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Ramón Reichert

Die Macht der Vielen. Über den neuen Kult der digitalen Vernetzung

Bielefeld: transcript Verlag 2013 (Edition Medienwissenschaft); 210 S.; kart., 24,99 €; ISBN 978-3-8376-2127-3
Schaffen die digitalen Vernetzungsmedien eine „Ermöglichungsmacht“ (7), die über die zunehmenden Partizipationsmöglichkeiten den Boden für mehr Demokratie im Sinne einer kritischen Gegenöffentlichkeit bereitet? Angesichts der fast täglichen Konfrontation mit Online‑Petitionen, Protestforen etc. liegt dieser Eindruck nahe. Umgekehrt sind, das zeigen gerade die Ereignisse der vergangenen Monate, auch die Kontrollmöglichkeiten durch das Internet ins nahezu Unermessliche gestiegen. Dass zwischen der Herrschaftsabsicherung via Kontrolle auf der einen Seite und dem wachsenden Interaktionspotenzial auf der anderen Seite eine faktisch nicht durchschaubare Welt digitaler Technik und darauf beruhender Macht‑ und Steuerungsstrategien steckt, zeigt Ramón Reichert in seinem herausragenden Buch. Herausragend ist es deshalb, weil der Autor seine Studie nicht in die mittlerweile zahlreich vorhandene Literatur über die neuen Medien einreiht, die entweder das zunehmende Vernetzungs‑ und Teilhabepotenzial oder aber die politisch‑ökonomischen Funktionen der allumfassenden „Datensammelwut“ thematisieren. Reichert führt in erster Linie in die technische Seite der digitalen Medien ein: Technologien und Protokolle, die jenseits des für die Nutzer_innen sichtbaren Front‑End‑Bereiches angesiedelt sind, können einerseits ihr Verhalten steuern und zugleich Informationen über diese sammeln, deren Ausmaß und Verwertung für die Nutzer_innen weder durchschaubar noch kontrollierbar sind. Andererseits werden mithilfe derartiger Technologien unterschiedliche Rollen und Zugriffsmöglichkeiten generiert. Dadurch entstehen neuartige Machtverhältnisse und ‑strategien, die sich massiv von herkömmlichen sozialen Interaktionsmustern unterscheiden. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Rede von der „Ermöglichungsmacht“ relativieren: Zum einen kann der um sich greifende „Click‑Activism“ (181) ein kritisches Denken durchaus auch verhindern; zum anderen kann – via Datensammlung und ‑auswertung – die politische Kontrolle sozialer Bewegungen in das Netz verschoben werden. Sie wird damit nicht nur effektiver, sondern setzt auch frühzeitiger ein und ermöglicht Regierungen somit eine viel zeitigere Bekämpfung widerständiger sozialer Kollektivitäten. Reichert verschweigt freilich nicht, dass auch diese Art von ökonomischer und politischer Kontrolle ihre Grenzen dort hat, wo Personen sich unerwartet verhalten oder bewusst falsche Informationen über sich verbreiten. Alles in allem wird deutlich, dass es einer sehr differenzierten Sicht auf die digitalen Netze bedarf, um die Gegenwartsgesellschaft und ihre Machtstrukturen theoretisch zu erfassen. Dazu bietet das Buch einen respektablen Beitrag.
Björn Wagner (BW)
Dipl.-Politologe, Doktorand und Lehrbeauftragter, Universität Jena.
Rubrizierung: 2.22 Empfohlene Zitierweise: Björn Wagner, Rezension zu: Ramón Reichert: Die Macht der Vielen. Bielefeld: 2013, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/36973-die-macht-der-vielen_43484, veröffentlicht am 17.04.2014. Buch-Nr.: 43484 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken