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Jürgen Habermas

Zur Verfassung Europas Ein Essay

Berlin: Suhrkamp 2012 (edition suhrkamp); 140 S.; 4. Aufl.; 14,- €; ISBN 978-3-518-06214-2
In seiner Diagnose der Konstruktionsfehler der Europäischen Union ist Jürgen Habermas deutlich: Im Prozess der Integration hat sich nach der Finanz‑ und Wirtschaftskrise eine Art Exekutivföderalismus der Mitgliedstaaten herausgebildet, der das „Muster einer postdemokratischen Herrschaftsausübung“ (8) abgibt. Gleichwohl sieht er in der Europäischen Union nach dem Vertrag von Lissabon durchaus Chancen der Weiterentwicklung zu einer transnationalen Demokratie. Mit dem Essay möchte Habermas Denkblockaden beseitigen, die die politische Debatte bisher technokratisch einengen und die erforderlichen Vertragsänderungen verhindern. Methodisch beruht der Text auf einer Rekonstruktion der dem Lissabon‑Vertrag vorausgegangenen verfassungsrechtlichen Diskussionen, als seien sie „vor einem ordentlich zusammengesetzten Verfassungskonvent“ (64) zustande gekommen. In dieser Perspektive kommt es Habermas auf vier Argumente an: Das Prinzip der Volkssouveränität ist nicht zwingend an die historische Gestalt der Staatssouveränität gebunden, wenn plausibel gemacht werden kann, dass sich die zentralen Bausteine nationalstaatlicher Demokratien auf transnationaler Ebene ohne Substanzverlust neu konfigurieren lassen. Im europäischen Mehrebenensystem hat sich eine Verflechtung von nationalem und Gemeinschaftsrecht eingespielt, die letzterem einen Anwendungs‑, aber keinen Geltungsvorrang zuschreibt. Diese Praxis beruht in demokratietheoretischer Hinsicht auf der Teilung der konstituierenden Gewalt – Legitimationssubjekte sind die Bürger in ihrer Doppelrolle als Unionsbürger und als Angehörige eines der Staatsvölker. Mit dieser geteilten Souveränität ergibt sich ein Legitimationserfordernis, dem zufolge die Mitgliedstaaten in ihrer freiheitssichernden Funktion erhalten bleiben. Die damit verbundenen institutionellen Konsequenzen – Europäisierung des Parteiensystems, veränderte Kompetenzen von Parlament, Kommission und Europäischem Rat – benennt Habermas nur kurz. Freilich könnten diese verfassungsrechtlichen Potenziale nur genutzt werden, wenn sich die politischen Eliten von der „gewohnten Kombination aus Öffentlichkeitsarbeit und expertengesteuertem Inkrementalismus“ (81) verabschieden und damit auch das eigene Machterhaltungsinteresse zurückstellen.
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Rubrizierung: 3.2 | 4.42 | 5.44 | 3.1 Empfohlene Zitierweise: Thomas Mirbach, Rezension zu: Jürgen Habermas: Zur Verfassung Europas Berlin: 2012, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/38177-zur-verfassung-europas_41952, veröffentlicht am 19.03.2015. Buch-Nr.: 41952 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken