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Ulrich Roos (Hrsg.): Deutsche Außenpolitik. Arenen, Diskurse und grundlegende Handlungsregeln

29.06.2017
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Autorenprofil
Dr. Sven Leunig
Wiesbaden, Springer VS 2017

Wie bereits in früheren Publikationen legt Herausgeber Ulrich Roos mit diesem Sammelband seinen Finger in eine methodische, ja wissenschaftstheoretische Wunde: Viel wird über Außenpolitik geschrieben, mal aus mehr, mal aus weniger berufenem Munde, und der wissenschaftlichen Analysen dazu sind Legion – nur muss man hinter dem „wissenschaftlich“ oft ein deutliches Fragezeichen setzen. Denn allzu häufig fragt sich der Leser dieser Analysen, auf welcher Basis der jeweilige Autor eigentlich seine Erkenntnisse gewinnt, mithilfe welcher Methoden, so lautet die Kritik von Roos. Die Offenlegung dieser Methoden ist freilich eine wissenschaftliche conditio sine qua non oder sollte es jedenfalls sein, denn ansonsten ist es um die intersubjektive Nachvollziehbarkeit schlecht bestellt, was wiederum die Aussagen und Schlüsse eines solchen Beitrags nicht kritisierbar macht. Damit verliert er aber genau genommen seinen wissenschaftlichen Charakter im Popper‘schen Sinne.

Genau hierauf, auf die formaltheoretisch und methodisch saubere und klar nachvollziehbare Begründung analytischer Aussagen, legt Roos sehr zu Recht viel Wert. Dementsprechend enthalten alle Beiträge dieses Sammelbandes, der ausschließlich aus gekürzten Fassungen von Forschungsarbeiten besteht, unterschiedlich lange Unterabschnitte, in denen die Autor*innen ihre ontologischen, epistemologischen beziehungsweise erkenntnistheoretischen und methodischen Grundlagen erläutern. Dies ist zwar denn auch grundsätzlich zu begrüßen – da sie sich allerdings praktisch alle auf die Grounded Theory beziehen und rekonstruktionslogisch arbeiten, wiederholen sich die Ausführungen inhaltlich in der einen oder anderen Weise immer wieder, was die Lektüre nach dem dritten oder vierten Beitrag dann doch etwas ermüdend gestaltet. Hier wäre es vielleicht sinnvoller gewesen, wenn die Autor*innen einen gemeinsamen Beitrag geschrieben hätten, in dem sie ihre erkenntnis- und forschungsleitenden Orientierungen zusammenfassend formuliert hätten. Dann wäre etwas mehr Platz für inhaltliche Ausführungen vorhanden gewesen beziehungsweise für die genauere Darstellung der jeweils verwendeten Quellen und vor allem zur Erläuterung, warum genau man sich für diese oder jene Quelle entschieden hat. Generell wäre es für den Leser hilfreich gewesen, Quellen beziehungsweise Materialien einerseits und Sekundärliteratur andererseits im jeweiligen Literaturverzeichnis zu trennen. Sehr weit kommt diesem Anspruch der Beitrag von Charlotte Rungius zum Stand und zur Entwicklung der transatlantischen Beziehungen am Beispiel von TTIP entgegen, sie stellt die Materialien, die sie zur Beantwortung ihrer Forschungsfrage herangezogen hat, sowie ihre Kodierschritte sehr ausführlich dar. Etwas problematisch ist des Weiteren, dass das Verständnis der erkenntnistheoretischen und zum Teil auch methodischen Prämissen ein erhebliches wissenschaftstheoretisches Vorverständnis voraussetzt. Das dürfte die Lektüre dieser Abschnitte der Beiträge insbesondere für Studierende im Grundstudium einigermaßen schwierig machen.

Nach diesen kritischen Worten ist der gesamte Band in seiner Konzeption wie hinsichtlich der Einzelbeiträge freilich nur noch zu loben. Geleitet durch den US-amerikanischen Pragmatismus ist das Verstehen der Beweggründe, der handlungsleitenden Überzeugungen außenpolitischer Akteure in Deutschland, sowie der daraus erwachsenden Handlungsregeln das zentrale Ziel der jeweiligen Beiträge. Diese befassen sich inhaltlich mit außenpolitisch relevanten Themen der jüngeren Vergangenheit – Stabilitätspolitik der Bundesregierung in der Eurokrise (Moritz Laurer / Timo Seidl), der ISAF-Einsatz in Afghanistan (Fabian Peltzer) – beziehungsweise mit grundsätzlichen Fragen: Afrikapolitik (Florian Andreas Hanslik), Entwicklungspolitik (Hannes Herrmann / Moritz Hillebrecht / Tobias Lehmann), Strategie gegenüber den BRICS-Staaten (Fabian Mehring), Menschenrechtspolitik (Markus Drews).

Die Zielsetzungen der Aufsätze sind überzeugend begründet, die Forschungsfragen werden in den jeweiligen Forschungskontext eingebettet, und auch sprachlich bewegen sich die Beiträge auf hohem, zugleich aber weitgehend gut lesbarem Niveau. Die Bedeutung mancher vor zwei oder drei Jahren formulierter Aussagen wird heute, vor dem Hintergrund der Regierung Trump, noch verstärkt, etwa wenn Charlotte Rungius festhält, Deutschland sehe sich nunmehr aufgrund der empfundenen Entbundenheit von den USA zur „Fortsetzung des ehemals US-geführten Projekts des Westens“ (52) verpflichtet. Positiv ist auch zu vermerken, dass die Autor*innen jeweils bewusst und dezidiert zu den Ergebnissen ihrer Handlungs- und Wahrnehmungsrekonstruktionen Stellung nehmen, etwa wenn Laurer und Seidl angesichts der Eurokrise vor den Folgen einer zu starken Responsivität der Bundesregierung gegenüber ökonomischen Interessen für die sozialen Grundlagen inklusiver Demokratie warnen. Insgesamt bietet dieser Sammelband also für fortgeschrittene Studierende einen interessanten Einstieg in Anwendungen der Grounded Theory und stellt zugleich einen informierten Überblick über den Stand der Forschung in ausgewählten Themenfeldern der Foreign Policy Analysis dar, sodass die Lektüre sehr zu empfehlen ist.

 

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