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Heinz-Gerhard Justenhoven (Hrsg.): Kampf um die Ukraine. Ringen um Selbstbestimmung und geopolitische Interessen

20.03.2019
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Autorenprofil
Wilhelm Johann Siemers, Dipl.-Politologe
Baden-Baden, Nomos Verlag 2018 (Studien zur Friedensethik 61)

Zwar geben die meisten Beiträge dieses Sammelbandes den Sachstand von Anfang 2017 wieder, sind also nicht ganz aktuell, aber die drei Dimensionen der Krise um die Ukraine werden sehr gut zusammengefasst: Bei den Protesten auf dem Maidan 2013/14, dem Krieg in der Ostukraine und der russischen Annexion der Halbinsel Krim geht es um die geopolitischen Interessen Russlands und des Westens, die politische Selbstbestimmung der Ukraine und um die Zukunft der europäischen Sicherheitsordnung. Momentan deutet vieles darauf hin, dass der Konflikt in der Ukraine dauerhaft ungelöst bleibt. Dem Herausgeber geht es darum, den „politisch-ethischen Kern des Kampfes um die Ukraine“ (13) zu erfassen und auf diese Weise mögliche Lösungswege auszuloten.

Hoffen auf eine milde Variante des ungelösten Konflikts

Auch für Wolfgang Zellner von der Universität Hamburg ist der Krieg in der Ostukraine und die annektierte Krim ein dauerhaft ungelöster Konflikt – vergleichbar mit den Auseinandersetzungen in Transnistrien, Abchasien, Südossetien und Berg-Karabach. Wie sich dieser gemessen an der Bevölkerung und dem Territorium größte Konflikt Europas mit rund 13.000 Todesopfern weiter entwickelt, hänge von der Stärke der gegenseitigen Ressentiments ab. In Moldau/Transnistrien sei es seit den 1990er-Jahren friedlich. Die Grenze sei durchlässig und die Bevölkerung stehe im Dialog. Ganz anders sei die Situation in Berg-Karabach: Dort gebe es keinerlei Kontakt zwischen den Bewohnern der Region und die Beziehungen seien von Hass geprägt. Deshalb plädiert Zellner für die Ukraine, „eine möglichst milde Variante eines ungelösten Konflikts zu erreichen, mit Kontakt zwischen den Bevölkerungen, wirtschaftlicher Verflechtung und geringem militärischen Eskalationspotential“ (179).

 

Massive Völkerrechtsverstöße

Stefan Oeter, Mitglied des Ständigen Schiedshofs in Den Haag, sieht in der Annexion der Krim durch Russland und im russischen Einfluss auf den Krieg in der Ostukraine einen massiven Verstoß gegen das Völkerrecht und das Gewaltverbot. Die russische Argumentation, auch die USA und ihre Verbündeten hätten beim Angriff auf Serbien 1999 und die Invasion im Irak 2003 gegen das Völkerrecht verstoßen, lässt Oeter nicht gelten. Er unterscheidet zwischen punktuellem „Handlungsunrecht“ (193) und dauerhaftem „Zustandsunrecht“ (193). Die Annexion der Krim sei ein klarer Rechtsbruch: „Russland schuf vielmehr im Gefolge der völkerrechtswidrigen militärischen Intervention vollendete Tatsachen, in Form einer auf Dauer angelegten Annexion des gewaltsam abgetrennten Gebietes.“ (193) Für ihn ist der Hinweis Russlands auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker und das daraus abgeleitete Sezessionsrecht im Fall der Krim nicht gegeben und sei nur in einer Notsituation eines Genozids gerechtfertigt. „Ein solches allgemeines Sezessionsrecht aller ‚Völker‘, die mit ihrem Status unzufrieden sind, wird nur von einer kleinen Minderheit der Völkerrechtslehre tatsächlich angenommen.“ (208)

Ebenso begehe Russland in der Ostukraine Unrecht. „Im Völkerrecht nahezu unbestritten ist, dass die Unterstützung von Aufständischen mit Waffen, militärischem Gerät, Versorgungsgütern, aber auch Militärberatern einen Verstoß gegen das Interventionsrecht darstellt.“ (201) Aber nicht allein Russland verhindere eine Lösung des Konflikts. Auch die Ukraine müsse, so Oeter, Maximalforderungen relativieren. „Aus meiner Sicht der zentrale Stolperstein einer inneren Befriedung der Ukraine, der Punkt, an dem bis heute kein Grundkonsens zu finden ist, ist die Vision der Ukraine als eines unitarischen Nationalstaates.“ (223)

 

Bisherige Russlandpolitik gescheitert

Nach Meinung von Jana Puglierin von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik habe die Annexion der Krim und der ostukrainische Krieg die europäische Sicherheitsordnung erschüttert. Russland habe den Kern der internationalen Sicherheit wie das Prinzip der staatlichen Souveränität, das des Gewaltverbots und der Unverletzbarkeit der Grenzen infrage gestellt. Für die Europäische Union (EU) und das Atlantische Bündnis (NATO) sei das ernüchternd: „Ihre bisherige Russlandpolitik, basierend auf der Idee von Partnerschaft und gemeinsamen Regeln, ist gescheitert.“ (182) Bei Präsident Wladimir Putin habe sich die Sicht durchgesetzt, dass sich Russland einer von EU und NATO dominierten europäischen Ordnung unterordnen solle, ohne diese selbst beeinflussen und als Vetomacht Regeln setzen zu können. Das sei für das Land nicht erstrebenswert, stattdessen setze er auf eine andere Strategie. „Während Russland heute in das Europa von 1917 oder das nach 1945 zurückkehren will, als Einflusssphären legitime Schlüsselbedingungen für ein funktionierendes und stabiles Miteinander der europäischen Staaten waren, möchte der Rest Europas nicht wieder hinter die 1990er-Jahre zurückfallen.“ (185) Russland und der Westen haben keine gemeinsame Vision einer transatlantischen und europäischen Friedensordnung. Diese neue Situation, so Puglierin, sei gefährlich. „Anders als im Kalten Krieg gibt es heute keine funktionierende Rüstungskontrolle und keine gängige Praxis gegenseitiger Konsultationen zum Zwecke militärischer Transparenz.“ (188)

 

Russische Wahrnehmung der europäischen Sicherheitsordnung

Um einen Ausweg aus der Krise zu finden, sollten sich die NATO und die EU stärker für die russische Wahrnehmung sensibilisieren, so Vladislav Belov von der Russischen Akademie der Wissenschaft. Russische Initiativen, die OSZE als euro-atlantische und eurasische Sicherheitsgemeinschaft aufzuwerten, seien vom Westen konsequent vernachlässigt worden. Putin fühle sich durch die Osterweiterung von NATO und EU eingekreist und reagiere mit Konfrontation: „Seit der Rückkehr W. Putins auf den Präsidentenposten im Jahr 2012 nimmt Moskau einen klaren Kurs des aktiven Widerstands gegen die aus seiner Sicht internationale Hegemonie der USA und NATO.“ (82) In dieser Situation helfe nur Dialog: Belov zitiert die Worte der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, wonach dauerhafte Sicherheit in Europa nur mit und nicht ohne Russland möglich sei.

 

Russische und ukrainische Geschichtsnarrative

Dass die Auseinandersetzung zwischen Russland und der Ukraine nicht nur mit Waffen, sondern auch mit medialer Propaganda betrieben wird, zeigt die Auslegung der nationalen Geschichte. Es geht um die Frage, ob Russland oder die Ukraine ein historisches Recht auf bestimmte Territorien hat. Beide Staaten pflegten ein nationales Geschichtsnarrativ, so der Historiker Frank Golczewski. „Auf beiden Seiten, in der Ukraine wie in Russland, versteift man sich auf möglichst nationalistische Versionen der eigenen Geschichte […]. Das historische Narrativ wird dadurch zu einer Waffe in der ‚psychologischen Kriegsführung‘.“ (58) Dies lasse sich gut an der Kreation des ukrainischen Geschichtsnarrativs erkennen. So proklamierte der Lemberger Historiker Mychajlo Hruševśkyj (1866-1934) eine Trennung der russischen und ukrainischen Geschichte. Die Ukraine habe ihren Anfang im Kiewer Rus und in der Geschichte von Galizien-Wolhynien, während Russland durch die Fürstentümer Wladimir, Susdal und Moskau entstanden sei. Daraus leitet Hruševśkyj auch die nationalen Mentalitäten ab. „Als konstantes Element nahm man die ukrainische Freiheitsliebe an, die man bald auf der Grundlage der kosakischen Selbstbestimmung und eines ursprünglich freien Bauerntums mit Demokratie gleichsetzte, und einem aus der finnisch-tatarischen Tradition abgeleiteten moskowitischen ‚asiatischen‘ Despotismus, der zur Leibeigenschaft und der ‚Selbstherrschaft‘ der Zaren geführt habe“ (46). Eine exklusive und politisch motivierte Interpretation der Geschichte auf beiden Seiten habe den aktuellen Konflikt verschärft, so Golczewski.

 

Revolution der Würde

Der Beitrag von Maryana Hnyp von der Katholischen Universität Leuven argumentiert gerade mit der Exklusivität der ukrainischen Geschichte und Gesellschaft. Die Proteste auf dem Euromaidan 2013/14 seien eine Revolution der Würde sowie die Geburtsstunde einer neuen Zivilgesellschaft und einer neuen Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine gewesen. „The ‚Revolution of Dignity‘ gave rise to a new civil society which had been missing for many years in the post-Soviet countries.“ (20) Die übliche Vereinfachung der innerukrainischen Spannungen zwischen ukrainisch- und russischsprachiger Bevölkerung, zwischen Orthodoxen und Katholiken, zwischen proukrainischen und prorussischen Bürgern lehnt die Wissenschaftlerin ab. Was in der Ukraine passiere, sei nichts anderes als „a radical transformation from a post-colonial to a democratic political culture in the country.“ (32) Ob die Ukraine wirklich diesen Weg geht, werde auch die Präsidentschaftswahl am 31. März 2019 zeigen.

 

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Sammelrezension

Auf dem Weg zum „eingefrorenen Konflikt“? Aktuelle Beiträge zur Krise in der Ost-Ukraine

Der Versuch des Westens, die Sicherheitsordnung, die nach dem Ende des Kalten Kriegs etabliert wurde, zu schützen und die gleichzeitige Absicht Russlands, die eigene Macht im postsowjetischen Raum wiederauszudehnen, stehen im Mittelpunkt zweier Bände. Dabei spielt die Position der Ukraine in „Russia's Border Wars and Frozen Conflicts“, geschrieben von James J. Coyle, und in „Der Ukraine-Konflikt, Russland und die europäische Sicherheitsordnung“, herausgegeben von Michael Staack, praktisch keine Rolle – obwohl das Land in seinem Ostteil mit einem Krieg als Manifestation dieser gegensätzlichen Ziele konfrontiert ist.

zur Sammelrezension

 

 


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Veranstaltungshinweis


Wohin steuert die Ukraine?
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