Staatsräson. Steht die Macht über dem Recht?
In diesem 50. Band der etablierten Reihe Staatsverständnisse widmet sich der Gesamtherausgeber Rüdiger Voigt einem schillernden Begriff, der als „bedingungsloser Imperativ staatlicher Selbsterhaltung“ (11) Karriere gemacht hat – der Staatsräson. Dabei richtet der emeritierte Verwaltungswissenschaftler sein Hauptaugenmerk auf vier unterschiedliche Blickwinkel – „Die ideengeschichtliche Perspektive“ (29), „Die sozialwissenschaftliche Perspektive“ (105), „Die rechtswissenschaftliche Perspektive“ (143) und „Die philosophische Perspektive“ (205) –, aus denen die in der Frühen Neuzeit entwickelte Lehre von der Staatsräson betrachtet werden kann. Ausgehend vom altrömischen Republikverständnis – den Begriff der Staatsräson gab es damals noch nicht – und weiter geführt im Renaissancediskurs um die „ragione di stato“ (57) wird in den ersten Aufsätzen insbesondere am Denken von Machiavelli erörtert, welche staatlichen Mittel erlaubt sind, um entweder die staatliche Ordnung zu erhalten oder diejenigen Zwecke durchzusetzen, um derentwillen die politische Ordnung gegründet worden ist und überhaupt besteht. Während Willkürstaaten sich über alle Legitimationsfragen erheben und sich nicht in der Pflicht sehen, sich für ihre Gewaltausübung rechtfertigen zu müssen, tragen Rechtsstaaten, die allein zum Schutze und zur Freiheitssicherung der Bürgerinnen und Bürger Zwang anwenden dürfen, die Spannung zwischen dem Recht und der zur Rechtsdurchsetzung notwendigen Gewaltandrohung beziehungsweise ‑anwendung existenziell aus. Welche rechtsstaatlichen Strategien zur Terrorbekämpfung demnach verfolgt werden, wird ebenso thematisiert wie bedeutsame rechtswissenschaftliche Fragen, etwa zu Ausnahmesituationen, in denen „im Konfliktfall die Funktionstüchtigkeit des Staates rechtsstaatlich garantierten Individualrechten“ (163) vorgezogen wird. Das sich darin ausdrückende „Spannungsverhältnis von Recht, Staatsräson und Gewalt“ (225) wird unter Rekurs auf Machiavelli, Hobbes, Kant und Agamben in einer abschließenden philosophischen Diskussion resümierend auf den Punkt gebracht.