strategische Konkurrenz
Parlamente und Parteiendemokratien unter Druck
Parlamente und Parteien sind miteinander verschwistert und moderne/repräsentativen Demokratien ohne Parteien schwer vorstellbar/die große Seltenheit. Parteien übernehmen im repräsentativen System zentrale Aufgaben, die sie in vielfacher Weise mit der parlamentarischen Arbeit verknüpfen. Sie bündeln und strukturieren politischen Debatten, tragen Anliegen der Bevölkerung in die Parlamente und sind als Machtapparat entscheidend für Rekrutierung neuer Abgeordneter ¬– um nur einige ihrer Aufgaben zu nennen. Nicht zuletzt sorgen Parteien durch Gremienarbeit und Fraktionsdisziplin für die Beschlussfähigkeit des Parlaments. Entsprechend bilden Fragen danach, wie die Herausbildung parlamentarischer Strukturen den Aufstieg der Parteien beeinflusste, wie die jeweilige Rolle des Parlaments im Regierungssystem das Parteiensystem prägt und wie wiederum Parteien auf parlamentarische Funktionsmechanismen einwirken, fest etablierte und traditionsreiche Forschungsfelder.
Gerade auf Grund dieser engen Verflechtung, lässt es aufhorchen, wenn derzeit Parteien und Parlamente auch in etablierten Demokratien gleichzeitig unter Druck geraten: Spätestens seit den 2010er Jahren greifen radikale Strömungen erfolgreich die von ihnen so bezeichneten „Altparteien“ an und das Jahr 2021 hat in den USA und der Bundesrepublik Deutschland eindrücklich vor Augen geführt, welche geringe Achtung in bestimmten Kreisen die parlamentarischen Vertretungen selbst genießen. Diese offenen Anfeindungen stehen jedoch nicht allein. Sie sind verwoben mit Spannungen/Herausforderung, die Parlamenten und Parteien aus dem Wandel der Gesellschaft und „Verklebungen“ innerhalb des politischen Systems erwachsen. Exemplarisch für BRD seien hier die Dauerbaustelle Wahlrechtsreform und die sich zunehmend durchsetzende Einsicht, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, genannt.
Allerdings ist keineswegs ausgemacht, dass diese Prozesse und Probleme im Aufstieg radikaler Kräfte und der Funktionsunfähigkeit der parlamentarischen Parteiendemokratie münden müssen. Daher bietet unser Schwerpunkt Beiträge zu eingespielter Funktionsmechanismen von Parteien und Parlamenten und klare Analysen bestehender Schwierigkeiten, aber auch Raum für kreative Antworten hierauf.
Stellvertretend aber nicht erschöpfend für die Themen, die in diesem Schwerpunkt behandelt werden können, sollen im Folgenden drei Spannungsfelder angesprochen werden, aus denen derzeit verwandte Herausforderungen für Parteien und Parlamente zu erwachsen scheinen.
Parteien und Parlamente zwischen Diversifizierung und Segmentierung (politische Dimension)
In fast allen europäischen Ländern hat sich die den letzten Jahrzehnten die Parteienlandschaft vervielfältigt. Die damit oftmals einhergehende Zunahme der parlamentarischen Fraktionen fordert etablierte Spielregeln heraus, macht neue Formen der Regierungsbildung erforderlich und kann die Beschlussfähigkeit/Handlungsfähigkeit/Arbeitsfähigkeit der Parlamente und Fraktionen bedrohen. Andererseits kann die Fähigkeit eines politischen Systems, neuen Kräften Raum zu geben, auch positiv als Zeichen der Vitalität und seiner Aufnahmebereitschaft für gesellschaftliche Entwicklungen gewertet werden. Ein Knackpunkt dafür, ob Parlamente und Parteien das Auftreten neuer Akteure produktiv nutzen können, ist die Frage, ob diese Diversifizierung auch einer Segmentierung entspricht: Gelingt Dialog über Parteien- und Fraktionsgrenzen hinweg oder unterscheiden sich die Weltbilder der Gruppen so sehr, dass Kooperation nicht möglich ist und beide Gruppen eventuell nicht mal mehr ins selben politischen System integriert werden können? Hieraus ergeben sich eine ganze Reihe von Anschlussfragen für die Politikwissenschaft: Wie lassen sich Diversifizierung und Segmentierung unterscheiden? Was beugt vor Segmentierung vor und wie können Parteien und Parlamente auf entsprechende Entwicklungen reagieren? Warum waren die Volksparteien nicht in der Lage, neue Tendenzen aufzugreifen und zu integrieren?
Abbilden oder repräsentieren? Parlamente und Parteien angesichts gesellschaftlicher Diversität (gesellschaftliche Dimension)
Auf der einen Seite gilt es als ausgemacht, dass in parlamentarischen Demokratien, die Abgeordneten die Sozialstruktur eines Landes nicht spiegelbildlich abbilden müssen. Abgeordnete können auch Personen vertreten, die ihnen soziologisch nicht entsprechen. Anderseits ist in der selten so viele über die mangelnde Vielfalt der Abgeordneten diskutiert worden, wie in den letzten Jahren. Mit Blick auf den Deutschen Bundestag ist wiederholt die These aufgestellt worden, dass ein zu westdeutsches, zu akademischen und zu männliches Parlament die Interessen der Bevölkerung nicht aufgreifen könne und so auch einer Entfremdung vom Parlamentarismus Vorschub leiste. Ähnlich Bedenken lassen sich mit Blick auf die Parteien formulieren. Eine Herausforderung sind diese Bedenken insbesondere für die Volksparteien, die durch den Mitgliederschwund ohnehin drohen, ihrem umfassenden Vertretungsanspruch nicht mehr gerecht zu werden. Doch wie sehr müssen sich Volksverter*innen und Bevölkerung ähneln? Welche Mechanismen können für mehr Diversität in Parlament und Parteien sorgen? Können Parteien (wieder) an Schichten übergreifender Attraktivität gewinnen oder bedarf es alternativer Strukturen? Nichtzuletzt: Führt mangelnde Diversität eigentlich tatsächlich zu „Repräsentationslücken“?