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EUNIC / Institut für Auslandsbeziehungen e.V. (ifa) / Europäische Kulturstiftung (ECF) Amsterdam (Hrsg.)

Europa: Festung oder Sehnsuchtsort. Kultur und Migration

Göttingen: Steidl 2015 (Kulturreport 7; EUNIC-Jahrbuch 2014/2015); 300 S.; 20,- €; ISBN 978-3-86930-953-8
Der überaus hochkarätig besetzte Band hätte zu keiner passenderen Zeit erscheinen können, denn „wir haben ein Problem“ (4): Während sich Europa und mit ihm auch Deutschland um die Bewältigung der Flüchtlingskrise – in Teilen wenigstens – bemüht, entstehen an anderer Stelle immer mehr Hass, Ressentiments und Ablehnung. Es ist also Zeit zu fragen, was denn dieses Europa ist und was es sein will: Festung oder Sehnsuchtsort? Zygmunt Bauman verweist in seinem Aufsatz unter Bezugnahme auf den französischen Soziologen Philippe Robert auf eine erstaunliche Parallele: Während im Zuge des Ausbaus des europäischen Sozialstaates „die Ängste vor dem Verbrechen allmählich nachließen“ (73) und zunehmend auf den Rand der Städte, die Banlieues projiziert wurden, nehmen sie neuerdings wieder zu. Diese Zunahme, so Bauman, verlaufe parallel zur neoliberal angeleiteten Deregulierung der Arbeitsmärkte und zur zunehmenden Individualisierung allgemeiner Lebensrisiken. Die alten Ängste haben seiner Beobachtung nach dabei eine neue Zielscheibe gefunden: die Einwanderer. Sie stehen ganz unten, außen vor in einer Gesellschaft, die gekennzeichnet ist von allgemeiner Erosion und einer Umdeutung von Werten – Vertrauen etwa wird zu Naivität – und deshalb „Brüchigkeit“ (88) und Ausgrenzung zu ihrem Markenkern macht und damit kaum mehr Zufluchtsort sein kann. Richard Sennett erinnert in seinem Beitrag an das von Gotthold Ephraim Lessing formulierte Toleranzgebot, das – stadtsoziologisch gewendet – jedoch selbst in den großen Metropolen der Gegenwart kaum mehr anzutreffen sei. Stattdessen finden sich gated communities, no‑go‑areas, also Grenzen und Ausgrenzungen allerorten. Angesichts antimuslimischer Proteste, die – etwa im Falle Pegidas – von Menschen geäußert würden, die physisch so gut wie nie auf Muslime träfen, gelte es, stadtplanerisch umzudenken: Es brauche Räume, die ein „Erlernen des Zusammenlebens“ (182) ermöglichten. Beides zusammengenommen mündet in eine ganz einfache Botschaft, die, wie Martin Eichtinger ausführt, angesichts zunehmender Ausländerfeindlichkeit und unsäglichem Rechtspopulismus aus der europäischen Tradition von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten notwendig folgt: Europa muss das gemeinsame Handeln wieder auf die Agenda setzen. Das wäre eine – nicht zuletzt auch im Arendt‘schen Sinne – politische Haltung, die den Menschen, wie sie etwa im Buch auf den beeindruckenden Bildern aus Hoyerswerda ebenso zögernd, ängstlich, wie auch hoffnungsvoll in die Kamera blicken, gerecht würde.
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Rubrizierung: 3.53.14.42 Empfohlene Zitierweise: Matthias Lemke, Rezension zu: EUNIC / Institut für Auslandsbeziehungen e.V. (ifa) / Europäische Kulturstiftung (ECF) Amsterdam (Hrsg.): Europa: Festung oder Sehnsuchtsort. Göttingen: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/39066-europa-festung-oder-sehnsuchtsort_46869, veröffentlicht am 12.11.2015. Buch-Nr.: 46869 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken