Hans-Georg Ehrhart (Hrsg.): Krieg im 21. Jahrhundert. Konzepte, Akteure, Herausforderungen
02.08.2017Das Ende des Ersten Weltkrieges, auch der Große Krieg genannt, wird sich 2018 zum hundertsten Mal jähren. Für Herfried Münkler ist er „der Brutkasten, in dem fast alle Technologien, Strategien und Ideologien entwickelt wurden, die sich seitdem im Arsenal politischer Akteure befinden“ (7). Im Blickpunkt dieses von Hans-Georg Ehrhart edierten Sammelbandes stehen der Wandel von Kriegen und der Kriegsführung. Krieg zu verstehen soll helfen, ihn zu vermeiden, wie der Herausgeber in der Einleitung ausführt.
Krieg im 21. Jahrhundert ist komplexer, volatiler, gesellschaftszentrierter und informationsintensiver geworden. Akteure finden sich auf zwischenstaatlicher, innerstaatlicher und substaatlicher Ebene und können nicht mehr nach ihren Kapazitäten, sondern nach ihrem politischen Status klassifiziert werden. Eine allgemeingültige Definition des Krieges fehlt und der Begriff ist folglich völkerrechtlich bedeutungslos geworden. Stattdessen verwenden moderne Interventionisten gerne die Termini internationaler bewaffneter Konflikt beziehungsweise nicht-internationaler bewaffneter Konflikt.
Diese Euphemisierung finde sich vor allem in den Ländern des globalen Nordens ergänzt durch die Begriffe Friedensmission oder humanitäre Mission. Der Irakkrieg 1990/91 könne als erster „Krieg eines neuen Zeitalters“ (12) verstanden werden, in dem der Gegner aus der Distanz mit möglichst geringer Gefahr für die eigenen Truppen bekämpft worden sei. In den Balkankriegen seien dann „globalisierungsbedingte veränderte internationale Kontexte, die abnehmende Rolle des Staates als einzig legitimer Akteur der Kriegführung und das Erstarken innerstaatlich und transnational agierender nichtstaatlicher Akteure“ (13) besonders deutlich geworden.
Im Konflikt substaatlicher Gruppen mit großen Militärbündnissen gehe es auch nicht mehr darum, den Gegner zu besiegen, sondern seinen politischen Willen zu zersetzen – eine vierte Generation der Kriegsführung. Der „Risikoumverteilungskrieg“ sei heute „typisch [...] für spät- oder postmoderne Risikogesellschaften, die (Kriegs-) Risiken eher managen als Schlachten schlagen“ (15).
Ehrhart entwickelt den Begriff der postmodernen Kriegsführung der Staaten des globalen Nordens anhand von Kriterien wie der starken Nutzung des Informationsraumes, der vernetzten Aktivitäten sowie der indirekten und verdeckten Vorgehensweisen und Nutzung neuester Technologien. Zugleich vermischen sich Formen irregulärer Kriegsführung mit traditionellen Kriegsformen zu einer neuen Grauzone zwischen Krieg und Frieden. Obwohl dieser risikoaverse Krieg des globalen Nordens kriegerische Gewalt eindämmen solle, entstünden so wiederum neue Risiken (Terrorismus), sodass auch über die Eindämmung dieser Kriegsform nachgedacht werden müsse.
Auch Max M. Mutschler beschäftigen die neuen Formen der Kriegsaustragung, die er – in Anlehnung an den Begriff der „flüchtigen Moderne“ (56) – „flüchtige Kriegsführung“ (57) nennt. Seiner Ansicht nach verwenden die intervenierenden Staaten dabei Guerilla-Taktiken (hit and run) und damit eben keine Taktik, die man per se von modernen hochgerüsteten Armeen des globalen Nordens erwarten würde. Da dieser flüchtige Krieg auch von ärmeren Ländern und durch substaatliche Gruppen geführt werden könne, befürchtet auch er ein Verschwimmen der Grenzen zwischen Krieg und Frieden.
Dass es bereits an einer trennscharfen Definition des Kriegsbegriffes mangelt, macht auch Felix Wassermann in seinem Aufsatz deutlich, in dem er sich kritisch mit dem Begriff der hybriden Kriegsführung auseinandersetzt. Bei dieser Form würden die Grenzen noch weiter verwässert und damit die bisherigen europäischen Kriegserfahrungen sowie die akademische Befassung mit dem Thema Krieg nur noch bedingt greifen. Er fordert eine nähere Beschäftigung, um die „Chimäre“ (84) des hybriden Krieges greifen und analysieren zu können. Bernhard Koch bleibt beim Thema hybrider Krieg und fragt nach dessen ethischer Rechtfertigung. Er stellt die „revisionistische Theorie des gerechten Krieges“ (94) vor, die entsprechend den gegebenen Realitäten nicht mehr zwingend zwischen Militärs und Zivilisten unterscheidet, seiner Ansicht nach aber „dem Menschen [...] als friedenssehnsüchtiges Wesen nicht ganz gerecht wird“ (113).
Key-young Son, Andreas Herberg-Rothe und Miriam Förstle beleuchten das Konzept der order wars, also der Kriege, die zur Durchsetzung bestimmter weltanschaulicher und/oder ordnungspolitischer Vorstellungen geführt werden. Dabei sei der „Aufstieg der Anderen [...] unaufhaltsam – unsere Aufgabe besteht darin, in ihm Anerkennungsformen zu finden, die den zivilisatorischen Anteil von Islam, Buddhismus, Konfuzianismus und Hinduismus in den Vordergrund rücken“ (137).
Martin Kahl nimmt die Akteure in den Blick und sieht im Begriff War on Terror eine Form der strategischen Kommunikation, „die die Grenzen zwischen Terrorismus und Krieg verwischt, um in einer Krisensituation die Deutungshoheit zu gewinnen, institutionelle Zwänge zu umgehen und für sich nach innen und außen neue Handlungsoptionen zu eröffnen“ (231). Beim Vergleich der Bush- mit der Obama-Administration kommt er zu dem Ergebnis, dass weder der Versuch eines umfassenden Nation Building noch die Strategie der begrenzten Militärschläge zur Schwächung terroristischer Gruppen tatsächlich von Erfolg gekrönt waren – dennoch würde Letztere weiter als Lösungsweg propagiert. Am Beispiel der russischen Intervention in der Ukraine kommt Johann Schmid zu dem Schluss, dass der Krieg als Mittel des politischen Konfliktaustrages auch in Europa zurückgekehrt ist. Der hybride Krieg weise lediglich eine „ganzheitliche, ebenenübergreifende Orchestrierung unterschiedlicher ziviler wie militärischer Konzepte, Mittel und Methoden, die in einer unkonventionellen, nicht-linearen und gleichzeitig skalierbaren Art und Weise miteinander kombiniert werden“ (141), auf. Hierauf müssten sich Landstreitkräfte im 21. Jahrhundert einstellen.
Tobias von Lossow untersucht die Nutzung von Wasser als Waffe durch den sogenannten Islamischen Staat. Dazu zählt die Versorgung mit beziehungsweise die Vorenthaltung von Wasser, die Nutzung von Wasser für militärische Operationen, aber auch die Planung von globalen Anschlägen auf Wasserreservoirs.
Stephan Hensell und Klaus Schlichte plädieren dafür, die Betrachtung der internationalen Politik bewaffneter Gruppen aus ihrem Schattendasein in der politikwissenschaftlichen Analyse zu holen. So ließen sich diese Gruppen häufig nicht per se auf deren Gewaltaktionen reduzieren und seien mithin wichtige Akteure der internationalen Politik. Ihre These untermauern sie anhand der historischen Beispiele von Dekolonisations-, sozialrevolutionären und Sezessionskriegen.
Ulrich Schneckener betrachtet Milizen und deren Status zwischen Staat und Zivilgesellschaft. Nach einer historischen Betrachtung verschiedener Milizen gelangt er zu dem Schluss, dass diese häufig ambivalent agieren und sich die Ziele, die bei ihrer Gründung angegeben werden, oftmals auch ins Gegenteil verkehren können.
Im dritten Teil des Sammelbandes beleuchtet Michael Brzoska den Einfluss des sich verändernden Kriegs auf die Frage der Kriegsethik. Der Normenwandel habe vor allem zu einer stärkeren Politisierung des Kriegs und einer höheren Bedeutung der Schaffung von Feindbildern geführt. Ganz in die Zukunft gerichtet ist Marcel Dickows Beitrag, der sich mit dem Einfluss der Robotik auf den Krieg der Zukunft befasst. Die zunehmende Nutzung von Robotern als Soldaten in den Ländern des globalen Nordens werde auf absehbare Zeit auch zu einer zunehmenden Automatisierung von Entscheidungen führen. Der Beitrag vermittelt höchst interessante Einblicke in den gegenwärtigen Stand der Technik sowie laufende Forschungen. Der Cyberraum steht im Mittelpunkt der Arbeit von Roland Kaestner. Eine militärische Nutzung sei zwar kosteneffizient, bedürfe aber langer Vorbereitung und beinhalte ein hohes Eskalationsrisiko. Im letzten Beitrag widmet sich Dirk Freudenberg den Herausforderungen des Bevölkerungsschutzes bei einem hybriden Krieg. Aufgrund des hohen technologischen Standes westlicher Industrienationen sei diese in besonderem Maße verwundbar und EU sowie NATO gefordert, diese Verwendbarkeit bei der Planung von Resilienz und Abschreckungsmaßnahmen ins Zentrum ihrer Überlegungen zu rücken.