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Kristina Spohr: Wendezeit. Die Neuordnung der Welt nach 1989

10.12.2019
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Autorenprofil
Dr. Michael Kolkmann
München, DVA 2019

Dreißig Jahre nach der Revolution in Mittel- und Osteuropa erscheinen zahlreiche Publikationen zu den Ereignissen und Entwicklungen des Wendeherbstes 1989. Herauszuheben aus diesem literarischen Reigen ist das Buch „Wendezeit“ der Historikerin Kristina Spohr, das nicht nur eines der umfangreichsten Bücher zum Thema darstellt, sondern auch auf eine einzigartige Quellengrundlage zurückgreifen kann.

Die Autorin versucht nachzuzeichnen, welche politischen Akteure damals dafür gesorgt haben, dass dieser Prozess friedlich blieb und eine neue politische Ordnung errichtet werden konnte. Doch darüber hinaus fokussiert sie nicht nur auf die unmittelbaren Geschehnisse der Jahre 1989 und 1990, sondern bezieht auch die Grundlegung einer neuen internationalen politischen Ordnung zu Beginn der 1990er-Jahre mit ein. Die Geschichte von 1989/90 ist schon oft – und von vielen – erzählt worden. Für die Jahre 1991 und 1992 gilt dies in deutlich geringerem Maße. Das Buch untersucht daher die „Scharnierjahre“ (20) von 1989 bis 1992, genauer: „warum im Jahr 1989 eine dauerhafte und scheinbar stabile Weltordnung zusammenbrach, und [es] widmet sich dann der Frage, wie durch Improvisation eine neue Ordnung aus den Ruinen der alten geschaffen wurde“ (13).

Im Herbst 1989 schien alles im Fluss zu sein, wie Spohr, die die Helmut-Schmidt-Ehrenprofessur am Henry A. Kissinger Center for Global Affairs an der Johns Hopkins University in Washington, D.C innehat und auch an der London School of Economics lehrt, einleitend bemerkt: „Während der ‚Osten‘ große Anstrengungen unternahm, durch eine Transformation nach osteuropäischem Muster ‚aufzuholen‘, orientierte sich die ganze Welt, so hatte man den Eindruck, zunehmend an den amerikanischen Werten. Vom ‚Ende der Geschichte‘ war die Rede“ (13). An dieser Stelle schildert die Verfasserin zugleich ihre spezifische Herangehensweise an den Untersuchungsgegenstand: „Um zu verstehen, welche Wege eingeschlagen und welche Entscheidungen getroffen wurden, schaue ich den wichtigsten Staatslenkern über die Schulter und verfolge, wie sie die neuen Kräfte, die in ihrer Welt wirksam wurden, zu verstehen und zu kontrollieren suchten. Sie erkundeten eine Vielfalt oft widersprüchlicher Optionen bei ihren Bemühungen, die Ereignisse zu steuern, Stabilität zu gewährleisten und Krieg zu vermeiden. Da sie für die künftige Weltordnung weder Blaupausen noch gemeinsame Entwürfe besaßen, näherten sie sich der Herausforderung des radikalen Wandels mit relativer Vorsicht. Sie bauten auf die Prinzipien und Institutionen, die sich während des Kalten Krieges im Westen bewährt hatten, und passten jene den neuen Verhältnissen an. Dies war zweifellos eine diplomatische Revolution, die jedoch, vielleicht paradoxerweise, auf eine konservative Art durchgeführt wurde“ (13).

Es ist eine zentrale Annahme Spohrs, „dass das Europa nach dem Mauerfall, ja unsere Gegenwart, nur zu verstehen ist, wenn man auch berücksichtigt, was 1989 auf der anderen Seite der Welt geschah“ (14). Was das Buch von vielen Darstellungen der unmittelbaren Nachwendezeit unterscheidet, ist der Blick über die Ereignisse in Europa hinaus: Gleich im ersten Kapitel wird auf die damaligen Entwicklungen in der Sowjetunion und China eingegangen. Im Mittelpunkt steht zunächst Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow, der Reformen gewollt hatte, jedoch eine Revolution auslöste, „die alles hinwegfegen sollte, am Ende auch ihn selbst“ (25). Der andere zentrale Akteur in diesem Kapitel ist der chinesische Staatslenker Deng Xiaoping, der mit seinen Bemühungen den „Kommunismus neu [erfand] – mit Gewalt“ (83). Im Mittelpunkt der Schilderungen finden sich hier die Ereignisse auf dem Platz des himmlischen Friedens im Juni 1989.

Immer wieder wird in den Schilderungen Spohrs die Gleichzeitigkeit der Ereignisse deutlich: am gleichen Tag nämlich, als in Peking am 4. Juni 1989 die Panzer rollten, kam in Polen die oppositionelle Gewerkschaftsbewegung Solidarność an die Macht: „[I]n Osteuropa war also die Demokratie auf dem Vormarsch“ (91). Mit genau diesen Ereignissen des 4. Juni 1989 setzt dann das zweite Kapitel ein. Darin blickt Spohr nach Mittel- und Osteuropa, genauer: nach Polen und Ungarn und zeichnet die Umwälzungsprozesse in beiden Ländern detailliert und kenntnisreich nach. Sie verbindet politische mit wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aspekten. Häufig werden Rückbezüge auf externe Akteure wie die Staats- und Regierungschefs anderer Länder gezogen, etwa auch die Rolle der damaligen Europäischen Gemeinschaft (EG) mit einbezogen. Den Einfluss dieser Entwicklung für die Situation in der DDR berücksichtigt die Autorin ebenfalls – was sie im Anschluss vertieft, denn im dritten Kapitel spürt Spohr den konkreten Entwicklungen in Ostdeutschland nach. Ausführlich stellt sie die sich wandelnden Kräfteverhältnisse auf Seiten des Regimes sowie die neuen Akteure auf Seiten der Opposition vor (vgl. 188 ff.): „[I]n jenen Tagen löste sich die Vision von Revolution und Erneuerung in der DDR als glaubwürdiges politisches Projekt in Luft auf“ (199).

Stärker analytischen Charakter nimmt die Erzählung an, wenn Spohr anschließend untersucht, warum die Entwicklung in der DDR so grundlegend anders verlief als in Polen oder Ungarn (vgl. 200 ff.) Dieses Kapitel beginnt mit dem Polen-Besuch von Bundeskanzler Helmut Kohl – ausgerechnet in dem Moment, als in Berlin die Mauer fällt. War Kohl zunächst ein Getriebener der Ereignisse, der zudem logistische Schwierigkeiten hatte, schnellstmöglich nach Berlin zu kommen, so ergriff er mit der Vorstellung seines Zehn-Punkte-Plans im Deutschen Bundestag am 28. November 1989 die Initiative – ohne sich mit zentralen Akteuren seiner Koalition sowie den ausländischen Partnern abzustimmen (vgl. S. 218 ff.). Kohl hatte die Welt vor vollendete Tatsachen gestellt und die Tagesordnung bestimmt. Sowohl die unterschiedlichen Reaktionen als auch die grundsätzlichen Einstellungen zur deutschen Einheit auf Seiten der Sowjetunion, der Vereinigten Staaten, Frankreichs und Großbritanniens folgen auf den nächsten Seiten. An dieser Stelle wird für Spohr erstmals klar, „dass der Prozess der deutschen Wiedervereinigung und der der europäischen Integration miteinander verknüpft, aber dennoch unabhängig waren“ (220 f.)

Anschließend wird die Suche Deutschlands nach seinem Platz in der Welt erörtert (Kapitel vier), wobei es um eine „neue Architektur für eine neue Ära“ (US-Außenminister James Baker) geht. Im Mittelpunkt stehen der Zwei-Plus-Vier-Prozess, die Frage der Mitgliedschaft Deutschlands in der NATO, aber auch wiederkehrende Differenzen zwischen US-Präsident George H. W. Bush und James Baker finden ebenso Berücksichtigung wie teilweise unterschiedliche Vorstellungen zwischen Helmut Kohl und seinem Außenminister Hans-Dietrich Genscher.

Im Fokus von Kapitel fünf steht der Aufbau eines „freien und ganzen Europas“ (339). Der Blick verlagert sich auf die europäische Ebene, es geht um die Verabredung einer stärkeren Integration bis hin zur Einführung einer gemeinsamen Währung und die Errichtung einer Europäischen Zentralbank, alles zusammengefasst im Vertrag von Maastricht (vgl. 339 ff.): „[W]enn 1989 das Jahr des Hinwegfegens war, so muss 1990 das Jahr des Neuaufbaus werden“ (so Baker, 341). Messerscharf seziert Spohr die europapolitischen Vorstellungen der einzelnen EG-Mitglieder (346 ff.), souverän navigiert sie durch das Geflecht von Gipfeltreffen, Konferenzen und bilateralen Treffen. Anschließend erfolgt Ähnliches für die NATO und die KSZE, dabei kommt es auch zum Einbezug weiterer Akteure und ihrer jeweils einschlägigen Vorstellungen.

„Eine neue Weltordnung“ (423) steht im Mittelpunkt des sechsten Kapitels, denn dabei geht es, wie Bush, der dank des Golfkrieges quasi über Nacht von einem „Friedenspräsidenten“ zu einem „Kriegspräsidenten“ (446) geworden war, im Januar 1991 vor dem US-Kongress sagte, „nicht nur um ein kleines Land, es geht um eine große Idee: eine neue Weltordnung“ (424). Hier wird im Detail das Zusammenstellen einer Anti-Saddam-Koalition, die Verhandlungen mit den Anrainerstaaten Kuwaits sowie die Einbindung der Europäer und der UN beschrieben.

Wie das Buch begonnen hat, so endet es auch: mit den zwei Mächten Russland und China. Zunächst steht in Kapitel sieben („Russische Revolution“) mit Russland der größte Teilstaat der Sowjetunion im Mittelpunkt, ausgehend vom Putsch in Moskau im August 1991 – eine Entwicklung, die schließlich in der Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 gipfelte. Und auch hier, am Ende dieses Kapitels, wird der Bogen zurückgeschlagen zur amerikanischen Innenpolitik. Denn unmittelbar darauf begann in den USA der Präsidentschaftswahlkampf des Jahres 1992 – in dem Bush letzten Endes einem jungen, unbekannten Südstaaten-Gouverneur namens Bill Clinton unterliegen sollte (vgl. 599 ff.) – und seine Präsidentschaft damit „ein so abruptes und demütigendes Ende nahm“ (603).

Im folgenden achten Kapitel („Anbruch einer neuen Ära“) wird schließlich ein weiteres Mal das bilaterale Verhältnis zwischen Russland und den Vereinigten betrachtet. In Kapitel neun erfolgt ein erster Ausblick auf ein „pazifisches Jahrhundert“ (705): China, Japan und die koreanischen Staaten kommen in den Mittelpunkt. Diese letzten beiden Kapitel des Buches thematisieren die globalen Ereignisse des Jahres 1992, eines Jahres, wie Spohr zurecht schreibt, das in den meisten Studien über das Ende des Ost-West-Konflikts weitgehend ignoriert werde, „in dem allerdings Probleme entstanden, die uns im 21. Jahrhundert immer noch zu schaffen machen“ (18), etwa die Balkan-Kriege oder die Auseinandersetzungen in Somalia.

Das Buch, das zeitgleich unter dem Titel „Post Wall, Post Square“ im englischsprachigen Original erschienen ist, illustriert, was möglich ist, wenn politische Akteure aktiv und konstruktiv an internationalen Problemen arbeiten – über ideologische Differenzen und über persönliche Animositäten hinweg, zum Beispiel symbolisiert durch den Besuch Kohls bei Gorbatschow im Kaukasus im Sommer 1990 (318 ff.).

Die Autorin bietet nicht zuletzt eine detailreiche Beschreibung scheinbar nebensächlicher Ereignisse wie die amerikanische Präsidentschaftswahl von 1988, bei der sie mit wenigen inhaltlichen Strichen die Quintessenz von Wahlen und Wahlkampf auf den Punkt bringt. Nahezu durchgehend gelingt Spohr eine Verbindung von journalistischen, ja fast feuilletonistischen Passagen mit eher analytisch ausgefallenen Abschnitten. Das Buch bietet ein buntes Kaleidoskop außenpolitischer Ereignisse und Entwicklungen, die innen- und wirtschaftspolitisch grundiert werden. Dazu greift Spohr für ihre Auswertung auf eine Fülle von Originaldokumenten, Redemanuskripten, Akten und Gesprächsnotizen zurück. Höchst interessant sind etwa die vielfach eingestreuten kurzen biografischen Skizzen der zentralen Akteure und ihrer Vorstellungen (vgl. etwa beispielhaft für Präsident Bush auf den Seiten 38-45). Immer wieder wird – und auch das ist für Bücher zu dieser Thematik ungewöhnlich – die Rolle der nationalstaatlichen Parlamente berücksichtigt, etwa der des amerikanischen Kongresses in Bezug auf seine Rolle beim FREEDOM Support Act mit weitreichenden Hilfen für Russland (vgl. 629 ff.) – einem „Bravourstück der US-Administration“ (635).
Ein einziges Manko bleibt festzuhalten: Die beabsichtigte Verbindung der damaligen Geschehnisse zum aktuellen Zeitgeschehen und zu aktuellen Krisen und Problemen wird zwar wiederholt angekündigt, zum Beispiel auf Seite 21, aber nicht wirklich konzise und überzeugend aufgegriffen, sondern erst im Fazit erwähnt. Diesbezüglich hätte das Werk noch stärker an Prägnanz und Analysekraft gewinnen können.

„Wendezeit“ kombiniert die „detaillierte Rekonstruktion wichtiger Episoden [der Transformationsjahre 1989-1992] mit der synoptischen Untersuchung des makrohistorischen Wandels. Um die Ära der Transformation richtig zu begreifen, gilt es, die verwirrenden Ereignisse gleichsam von einem künstlichen Aussichtspunkt, quasi aus der Vogelperspektive, in den Blick zu nehmen. Aber eine erfolgreiche Analyse muss auch den Narrativen Raum geben, mit denen die führenden Protagonisten ihrer Welt Sinn verliehen und ihre Handlungen rechtfertigten. Schließlich nahmen die wichtigsten Akteure maßgebenden Einfluss auf die Ereignisse jener Jahre. Sie waren nie nur Figuren in einer Geschichte, die von anderen erzählt wurde, sondern mit all ihren Unzulänglichkeiten starke Gestalter ihrer eigenen Zeit“ (20 f.).

Im Anhang findet sich ein umfangreicher Anmerkungsapparat, ergänzt durch eine ausführliche Literaturübersicht. Gerade weil Spohr aus unterschiedlichen Perspektiven auf die Geschehnisse der Transformation blickt, und gerade weil sie die gegenseitigen Einschätzungen der relevanten politischen Akteure berücksichtigt, entsteht ein vielschichtiges Bild der damaligen Ereignisse. Bei „Wendezeit“ handelt es sich zusammengefasst um einen großen Wurf – ein Werk, das auf Jahre hin das Standardwerk zur Transformation europäischer wie globaler Politik rund um das Umbruchsjahr 1989/90 sein dürfte. Am Ende werden fast 1.000 Seiten Umfang zu einem höchst kurzweiligen Lesevergnügen.

 

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