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Carolin Amlinger

Die verkehrte Wahrheit. Zum Verhältnis von Ideologie und Wahrheit bei Marx/Engels, Lukács, Adorno/Horkheimer, Althusser und Žižek

Hamburg: LAIKA Verlag 2014 (LAIKAtheorie); 191 S.; 19,90 €; ISBN 978-3-942281-63-8
Wenn die Sozialwissenschaft feststellt, dass Ideologie tendenziell alle Aspekte von Kultur und Gesellschaft durchdringt, ist dann die Wissenschaft, die das als Ergebnis feststellt, nicht selbst als Teil der Kultur schon ideologisch? Wenn sie aber ideologisch ist, ist das Ergebnis dann falsch? Wenn das Ergebnis aber falsch ist, ist die Wissenschaft nicht ideologisch und ihr Ergebnis wiederum die Wahrheit … – Carolin Amlinger versucht, diesen klassischen Zirkel der Ideologietheorie durch die Erhebung des Begriffs der Wahrheit in den Rang einer mit dem Begriff der Ideologie gleichrangigen Kategorie zu fassen. Sie fragt, „wie Erkennen (Wahrheit) und Verkennen (Ideologie) als dialektische Einheit gedacht werden können“ (13). Mit dieser neuen Perspektive werden die Meilensteine der Ideologietheorie rekapituliert und die Felder Subjekt, Determination, Praxis, Totalität sowie einige epistemologische Fragen neu problematisiert. Amlinger zeigt, dass schon in den Anfängen der Ideologietheorie bei Marx die herrschende Klasse nicht die Unwahrheit hervorbringt, sondern viel eher zum „Wahrheitsproduzenten“ (30) eigener Art erklärt wird. Dieser Grundsatz bleibt auch in den Theorien von Lukács sowie bei Adorno und Horkheimer erhalten: Wahrheit bleibt dasjenige, was die Subjekte eigentlich sehen müssten. Erst der Strukturalismus Althussers „überträgt […] die Freud‘sche Topographie auf die Struktur der Ideologie“ (120) und verändert damit die Spielregeln der Ideologietheorie: Der Begriff der Wissenschaft löst den der Wahrheit ab, die Ideologiekritik wird zu einer Methodenfrage. Dieser Fortschritt verschwindet aber sogleich wieder im Fahrwasser der postmodernen Philosophie. Insbesondere von Foucault „wurden die zentralen Konzepte der Ideologietheorie aufgehoben“ (133) und Fragen nach der Gesellschaft als Ganzes beiseitegelegt. Die neueren Reaktivierungsversuche bestehen vor allem darin, den Komplexitätsgrad der Theorie immer weiter zu steigern und der Ideologie zusätzliche Wirkungsschichten zu unterstellen. Insbesondere bei Žižek wird die Theorie um das Wissen um Ideologie durch eine zweite Schicht des Glaubens an das Wissen um Ideologie ergänzt. Der Glaube daran, selbst über Ideologie aufgeklärt zu sein, wird zur existenziellen Hürde linker Politik, die somit in das klassische Dilemma des Verrückten gerät: So wie der Patient, der von sich selbst behauptet, gesund zu sein, unter besonderer Beobachtung steht, liegt gerade auf der sich selbst als ideologiekritisch deklarierenden Politik unweigerlich ein erhöhter Ideologieverdacht. Damit droht der Ideologietheorie sogleich ihr bisher tiefster Fall: Denn trotz seiner Hegel‑Expertise tendiert auch Žižek dazu, das Verhältnis von Ideologie und Wahrheit eben nicht dialektisch, sondern ontologisch zu beantworten. Amlinger zeigt, dass ein wirklich dialektisches Verständnis von Ideologie noch in weiter Ferne liegt.
{FG}
Rubrizierung: 5.425.46 Empfohlene Zitierweise: Florian Geisler, Rezension zu: Carolin Amlinger: Die verkehrte Wahrheit. Hamburg: 2014, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/37892-die-verkehrte-wahrheit_46257, veröffentlicht am 11.12.2014. Buch-Nr.: 46257 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken