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Aladin El-Mafaalani: Wozu Rassismus? Von der Erfindung der Menschenrassen bis zum rassismuskritischen Widerstand

06.05.2022
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Autorenprofil
Prof. Dr. Volker Stümke
Köln, Kiepenheuer & Witsch 2021

Aladin El-Mafaalani führt aus, warum die Erfindung von Menschenrassen als Herrschaftsideologie funktioniert hat und wie Rassismus noch heute bewerkstelligt, dass Menschen im Dreiklang rassistischer Diskriminierung kategorisiert, abgewertet und ausgegrenzt werden. Dabei sei es ebenso wichtig, den rassismuskritischen Widerstand zu unterstützen, wie auch Erfolge beim Abbau von Teilhabebarrieren anzuerkennen. Während sich gesellschaftlich zunehmend Allyship und Wokeness entwickeln, hat Volker Stümke hier noch Rückfragen zum Verhältnis von Rassismus, Intersektionalität und Islamophobie. (tt)

Eine Rezension von Volker Stümke

Rassismus ist die Ideologie, die Menschen wie andere Lebewesen erstens biologisch klassifiziert und diese Einteilung mit bestimmbaren Merkmalen hinterlegt, die ihrerseits zweitens eine Bewertung und drittens Ausgrenzungen zur Folge haben (15). Aladin El-Mafaalani spricht dementsprechend von einem Dreiklang rassistischer Diskriminierung: kategorisieren, abwerten, ausgrenzen (58-60). Diese Herrschaftsideologie sei allerdings, so beginnt der Osnabrücker Pädagogikprofessor seine Analyse, „heute nicht mehr das dominante Ordnungsprinzip der Gesellschaft und der Welt“ (7). Doch wozu dann die vorliegende Veröffentlichung über Rassismus? El-Mafaalani antwortet: Es seien immer noch sehr klare Benachteiligungen und Ungleichwertigkeiten beobachtbar, für die es nur zwei Erklärungsmodelle gebe: „Es existieren Rassen, oder es herrscht Rassismus“ (17).

Diese Disjunktion löst El-Mafaalani folgendermaßen: Rassen existieren nicht, die Rassenlehre, wie sie von Aristoteles bis Kant vertreten wurde, sei wissenschaftlich überholt. Weiterhin beobachtbar seien jedoch strukturelle und instrumentelle Formen der Diskriminierung aufgrund askriptiver Merkmale wie Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft, sexuelle Orientierung, Behinderung oder kulturelle Prägung (68, 150). Damit wird der Rassismusbegriff von El-Mafaalani über biologische Zuschreibungen hinaus auf kulturelle ausgeweitet; mehrfach rekurriert er auf die Benachteiligung von Muslimen, die er klar belegt. Das wirft zumindest bei mir die Frage auf, welchen analytischen Vorteil es bringt, solch eine unbestreitbare, und moralisch wie rechtlich zu kritisierende, Islamophobie als Rassismus zu bezeichnen; eine Frage, die leider unbeantwortet bleibt. Die Feststellung des Autors, dass solche Religionskritik am Islam beziehungsweise den Muslimen die Tarnung eines antimuslimischen Rassismus sei (146), ist jedenfalls allzu grob und nivelliert die inhaltlichen Bedenken gegenüber Religion(en). Zudem droht das Phänomen der Intersektionalität (22), also der mehrfachen Diskriminierung aufgrund der Zuschreibung unterschiedlicher Identitätsmerkmale (beispielsweise PoC, lesbisch, Muslima) zu verschwimmen, wenn man diese unterschiedlichen Diskriminierungen (wie Sexismus, Islamophobie) begrifflich als Formen von Rassismus bezeichnet.

