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Julius Margolin

Reise in das Land der Lager. Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja

Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2013; 638 S.; geb., 39,- €; ISBN 978-3-518-42406-3
Die Wirkung, die Alexander Solschenizyn mit „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ (1962) und „Der Archipel Gulag“ (1973) erzielen sollte, ist Julius Margolin verwehrt geblieben. Der autobiografische Bericht über seine „Reise in das Land der Lager“ nahm Solschenizyns Arbeiten zwar vorweg, wurde aber in einer Zeit geschrieben – von Dezember 1946 bis Oktober 1947 –, in der die Welt noch nichts wissen wollte über die dunkle Seite der Sowjetunion und nichts vom Schicksal eines polnischen Juden, der eigentlich schon nach Palästina ausgewandert war und dennoch bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, während eines Besuchs in der alten Heimat, in die Fänge dieser Diktatur geriet. Die spätere Siegermacht trachtete danach, die eigenständig denkende polnische Elite in dem von ihr besetzten Teil des Landes auszuschalten. Und zu dieser zählte sie auch Margolin, der 1900 in Pinsk geboren worden war, damals Teil des Russischen Reiches und nach dem Ersten Weltkrieg zur Zweiten Republik Polen gehörend. Von dieser Absicht aber konnte er, der sich als freier Bürger verstand und sich dem modernen Europa verbunden fühlte – 1929 hatte er in Berlin in Philosophie promoviert –, nichts wissen, es nicht einmal ahnen: Zunächst hält er es für ein Versehen, dass man ihn im September 1939 nicht zu Frau und Kind nach Tel Aviv zurückreisen lässt, und irrlichtert durch den östlichen Teil des besetzen Polens. Im Juni 1940 wird er in seiner Heimatstadt, die später zwischenzeitlich von den Nationalsozialisten besetzt werden wird, verhaftet und wegen Passvergehens – er hält sich im sowjetischen Machtbereich auf, verfügt aber über keinen sowjetischen Pass, so die Begründung – zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt. Er verbringt die Zeit unter entsetzlichen Bedingungen im Norden Russlands, ist meist dem Hungertod näher als dem Leben. Margolin macht seine Leser zur Begleitung im Lageralltag, lässt sie auf das Schicksal so vieler Menschen blicken, deren Herkunft und Bildung oder ein falsches Wort für eine Inhaftierung als ausreichend erachtet wird, und zeigt, wie der Mensch, so sehr er sich auch um Haltung bemüht, unter den Bedingungen des Lagers verkümmert. Das Buch, das nun erstmals ungekürzt auf Französisch und Deutsch vorliegt, ist geprägt von Margolins Fassungslosigkeit über die völlige Negierung des Rechts durch die sowjetische Diktatur. Dabei gelingt es ihm dennoch, die Unterschiede zwischen den sowjetischen Arbeitslagern und nationalsozialistischen Konzentrationslagern wahrzunehmen. Es bleibt die Erkenntnis, dass die Diktaturen in den Lagern ihr wahres Gesicht zeigen.
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 2.12.622.254.1 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Julius Margolin: Reise in das Land der Lager. Frankfurt a. M.: 2013, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/36866-reise-in-das-land-der-lager_45233, veröffentlicht am 13.03.2014. Buch-Nr.: 45233 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken