wiesbaden: Springer VS 2012; 254 S.; brosch., 34,95 €; ISBN 978-3-531-17982-7
„Alles, was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt.“ Dieses konstruktivistische Paradigma, das die chilenischen Neurobiologen Humberto Maturana und Francisco Varela 1973 prägten – und auf deren erkenntnistheoretische Überlegungen im Übrigen auch der für Luhmann so zentrale Begriff der Autopoiesis zurückgeht – beschreibt in zweifacher Hinsicht die Spezifika der Systemtheorie Luhmanns. Zum einen ist die Erkenntnis von Welt immer nur mittelbar, eben durch Beobachtung möglich; und zum anderen erfolgt der Austausch über Beobachtung im Prozess der Kommunikation, die für die neuere Systemtheorie den zentralen Erkenntnisgegenstand einer Wissenschaft über das Soziale darstellt. Für Leser, die sich die systemtheoretische Perspektive Luhmanns nicht zu eigen machen, ist der Band weniger interessant, denn er bietet Sozial- und Gegenwartsdiagnosen über Lateinamerika strikt aus systemtheoretischer Sicht formuliert an. Warum Luhmann in Lateinamerika so erfolgreich hat werden können, erläutern die Herausgeber in ihrem einleitenden Aufsatz. So konnten nicht nur viele Luhmann-Schüler, die bei ihm in Bielefeld studiert und auch promoviert hatten, bei ihrer Rückkehr nach Lateinamerika Soziologie-Lehrstühle besetzen, auch die von Luhmann vertretene Idee der Weltgesellschaft hat kommunikative Barrieren eingeebnet. Aus weltgesellschaftlicher Sicht waren Lateinamerika und seine Universitäten Teil eines globalen Kommunikationssystems der Wissenschaft – und nicht durch nationalstaatliche Grenzen ausgeschlossen. Was heute selbstverständlich klingen mag, muss offenbar Ende der 1970er-, Anfang der 1980er-Jahre von einer starken Anziehungskraft für – aus europäischer Sicht – periphere Wissenschaftssysteme gewesen sein. Und nicht zuletzt hat sich Luhmann selbst öfters in Lateinamerika aufgehalten – was auch das hartnäckige Vorurteil über die Empirieferne der Systemtheorie relativiert, das mit Blick auf den berüchtigten Zettelkasten immer wieder hervorgeholt wird. Ob mit Luhmann indes innovative Erkenntnisse in der Analyse von Gegenwartsgesellschaften Lateinamerikas möglich werden, bleibt den jeweiligen Forschungspräferenzen überlassen. Klaus Dammanns Aufsatz etwa über Gewaltphänomene in Lateinamerika zeigt, dass es mit Luhmann möglich wird, vorhandene Informationen neu zu sortieren und in einem „Luhmann-Netz“ (140) anders als bislang üblich zu verknüpfen. Ob das genug der Innovation ist?
Matthias Lemke (LEM)
Dr. phil., Politikwissenschaftler (Soziologe, Historiker), wiss. Mitarbeiter, Institut für Politikwissenschaft, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.
Rubrizierung: 2.65 | 2.2 | 2.21 | 2.22 | 2.23 | 2.25 | 4.3 Empfohlene Zitierweise: Matthias Lemke, Rezension zu: Peter Birle / Matias Dewey / Aldo Mascareño (Hrsg.): Durch Luhmanns Brille. Wiesbaden: 2012, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/35128-durch-luhmanns-brille_42286, veröffentlicht am 02.08.2012. Buch-Nr.: 42286 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken