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Christopher Daase / Julian Junk / Stefan Kroll / Valentin Rauer (Hrsg.): Politik und Verantwortung. Analysen zum Wandel politischer Entscheidungs- und Rechtfertigungspraktiken

12.12.2018
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Autorenprofil
Günter Lipfert
Baden-Baden, Nomos 2017 (PVS Sonderheft 52)

Seit Hans Jonas der Verantwortung 1979 ein eigenes Buch gewidmet hat, erfreut sich dieser Begriff einer steigenden Popularität in Debatten der Angewandten Ethik. Die Herausgeber wiederum stellen in ihrer Einleitung zu dieser politikwissenschaftlichen Publikation fest, dass „Verantwortung“, besonders seitens politischer Akteure, selten ins Zentrum der Analysen gestellt werde. Vergleichsweise selten würden Gegenstand und Umfang des jeweiligen Verantwortungskonzeptes und jeweils damit verbundene strategische Ziele untersucht. Dennoch habe der Begriff seit den 1990er-Jahren enorme Konjunktur in politischen Debatten. Die Zuschreibungen von Verantwortlichkeit, ebenso die Anzahl verantwortlicher staatlicher sowie nicht-staatlicher Akteure in der Politik seien gestiegen und die Regeln und Verfahren der Verantwortungszuschreibung hätten sich verfestigt. Diese Entwicklung werde begleitet von einer Verdichtung nationaler, internationaler und transnationaler Regulierungspraktiken. Es sei keine neue Beobachtung, dass die Gegenstände, für die politische Akteure verantwortlich sein mögen, häufig sehr unspezifisch seien. Hierin werde eine Krise der Verantwortung sichtbar. Diese ereigne sich nicht trotz, sondern wegen der Ausbreitung der Verantwortung.

Ziel dieses PVS-Sonderheftes sei es, das bisher vor allem in ethischen und philosophischen Debatten und in der Sozialpsychologie beschriebene Konzept der Verantwortungsdiffusion für das Feld politischer Handlungszusammenhänge zu diskutieren. Die Autor*innen versprechen sich davon die Grundlage für eine weitergehende empirische Analyse damit einhergehender Phänomene. Mit Nachdruck legen sie den Fokus auf politische Handlungszusammenhänge. Diesem Anliegen entsprechend wird in den Beiträgen untersucht, wie in der Politik die Akteure, die Gegenstände und die normativen Voraussetzungen der Verantwortung konstruiert und angewendet werden. Zudem wird der Frage nachgegangen, wie Verantwortung selbst als Instrument in politischen Auseinandersetzungen Verwendung findet.

Im ersten Teil werden überfachliche theoretische und konzeptionelle Überlegungen vorgestellt. Frieder Vogelmann („Souveräne schaffen und beschränken. Vorarbeiten zu einer Genealogie des Begriffs politischer Verantwortung“) untersucht, wie der Begriff der politischen Verantwortung entstanden ist und sich gewandelt hat. Im Beitrag von Cord Schmelzle („Staatlichkeit und Verantwortung zweiter Ordnung“) wird angesichts von Globalisierung und Denationalisierung die Organisation der politischen Welt in Staaten hinterfragt. Schmelzle entwickelt ein Verständnis von Staatlichkeit, in dem Staaten Träger von Verantwortung zweiter Ordnung sind (Metaverantwortung, Letztverantwortung). Mit der Zuschreibung moralischer Verantwortung an „Moral-unwissende historische Akteure“ befasst sich Michael Schefczyk („Vergangenes Unrecht und moralische Unwissenheit“). Christian Neuhäuser („Kollektive Verantwortung als politischer Begriff in der Debatte über historisches Unrecht“) arbeitet heraus, dass der Verantwortungsbegriff in Auseinandersetzung mit der Frage der Verantwortung für historisches Unrecht wesentlich politischen Charakter besitzt. In ihrem Beitrag „Verantwortung als Irritation: Ethische Überlegungen“ stellt Regina Ammicht Quinn fest, dass der Sinn eines Verantwortungsbegriffs aktuell strittig ist, und fragt nach Form und Wirkung moralischer Verantwortung.

Im Anschluss sind die Beiträge der Beschreibung und Analyse der Verwendung von Verantwortungskonzepten in diversen politischen Handlungszusammenhängen gewidmet. Empirisch geschieht dies in Sektion II zur nationalen Ebene, etwa im Beitrag von Wolfgang Seibel („Hybride Arrangement und das Verantwortungsproblem in der öffentlichen Verwaltung“), der fallbasiert am Beispiel des sogenanntes Loveparade-Desasters schlussfolgert, dass nicht die gesteigerte strukturelle Komplexität die eigentliche Herausforderung darstelle. Vielmehr seien es Anreize zur Missachtung bekannter Standardrisiken, die zu Fehlleistungen und Organisationsversagen mit drastischen Folgen führten – selbst dann, wenn sie klar zu erkennen seien und gesetzliche Normen ein Risikomanagement vereinfachten.

Verantwortung auf internationaler und kosmopolitischer Ebene betrachtend versuchen die Autor*innen in den Beiträgen der Sektion III, die Verantwortung auf der Ebene der Staaten zu lokalisieren. Dabei geht es auch um die Konjunktur des Begriffs in den Vereinten Nationen. Zum Beispiel fragt Monika Heupel anhand der Folter und Massenüberwachung von Ausländern in „Umkämpfte Verantwortungszuschreibung: Extraterritoriale Menschenrechtsverletzungen der USA in der Terrorismusbekämpfung“ danach, wie es um die Verantwortung von Staaten für Menschenrechtsverletzungen außerhalb ihrer Territorien und gegenüber Ausländern bestellt ist. Ihre „Antwort“: Die Zuschreibung von Verantwortung in diesem Bereich sei umkämpft. Zur Distanzierung von derartiger Verantwortung seien Staaten im Falle äußerer Schocks bereit. Dennoch scheine sich die generelle Norm herauszubilden, dass Staaten auch für den Schutz außerhalb ihrer Territorien Verantwortung zu übernehmen hätten. Völkerrechtler stritten darüber, was diese Pflichten ausmache.

In den Beiträgen der Sektion IV wird die Zuschreibung der Verantwortung auf nicht-staatliche Akteure aufgegriffen, so auch von Antje Vetterlein. Sie reflektiert in vier Fällen Möglichkeiten und Grenzen sozialer Verantwortung von Unternehmen: Wie geht man mit dem Problem um, dass Verantwortung nicht eindeutig zugeschrieben werden kann oder Akteure sie nicht übernehmen? Wie schafft man Anreize zur Verantwortungsübernahme? Inwiefern haben sich die Wertvorstellungen von Managern verändert? Wie legitim ist überhaupt soziales Engagement seitens Unternehmen?

In der letzten Sektion befassen sich die Autoren Valentin Rauer („Distribuierte Handlungsträgerschaft. Verantwortungsdiffusion als Problem der Digitalisierung sozialen Handelns“) und Leon Hempel („Verantwortungspolitiken im Kontext von IT-Sicherheit: Verantwortungszuschreibung als Kontingenzverschiebung“) mit der digitalen Herausforderung der Verantwortung und greifen erneut die Frage der Verantwortungsdiffusion auf.


Querverweis

In seiner Einführung zur Politischen Ethik maß Peter Fischer 2006 „Verantwortung“ den Status eines Schlüsselbegriffes in der Angewandten Ethik, der auch der Politischen Ethik zuzurechnen sei, zu. Er sah Verantwortung besonders unter dem Aspekt der Zurechnung. Auch Fischer stellte schon eine Krise der Verantwortung im Hinblick auf die Reichweite menschlichen Handelns fest. Jedoch reicht seine einführende Betrachtung nicht an jene Vielschichtigkeit heran, wie sie den Leser*innen in diesem Band unterbreitet wird. Die Beiträge bieten Impulse zum Weiterdenken in alle Richtungen. Was lediglich fehlt, ist die Reflexion einer möglichen didaktischen Thematisierung etwa in schulischem Unterricht.

Literatur

Fischer, Peter: Politische Ethik. Eine Einführung, Wilhelm Fink Verlag, München 2006.

 

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