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Giorgos Kallis: Grenzen. Warum Malthus falschlag und warum uns das alle angeht

14.02.2022
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Autorenprofil
Florian Geisler, M.A.
Berlin, Matthes & Seitz Verlagsgesellschaft 2021

Florian Geisler sinniert in seiner Lesenotiz zu Giorgos Kallis’ „Grenzen. Warum Malthus falschlag und warum uns das alle angeht“ darüber, wie ideengeschichtliche Prägung und das Fehlen von Begriffen dieser Tage die versachlichte Debatte um Selbstbeschränkung behindert, wo selbst die grüne Bewegung Malthus’ Knappheitsmodell rezitiert. So misslinge dem als elitären Spielverderber wahrgenommenen Ökosozialismus, ein größeres Publikum zu gewinnen, während es bei nachhaltiger Gesellschaft um Objektivität und Fragen gehe, die grundlegend politischer Natur sind. (tt)

Ein Beitrag von Florian Geisler

Die „Grenze“ ist ein Schlüsselbegriff unserer Zeit. Nicht nur an den wortwörtlichen Außengrenzen unserer Länder, sondern auch in der abstrakten Rede von den Grenzen der Ökonomie und Ökologie erfahren wir heute die beschränkte Reichweite unserer Lebensweise. Giorgos Kallis, derzeit Professor für Umweltwissenschaften in Barcelona, beschäftigt sich in seiner kurzen Studie mit einer wichtigen Quelle unserer heutigen Auffassung von Grenzen, dem britischen Ökonomen Thomas Robert Malthus (1766-1834). Dieser – zu seiner Zeit „weltweit erste Lehrstuhlinhaber für politische Ökonomie“ (43) – hatte mit seinem „Bevölkerungsgesetz“ der gesamten Profession einen auf Jahrhunderte nachwirkenden Stempel aufgedrückt. Diesem Gesetz zufolge wachse die Nachfrage nach Lebensmitteln immer schneller als deren Produktion – demzufolge sei es nur rational, wenn die Armen von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen würden, um diese Entwicklung zu bremsen.

Malthus’ Schriften waren natürlich nicht im heutigen Sinne wissenschaftlich, sondern in erster Linie als politische Traktate gedacht: „Malthus bot ein Narrativ, das den vermeintlichen Willen Gottes mit dem der Fabrikbesitzer in eins fallen ließ“ (35). Das Ansehen, das seine Theorie über die absoluten Grenzen des Wachstums bis heute genießt, erklärt sich aus seiner Funktion als Legitimationsideologie der damals aufstrebenden Bourgeoisie, die auch heute ihre Relevanz als gesellschaftliche Schicht nicht verloren hat. Kallis’ Überlegung zur politischen Theorie des modernen Umweltschutzes interessiert sich vor allem für solche diskursiven Legitimationsmechanismen: Auch die grüne Bewegung unserer Zeit mit ihrer Vorstellung naturwüchsiger Grenzen „reproduziert Malthus’ Knappheitsmodell“ (59). Kein Wunder also, wenn es dem Ökosozialismus so schwerfällt, jenseits bürgerlicher Eliten ein größeres Publikum für sich zu gewinnen: Sein politisches Vokabular, so Kallis’ Zwischenfazit, fußt auf einer politischen Theorie, die in erster Linie zum Kampf gegen die Selbstversorgungsstrukturen der arbeitenden Klasse geschaffen wurde.

Dass grüne „Untergangspropheten“ und „Spielverderber“ (75) mit ihrem unterschwelligen Elitismus den neuen Populisten von Donald Trump bis Jair Bolsonaro und ihren Alptraumphantasien vom kollektiven „Wir“, als das wir angeblich alle im selben und übervollen Boot sitzen, eine Steilvorlage nach der anderen zuspielen, ist dabei fast schon Nebensache. Kallis geht es um Grundlegenderes. In Bezug auf den griechischen Postmarxisten Cornelius Castoriadis demonstriert er eindringlich, dass Grenzen keine objektive, sondern eine relationale Kategorie sind: „Eine Grenze setzt ein Ziel voraus. […] Die Grenze liegt im Subjekt und in der Absicht, nicht in der Natur“ (72). Je mehr wir in der Debatte um notwendige Beschränkungen des Wirtschaftswachstums auf vermeintliche natürliche Grenzen des Planeten verweisen, desto stärker verschleiern wir, dass sich diese Auseinandersetzung nicht als Kampf gegen die Natur, sondern als Kampf um die Macht in den Institutionen abspielt. Das, so darf man den Gedanken weiterführen, gilt auch für viele andere Diagnosen sozialer Pathologien: Die wahren Gründe für Entfremdung und Vereinzelung liegen nicht einfach „in der Natur der Sache“ unserer Lebensweise. Unser widersprüchliches Verlangen nach Entschleunigung einerseits und immer größerer Weltreichweite, Autonomie und Entgrenzung andererseits entspringt nicht einer generellen menschlichen Maßlosigkeit, sondern der grundlegenden Erfahrung von Fremdbestimmung, die wir täglich machen. Wir können nicht vernünftig über Selbstbeschränkung reden, weil die nötigen Orte und Begriffe dazu fest in den Händen derjenigen sind, die nur geringes Interesse an einer nachhaltigen Gesellschaft haben – weil wir, mit anderen Worten, alle Malthusianer sind.

Vor diesem Hintergrund widmet sich Kallis einer kleinen Kulturgeschichte der Selbstbeschränkung und fragt, wie wir selbstbestimmt „eine Kultur der Grenzen zurückgewinnen“ (108) können. Denn nicht nur für die Ökologie, sondern für den Bereich der politischen Philosophie insgesamt wird es immer schwieriger, den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit zu verwirklichen, ohne dass eine Mehrheit der Menschen diesen als reine Bevormundung wahrnimmt. Es geht letztlich um nichts weniger als den „Anspruch auf Objektivität in Bezug auf Fragen, die grundlegend politischer Natur sind“ (136). Kallis gelingt es mit seinem Buch, die Debatte um das Thema Grenzen auch innerhalb der Linken zu versachlichen, ohne in den verbreiteten Zynismus zurückzufallen. Denn die Frage, wie man in, mit und gegebenenfalls gegen die ökonomischen Wissenschaften und ihre scheinbaren „Gesetze“ für die richtige Sache Partei ergreifen kann, geht alle etwas an.

 

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