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Ana Mijić

Verletzte Identitäten. Der Kampf um den Opferstatus im bosnisch-herzegowinischen Nachkrieg

Frankfurt a. M./New York: Campus Verlag 2014; 439 S.; kart., 39,90 €; ISBN 978-3-593-50187-1
Soziolog. Diss. Wien; Begutachtung: S. Neckel. – Helden des Friedens, Humanisten und nationale Idole, als solche werden die Angeklagten des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien von ihren jeweiligen Anhängern gefeiert und verteidigt. Ana Mijić erklärt die Verehrung von Radovan Karadžić durch serbische oder Ante Gotovina durch kroatische Landsleute als Verteidigung der eigenen Identität, des ethnisch geprägten Selbstbildes. „Schon die Anklage Gotovinas versetzte dem kroatischen Selbstbild, demzufolge die Kroaten ausschließlich als Opfer serbischer Aggressionen [...] zu betrachten sind, einen nachhaltigen Schlag.“ (13) Die Frage nach Schuld und Verantwortung eines ganzen Volkes personifiziere sich in einzelnen Personen. Im Bosnienkrieg starben rund 100.000 Menschen, noch viel mehr wurden vertrieben und traumatisiert. Beendet wurde der Krieg durch das international vermittelte Dayton‑Abkommen, doch führte dieser „Friedensvertrag faktisch zu einer Legitimierung dessen, was euphemistisch als ‚ethnische Säuberung’ bezeichnet wird“ (19), da die innerstaatlichen Grenzen oft den Frontverlauf bestätigten und ein ethnischer Proporz im politischen System festgeschrieben wurde. Die Autorin untersucht, wie die Menschen in Bosnien ihre Identität und damit auch das Bild der (ethnisch) Anderen in der Nachkriegszeit konstruierten. Dazu führte sie 30 nicht‑standardisierte Interviews, um die im kollektiven Gedächtnis vorhandenen Deutungsmuster herauszuarbeiten. Ihr Datenmaterial wertete sie mittels der Objektiven Hermeneutik aus. Als zentrale Strategie zur Konstruktion eines positiven Wir‑Bildes dient ihrer Erkenntnis nach die Selbstviktimisierung. Mit der Selbstdarstellung als Opfer werde sich auf universelle Normen und Werte berufen, damit könne politische Macht gewonnen werden. „‚Opfer’ bündeln die Sympathien – etwa der internationalen Gemeinschaft – auf ihrer Seite, sie haben ein Anrecht auf Rücksichtnahme“ (392) und immunisierten sich so vor Kritik. Das Bild, das sich internationale Politik und Öffentlichkeit von den ehemaligen Kriegsparteien machten (etwa die Serben als hauptsächliche Aggressoren zu sehen), prägten stark die Art und Weise, wie die Menschen im Nachkriegs‑Bosnien ihre Identitäten konstruierten. Dem Dissertationsprojekt von Mijić ist der große empirische und theoretische Forschungsaufwand, mit dem es betrieben wurde, deutlich anzumerken.
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Rubrizierung: 2.612.23 Empfohlene Zitierweise: Wolfgang Denzler, Rezension zu: Ana Mijić: Verletzte Identitäten. Frankfurt a. M./New York: 2014, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/37970-verletzte-identitaeten_46296, veröffentlicht am 15.01.2015. Buch-Nr.: 46296 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken