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Eskalation des armenisch-aserbaidschanischen Konflikts. Was passiert derzeit?

24.08.2020
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Rusif Huseynov

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Yerevan_Brandy_Company,_Raum_zum_Gedenken_an_den_Konflikt_um_Berg-Karabach.jpg Lizenz: CC BY-SADieser Raum in einer Brandy-Firma in Eriwan und das darin befindliche Brandy-Fass sind der Hoffnung um eine friedliche Lösung des Konflikts zwischen Armenien und Aserbeidschan gewidmet. Foto: GerritR / Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY-SA 4.0

 

Am 12. Juli 2020 eskalierte der langjährige Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan plötzlich wieder. Zusammenstöße, bei denen schwere Artillerie und Drohnen eingesetzt wurden, führten zum Tod von mehreren Militärangehörigen und Zivilisten sowie zur Zerstörung der Infrastruktur in der Grenzregion.

Wenn es um den armenisch-aserbaidschanischen Konflikt geht, kommt Berg-Karabach als Erstes in den Sinn. Diese Region sowie mehrere umliegende Gebiete wurden zwischen 1992 und 1994 von armenischen Streitkräften besetzt. Das von Armenien errichtete Marionettenregime in Berg-Karabach stellt sich als ein unabhängiger Staat dar. Langfristiges Ziel war jedoch, diese „Republik“ in die Republik Armenien aufzunehmen. Die Besetzung war von einer ethnischen Säuberung begleitet, in deren Resultat die gesamte aserbaidschanische Bevölkerung der Region – schätzungsweise mehr als 700.000 Menschen1, das entspricht etwa zehn Prozent der damaligen Bevölkerung Aserbaidschans – vertrieben wurde.

In vieler Hinsicht ist Berg-Karabach daher quasi Aserbaidschans Südossetien oder Donbass. Als eine Art „schwarzes Loch“ im Zentrum Eurasiens unterliegt das Gebiet nicht dem Völkerrecht. Es wird für grenzüberschreitende illegale und kriminelle Aktivitäten genutzt.

Der aktuelle Konflikt brach jedoch nicht in Karabach, sondern entlang der direkten Grenzen zwischen Aserbaidschan und Armenien, nämlich in der Provinz Tovuz aus. Die bewaffneten Zusammenstöße begannen am 12. Juli 2020 und wurden in den folgenden zwei Tagen fortgesetzt. Obwohl nicht alle Einzelheiten der Auseinandersetzungen bekannt sind, ist von schweren Artillerieeinschlägen und Drohnenangriffen berichtet worden. Mehrere Menschen auf der aserbaidschanischen Seite wurden getötet, darunter ein Zivilist, dessen Dorf von armenischen Streitkräften beschossen worden war.

Beide Kriegsparteien bezichtigen einander, als Erste angegriffen zu haben. Es ist jedoch offensichtlich, dass die aserbaidschanische Seite keinen Grund hatte, einen Zusammenstoß in diesem Gebiet zu provozieren. Ein direkter Angriff auf Armenien, ein Mitglied der von Russland angeführten Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), außerhalb der Besatzungszone widerspricht der langfristigen Strategie Aserbaidschans. Der für Baku einzige Zweck einer Anwendung von Gewalt würde darin bestehen, die Kontrolle über die besetzten Gebiete zurückzugewinnen.

Berg-Karabach und die umliegenden Gebiete sind allgemein anerkannte Teile Aserbaidschans und fallen nicht in die Zuständigkeit der OVKS. Eine aserbaidschanische Offensive würde hier nicht notwendigerweise eine direkte militärische Intervention Dritter auslösen. Im Gegensatz dazu wäre im Falle einer Konfrontation zwischen Baku und Eriwan in unbestrittenen Grenzgebieten Armeniens eine Intervention der OVKS wahrscheinlich. Obwohl Baku auf den Verlust mehrerer hochrangiger Offiziere und Beschuss von Grenzbefestigungen sowie Siedlungen hart reagieren muss, wird die aserbaidschanische Führung ihre Reaktion eindämmen, da eine Ausbreitung der Feindseligkeiten auf das Territorium Armeniens zu unvorhersehbaren Konsequenzen führen kann. In diesem Zusammenhang verweisen einige Beobachter auf die katastrophalen Folgen des russisch-georgischen Krieges von 2008 für Georgien.

Ein Grund für den Ausbruch ist nichtsdestoweniger der OVKS-Faktor. Armenien hat seine nationale Sicherheitsstrategie am 10. Juli 2020, nur zwei Tage vor Beginn der Kampfhandlungen, aktualisiert und sich dabei auf das Bündnis mit Russland und seine Mitgliedschaft in der OVKS konzentriert. Vor diesem Hintergrund wäre eine Erklärung für die Eskalation, dass der armenische Regierungschef Nikol Paschinjan mit dem Ausbruch der Feindseligkeiten entlang der Staatsgrenze versucht, die Stimmung auszutarieren und festzustellen, ob die OVKS in den Konflikt hineingezogen werden kann. Eine positive Reaktion der Organisation könnte die Position Armeniens in der OVKS stärken; aufgrund Paschinjans ambivalenter Außenpolitik hatte sich diese verschlechtert. Eine negative oder abwesende Reaktion der Organisation würde antirussische Stimmungen in Armenien stärken.

Unmittelbar nach Ausbruch der Feindseligkeiten forderten die armenischen Behörden die Organisation zur Teilnahme am Konflikt auf. Die Reaktion der OVKS war jedoch zurückhaltend. Die Organisation schickte sich zunächst an, zusammenzutreten, verschob dann jedoch eine Notsitzung ihres Sicherheitsrates auf unbestimmte Zeit. Zwei Mitglieder des Militärblocks – Belarus und Kasachstan – unterstützen traditionell die Position Aserbaidschans in der Karabach-Frage und haben womöglich eine Rolle bei der Änderung der OVKS-Position gespielt.

Die jüngste militärische Konfrontation Armeniens und Aserbaidschans könnte auch durch Vertreter der alten Elite Armeniens, die gegen Paschinjan eingestellt ist, provoziert worden sein. Diese Altkader nehmen noch immer hohe Positionen in den armenischen Strafverfolgungsbehörden und Streitkräften ein. Mit solch einer Falle für den Premierminister wurde möglicherweise versucht, ihn als einen schwachen Regierungschef vorzuführen, der Aserbaidschan auf dem Schlachtfeld kein Paroli bieten kann. Alte Elitenvertreter, angeführt von den ehemaligen Präsidenten Robert Kotscharjan und Sersch Sargsjan, die vom derzeitigen Premierminister verfolgt und von Russland unterstützt werden, möchten möglicherweise zeigen, dass Paschinjans militärische Unfähigkeit das Potenzial der armenischen Streitkräfte und die Sicherheit des Karabach-Regimes untergräbt.

Die dramatische Eskalation der Gewalt an der aserbaidschanisch-armenischen Grenze hält an. Ihre Dauer und ihr Ausmaß sind schwer vorherzusagen. Die Ereignisse entwickeln sich nach einem qualitativ neuen Szenario. Beide Seiten scheinen verunsichert, während die traditionellen internationalen Garanten des Status quo nicht zu verstehen scheinen, wie diese neue Konfrontation zu lösen ist.

Was sich bereits als eine Lehre aus den bisherigen Ereignissen ergibt ist, dass solange es auf internationaler Ebene nur ein oberflächliches Interesse für die Lösung des Berg-Karabach-Konflikts gibt, solche gefährlichen Ausbrüche nicht ausgeschlossen werden können. Solch ein Quasipazifismus führt nur zur Verwurzelung des Besatzungsregimes und zu ähnlichen Konflikten in anderen Brennpunkten der GUS, wie im Donbass oder Südossetien. Obwohl in den vergangenen Jahren eine vorsichtige Anerkennung der armenischen Seite als Besatzer auf internationaler Ebene immer häufiger zu hören war, sind nach wie vor Illusionen verbreitet. Dies betrifft etwa die Erwartungen einer konstruktiveren und kompromissbereiteren Position der neuen Paschinjan-Regierung, die sich seit 2018 ein prodemokratisches Image aufgebaut hat.

Die Tatsache einer Aggression Armeniens gegen Aserbaidschan muss von der internationalen Gemeinschaft endlich ernst genommen werden. Die Bedrohung des Friedens in der Region kann nicht beseitigt werden, wenn keine ernsthaften internationalen Anstrengungen unternommen werden2, um die Rechte der mehr als 700.000 Binnenvertriebenen in Aserbaidschan wiederherzustellen und die territorialen Ambitionen der armenischen Führung einzudämmen.

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1 Laut UNHCR waren es 684.000: https://www.unhcr.org/uk/publications/refugeemag/3b5583fd4/unhcr-publication-cis-conference-displacement-cis-conflicts-caucasus.html. In anderen Quellen werden ähnliche Zahlen genannt: „The period of large-scale fighting until the cease-fire agreement of 1994 cost the lives of about 22,000-25,000 people and uprooted approximately over 700,000 ethnic Azerbaijani and over 400,000 ethnic Armenians“, Franziska Smolnik: Political rule and violent conflict: Elections as ‚institutional mutation’ in Nagorno-Karabakh, in: Communist and Post-Communist Studies 45 (2012) 154, https://online.ucpress.edu/cpcs/article/45/1-2/153/212/Political-rule-and-violent-conflict-Elections-as; „Around 700,000 ethnic Azeris were forced out of Nagorno-Karabakh and surrounding areas […]”, Ishaan Tharoor, The Washington Post, 5. April 2016, https://www.washingtonpost.com/news/worldviews/wp/2016/04/05/how-the-crisis-over-nagorno-karabakh-could-get-worse-fast.

2 Zum Beispiel: internationale Mechanismen (wie die UNO und die OSZE), die die schrittweise Rückkehr der Binnenvertriebenen in ihre Heimat umsetzen würden, indem Armenien gezwungen würde, diese Rückkehr zu akzeptieren; Sanktionen gegen die Besatzungsmächte und Separatisten

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