El-Mafaalani legt klar dar, dass sich die Form des Rassismus gewandelt hat. Struktureller Rassismus sei eine neue Form, die ihre Wirkung vor allem in drei Bereichen entfalte: In der Sprache fänden sich zahlreiche Worte, „die Resultat rassistischen Denkens sind“ (42), im Denken beziehungsweise in der Wahrnehmung der Realität gebe es immer noch Vorurteile, die Menschen aufgrund ihrer Rassenzugehörigkeit zugeschrieben werden (44) und dahinter stünden normative gesellschaftliche Strukturen, die es vor allem Migranten erschwerten, in Europa Fuß zu fassen (48). Als zweite neue Form wird der institutionelle Rassismus analysiert. In der Schule, bei der Polizei, bei Banken und vor allem auf dem Wohnungsmarkt herrschten Prozesse und Verfahren, durch die vor allem PoC benachteiligt würden. Mit Blick auf die Polizei werden das Racial Profiling und die „Dämonisierung von Shisha-Bars“ (81) genannt und überzeugend ihr Diskriminierungspotenzial entfaltet. Bei der Schule gerate die Normalitätserwartung, dass schulpflichtige Kinder die Unterrichtssprache kennen, ins Visier; selbst die Einrichtung von Willkommensklassen und Förderangeboten würden nichts daran ändern, dass Kinder ohne diese Sprachkenntnisse stigmatisiert würden (78). Aber handelt es sich hierbei wirklich um ein askriptives Merkmal und nicht vielmehr um eine Leistungsanforderung, vergleichbar dem Einschulalter? El-Mafaalani folgend wären Ungleichbehandlungen, die sich auf „Leistungsfähigkeit, Kompetenz und Performanz“ (66) beziehen, legitim – im Unterschied zu rassistischen Diskriminierungen, die illegitim seien. Aber vielleicht passen Kinder nicht in dieses Schema, weil es sich zwar einerseits um Leistungen handelt, die aber andererseits nicht ohne Unterstützung der Eltern erbracht werden können.

Das Zwischenergebnis ist klar: Es gibt den klassischen Rassismus zwar kaum noch – abgesehen vom zunehmenden Antisemitismus, auf den der Autor leider nicht intensiv eingeht. Wohl aber gibt es immer noch rassistische Diskriminierungen. Doch auch hier entdeckt El-Mafaalani eine Dynamik, die er mit der „Raum-Tisch-Metapher“ hilfreich umschreibt: „Zunächst saßen Migrant:innen beziehungsweise PoC (mit allen anderen benachteiligten Gruppen) auf dem Boden, im Laufe der Zeit setzten sich viele von ihnen […] an den Tisch, wollten einen schönen Platz am Tisch und ein Stück von dem Kuchen, heute sind wir an dem Punkt, dass einige[.] von ihnen […] eine Veränderung des Kuchenrezepts, der Esskultur und der Tischordnung anstreben […]. Die dritte Gruppe will das Bestehende verändern“ (98 f.). Rassismus werde dementsprechend zunehmend entlarvt und kritisiert, was wiederum mehrere Implikationen habe: Es entstehe ein Diskriminierungsparadox, weil die Kritik genau da hörbar werde, wo die Teilhabechancen gestiegen seien (92). Es entwickelten sich unterschiedliche Reaktionsmuster auf die ehedem rassistisch konnotierten divergierenden Eigenschaften, sobald sie nicht mehr vorrangig diskriminierend verwendet würden: Stolz auf die Unterschiede, Betonung der Irrelevanz dieser Unterschiede oder Dekonstruktion dieser Eigenschaften (100, 149). Und es entstünden selbstreflexive Muster auch aufseiten der Privilegierten: Wokeness, Be an Ally, Check your privileges (138). Diese Prozesse zu unterstützen, indem Diskriminierungserfahrungen kommuniziert werden, sei die gegenwärtig noch nicht hinreichend gewürdigte Aufgabe der Pädagogik (105). Diesen „rassismuskritischen Widerstand“ zu unterstützen und zugleich auf die Erfolge hinzuweisen, die jegliche Überdramatisierung zumindest in Deutschland verhindern, ist das Ziel des besprochenen Buches.

 

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