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Hans-Jürgen Urban

Der Tiger und seine Dompteure. Wohlfahrtsstaat und Gewerkschaften im Gegenwartskapitalismus

Hamburg: VSA 2013; 301 S.; 19,80 €; ISBN 978-3-89965-589-6
Hans‑Jürgen Urbans Analyse ist von der – berechtigten – Sorge getrieben, die in den vergangenen Jahren vollzogenen Deregulierungsprozesse zugunsten von Finanzmärkten und Wirtschaftsakteuren könnten ursächlich für die gegenwärtig allerorten zu beobachtende Krise des kapitalistischen Systems sein. Seine Überlegungen richten sich nun auf eine Institution und eine Akteursgruppe – den Wohlfahrtsstaat und die Gewerkschaften –, die er in ihren Bemühungen zur (Wieder‑)Einhegung der Konsequenzen der zurückliegenden Deregulierungsorgien beobachtet. Dabei deutet der Begriff Dompteure im Titel einen „optimistischen Realismus“ (13) hinsichtlich der tatsächlichen Durchsetzungsfähigkeit der Gewerkschaften insbesondere gegenüber den Akteuren des Finanzkapitalismus an, die Urban als zentrale Größe des Gegenwartskapitalismus begreift. Für ein geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall ist derlei Optimismus nicht weiter erstaunlich. Tatsächlich überraschend ist indes, welch großen Raum in der breit angelegten Analyse derjenige Teil einnimmt, in dem es um die Selbstbeobachtung von Wohlfahrtsstaat und Gewerkschaften und ihren eigenen Veränderungen im Ringen mit dem globalen Kapitalismus geht. Urban schreibt damit nicht ‚bloß gegen’ die Märkte, sondern ist durchweg komplexer: „Die Interdependenzen von kapitalistischen Märkten und ihren sozialpolitischen Regulierungen stellen Dauerthemen kritischer Sozialwissenschaften dar.“ (9 f.) Auch wenn sein ‚konventioneller’ Ökonomisierungsbegriff, wie er ihn paradigmatisch in Kapitel 2 entfaltet, entsprechend des Mainstreams sozialwissenschaftlicher Literatur zur gegenwärtigen Hegemonie des Neoliberalismus allein auf dessen politischen Output, nicht aber auf seine komplexe, diskursive Vorbereitung abstellt, so gelingen ihm doch einige wichtige Vorschläge zur Revitalisierung von Gewerkschaftsarbeit. Urban sieht hier die Notwendigkeit einer breiten linken Koalition – und breit meint dabei organisatorisch wie auch international beziehungsweise auf europäischer Ebene. Einer solchen „Mosaiklinken“ könne es gelingen, ein gegenhegemoniales Projekt zum Neoliberalismus zu entwerfen und nachhaltig zu kommunizieren – wenn auch, und hier schlägt dann doch der Realismus seiner Perspektive durch, „bestenfalls in weiter Ferne“ (268). Für alle Leser_innen, die schon jetzt mit einer profunden Auseinandersetzung über die gegenwartskapitalistischen Zustände beginnen wollen, ist die Lektüre – trotz einiger Längen – nachhaltig zu empfehlen.
Matthias Lemke (LEM)
Dr. phil., Politikwissenschaftler (Soziologe, Historiker), wiss. Mitarbeiter, Institut für Politikwissenschaft, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.
Rubrizierung: 2.2 | 2.342 | 2.331 | 3.4 | 3.5 | 2.22 Empfohlene Zitierweise: Matthias Lemke, Rezension zu: Hans-Jürgen Urban: Der Tiger und seine Dompteure. Hamburg: 2013, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/36841-der-tiger-und-seine-dompteure_44825, veröffentlicht am 13.03.2014. Buch-Nr.: 44825 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken