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Michael Bröning / Christoph P. Mohr (Hrsg.): Flucht, Migration und die Linke in Europa. Problemanalysen und politische Trends

30.11.2017
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Autorenprofil
Alexandra Neumann, M.A.
Bonn, Dietz Verlag 2017

Die „Gretchenfrage der Migration“ (11) stellt sich spätestens seit 2015 überall in Europa: Sollen die Parteien sich zu „gesellschaftlicher Offenheit“ oder der „stärkeren Reduzierung und Regulierung von Migration“ bekennen? Eine Antwort auf diese Frage wird „mittlerweile als ideologisch richtungsweisende Grundsatzentscheidung wahrgenommen“ (9). Vor allem Parteien des linken Spektrums stehen dabei vor der schwierigen Aufgabe, ihre migrationspolitischen Standpunkte mit moralischen sowie wirtschafts- und sozialpolitischen Zielen in Einklang zu bringen. Den Positionen, Konflikten und Spannungen in diesen Parteien ist der Sammelband gewidmet.

Die Herausgeber Michael Bröning und Christoph P. Mohr sind für das Referat Internationale Politikanalyse der Friedrich-Ebert-Stiftung tätig und haben das Werk gemeinsam mit den europäischen Auslandsbüros der Stiftung zusammengestellt. Die Autor*innen fragen darin unter anderem: Wie haben Parteien des linken Spektrums in Europa ihre Positionen in der Migrationspolitik bisher ausgehandelt? Und: Welchen Einfluss haben „Parteiöffentlichkeit, die Medien, die (ver)öffentliche Meinung und taktische beziehungsweise strategische Überlegungen“ (13)?

Im ersten Teil wird eine Bestandsaufnahme nationaler Migrationspolitiken in zwölf europäischen Ländern vorgenommen. Mit den Länderstudien wollen die Herausgeber keine „akademisch-vollständige Abhandlung historischer Entwicklungen“ leisten. Vielmehr möchten Bröning und Mohr „ein möglichst breites Spektrum europäischer Erfahrungen aus allen Teilen des Kontinents“ abdecken und damit „das seismografische Nachzeichnen von politischen Trends, Problemanalysen und dem Ringen um Antworten, mit besonderem Augenmerk auf zentralen politischen Akteuren des jeweiligen Landes“ (14) ermöglichen.

Diese „ethnografische[.] Tour d’Horizon“ (17) umfasst mehr als zwei Drittel des Buches. Die Autor*innen der Länderstudien sind Politolog*innen, die sich in Forschungseinrichtungen oder Politikredaktionen nationaler Medien mit der Einwanderungspolitik beschäftigen. Sie gehen in ihren Analysen stets von der Frage aus, welchen Einfluss das Thema Migration auf die zurückliegenden Wahlen im jeweiligen Land hatte. Im Gegensatz zu Ländern mit gewachsenen heterogenen Bevölkerungen, in denen die Einwanderungspolitik seit Längerem debattiert wird (Großbritannien, Niederlande, Frankreich), hat die Migrationspolitik in Ländern wie Ungarn, Polen oder der Slowakei erst mit den Fluchtbewegungen des Jahres 2015 an Bedeutung gewonnen. Dort avancierte das Politikfeld schließlich ebenfalls zum wichtigsten Wahlkampfthema. Die Übersicht ist gelungen. Kritisch anzumerken ist jedoch, dass in mehreren Beiträgen nur wenige Nachweise über die genutzte Literatur erbracht werden.

Durch die Analyse von Medienberichten und Meinungsumfragen bieten die Aufsätze auch Stimmungsbilder von den Bevölkerungen der Länder. In allen untersuchten Fällen zeigt sich, dass die Themen Migration, Integration und Asyl „immer auch identitäre Schlüsselfragen“ berühren. Nachweislich beeinflussen Debatten über das „Verständnis von Nation, das Verhältnis zur Heimat und zu globalen Verantwortlichkeiten“ (11) die Parteipositionierungen. Auf diese Fragen lieferten in den vergangenen Jahren vor allem rechtspopulistische Parteien eindeutige Antworten, sozialdemokratische und linke Parteien hingegen entwickelten keine konsequente Linie.

Dieser Befund gilt für alle Länder, trotz landesspezifischer Ausgangsbedingungen und Erklärungsfaktoren. So bedienten sich linke Parteien in den Debatten entweder wie in Österreich der „Politik des ‚Durchmogelns‘“ (Oliver Gruber, 103), änderten wie in Großbritannien zu häufig ihre Strategie (Beitrag von Phoebe Griffith) oder vertraten schlicht keine Position in der Migrationspolitik, wie Michael Braun mit Blick auf Italien schreibt. Die teils beträchtlichen Meinungsunterschiede und Konflikte der linken Parteien in Europa werden grundsätzlich auf das progressive Dilemma zurückgeführt, das darin besteht, dass linke Parteien „Migration und Diversität der Gesellschaft mit Solidarität zum Erhalt des Sozialstaats“ (90) vereinbaren müssen.

Im zweiten Teil des Werkes werden in elf Meinungsbeiträgen die Befunde aus den Landesporträts dezidiert aus einer politischen Perspektive links der Mitte eingeordnet. Die Kommentator*innen vertreten teils konträre Positionen, wodurch das oben beschriebene progressive Dilemma der linken Parteien in Europa unterstrichen wird. So konstatiert René Cuperus am Beispiel der Niederlande, dass der – moralisch nachvollziehbare – Kampf vieler linkspolitischer Akteure gegen Rassismus und Vorurteile letztlich dazu führe, dass „viele von ihnen die Realität der Probleme und des sozialen Leids“ (285) der Wähler*innen unterschätzten. Ähnlich argumentiert Wolfgang Merkel, der das Erstarken rechtspopulistischer Kräfte in Europa als Folge der „Kosmopolitismusfalle“ (310) der Linken begreift.

Andere Meinungsbeiträge blicken positiver auf die Zukunft linkspolitischer Parteien. Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Aydan Özoğuz, erkennt zwar die Schwierigkeiten der linken Parteien in Deutschland an, verweist aber auf „hinreichend große inhaltliche Schnittmengen, die substanzielle Fortschritte ermöglichen sollten“ (343). Ähnlich argumentiert Dietmar Molthagen, der Kontroversen innerhalb der SPD als Zeichen „für die Lebendigkeit einer politischen Partei [sieht], die angesichts komplexer Herausforderungen um gute Lösungen ringt“ (324). Im Gegensatz dazu kritisiert die Publizistin Sheila Mysorekar, die Parteien der linken Mitte hätten die „linke Idee verraten“ (333), indem sie (rhetorisch) „dem rechten Rand hinterherrennen“ (335).

Der Titel des Buches ließe auch einen Beitrag erwarten, der (Un-)Einigkeit und Konflikte in der Migrations-, Integrations- und Asylpolitik innerhalb der europäischen linken und sozialdemokratischen Parteien untersucht (beispielsweise SDE oder EL). Eine solche Analyse fehlt jedoch, obwohl die Herausgeber eingangs erwähnen, dass die vielschichtige Debatte nicht nur national, sondern auch im europäischen Rahmen ausgetragen werde.

Außerdem ist kritisch anzumerken, dass die Autor*innen keine konsequente Unterscheidung zwischen Migrations-, Integrations- und Asylpolitik vornehmen. Die Adressat*innen dieser Politikfelder können zwar deckungsgleich sein und Migrationspolitik sollte als „Querschnittsaufgabe“ (258) verstanden werden. Dennoch haben nationale und europäische Akteure je nach Politikfeld unterschiedliche Gestaltungskompetenzen. Um Grenzen und Spielräume nationalen Handelns in Europa analysieren zu können, wäre eine Differenzierung der Politikfelder wünschenswert.

Eine Lösung für das progressive Dilemma der Linken bietet der Sammelband nicht. Das Werk belegt gleichwohl mit facettenreichen und differenzierten Analysen von fachkundigen Autor*innen „die Sprengkraft des Themas gerade für europäische politische Bewegungen links der Mitte“ (19). Die Zusammenstellung der Aufsätze zeigt zweifellos ein breites Meinungsspektrum auf und liefert so in der Tat „ein kontroverses wie realistisches Abbild des aktuellen Debattenstandes der deutschen und europäischen linken Mitte“ (18 f.).

 

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Rezension

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Werner Schiffauer, Anne Eilert, Marlene Rudloff (Hrsg.)
So schaffen wir das – eine Zivilgesellschaft im Aufbruch. 90 wegweisende Projekte mit Geflüchteten

Im Zuge der großen Flüchtlingsbewegung sind zwischen 2015 und 2016 rund 15.000 zivilgesellschaftliche Projekte entstanden. Bedeuten diese eine Neubelebung, gar Neuerfindung der deutschen Zivilgesellschaft? Die Herausgeber*innen sehen darin eine politische Bewegung. Ihre Beobachtung gründen sie auf die Auswertung der im Buch vorgestellten 90 Projekte mit Geflüchteten. Der Weg vom selbstlosen Engagement zu einer politischen Bewegung ergibt sich allerdings nicht zwangsläufig, sondern, so Werner Schiffauer, erfordere auf lange Sicht ein übergreifendes Selbstverständnis und ein überregionales Profil.
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