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Ilko-Sascha Kowalczuk / Arno Polzin (Hrsg.)

Fasse Dich kurz! Der grenzüberschreitende Telefonverkehr der Opposition in den 1980er Jahren und das Ministerium für Staatssicherheit

Göttingen u. a.: Vandenhoeck & Ruprecht 2014 (Analysen und Dokumente 41); 1.059 S.; geb., 69,99 €; ISBN 978-3-525-35115-4
Welchen hohen Stellenwert der Telefonüberwachung Oppositioneller zugeschrieben wurde, illustriert eine Erfahrung, die Ralf Hirsch machen musste: Morgens gegen sechs wurde er von einem Entstörungstrupp der Deutschen Post geweckt – das MfS, das ihn ausspionierte, hatte einen Defekt seines Anschlusses bemerkt und die Reparatur veranlasst. Die Schilderungen in diesem insgesamt sehr aufschlussreichen Band legen nahe, dass Hirsch nicht allzu überrascht gewesen sein dürfte, ging man doch allgemein in der DDR eher davon aus, dass Telefonate überwacht wurden – meist ohne richterliche Anordnung und bis heute juristisch nicht aufgearbeitet, wie Ilko‑Sascha Kowalczuk einleitend kritisch feststellt. Kaum jemand wurde allerdings wie der Schriftsteller Stephan Hermlin 1978 von Erich Honecker persönlich über seine Überwachung informiert – und war einverstanden: „‚Ja, klar, natürlich.‘“ (39) Abgehört wurden also nicht nur Oppositionelle, sondern gelegentlich auch Systembefürworter, langgediente MfS‑Offiziere und 1989 sogar Egon Krenz und Hans Modrow. Die 151 protokollierten Telefonate, die in diesem Band dokumentiert und wissenschaftlich kommentiert werden, spiegeln aber nicht die Paranoia innerhalb des Systems, sondern sind als wichtiger Beitrag zur Geschichte der Opposition in der DDR zu lesen. Durch mehrere einleitende Beiträge werden diese Dokumente hervorragend zeitgeschichtlich eingeordnet – die oben genannten Anekdoten sind Fußnoten der Auseinandersetzung zwischen Diktatur und Opposition, die ihren erschreckenden Zenit in Plänen des MfS fand, Rainer Eppelmann und Ralf Hirsch zu ermorden. Im ersten Beitrag führt Kowalczuk in den Themenkomplex der grenzüberschreitenden Überwachung von Telefonaten der Opposition ein. Herzstück des Beitrags ist die Erzählung, wie sich die Opposition in Ost‑Berlin weiterentwickelte und zusammen mit Roland Jahn, der in den Westen abgeschoben worden war, einen grenzüberschreitenden und unzensierten Kommunikationsraum schuf. Auch Wolfgang Templin schreibt mit seinen „Erfahrungen, Einsichten und Erinnerungen eines Abgehörten“ (203 ff.) ein wichtiges Stück Oppositionsgeschichte, sein Schwerpunkt liegt auf der von ihm mitbegründeten Initiative Frieden und Menschenrechte und ihren Protagonisten, deren Widerstand mit massiver Repression beantwortet wurde. Wichtige Informationen wurden von den Oppositionellen zwar eher nicht am Telefon besprochen, entgingen aber durch Verwanzungen von Wohnungen und den Einsatz von Spitzeln dennoch oft nicht dem MfS. Seine politische Haltung habe er aber ohnehin nicht verborgen und „‚richtig‘“ telefoniert, erinnert sich Templin, „ich nutzte das Telefon zum ungehemmten inhaltlichen Austausch mit all jenen, die uns jenseits der Grenze politisch und persönlich nahestanden“ (206).
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Rubrizierung: 2.3142.313 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Ilko-Sascha Kowalczuk / Arno Polzin (Hrsg.): Fasse Dich kurz! Göttingen u. a.: 2014, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/39703-fasse-dich-kurz_46359, veröffentlicht am 26.05.2016. Buch-Nr.: 46359 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken