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Altes Denken statt Neues Russland. Innenpolitische Bestimmungsfaktoren der Außenpolitik

26.09.2017
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Prof. Dr. Hannes Adomeit

victory day 2265384 640Erinnerung im Dienste der Gegenwart: Nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim feiert Russland am 9. Mai 2015 auch in Sewastopol den Sieg über NS-Deutschland. Foto: Zelenskayao / Pixaba

 

1. Problemstellung

2. Starker oder doch schwacher Staat?
2.1 Autokratie als zentrales Konstruktionsmerkmal
2.2 Die Jelzin-Ära
2.3 Putins Autokratie
2.4 Staatskapitalismus
2.5 Das Putin-Medvedev-„Tandem“
2.6 Krise des autokratischen Systems
2.7 Schlussfolgerungen

3. Regimewechsel unter autoritären Vorzeichen
3.1 Das Ziel: Machtmaximierung
3.2 Worum ging es und mit welchen Folgen?
3.3 Konsequenzen des Konzeptionswandels
3.4 Schlussfolgerungen zum Verhältnis von Innen- und Außenpolitik in der Jelzin-Ära
3.5 Putins Autoritarismus
3.6 Die Jukos-Affäre
3.7 Das Putin-Medvedev-„Tandem“

4. Der postsowjetische Raum: das neue russische Imperium

5. Der verdeckte Krieg

6. Wie Russland den Westen vor sich hertreibt

7. Fazit

 

1. Problemstellung

Was ist in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen falsch gelaufen und wer hat daran Schuld? Für die russische Führung ist die Antwort klar. „Der Westen“, allen voran die USA und die von ihr „kontrollierte“ NATO, sei Russland prinzipiell feindlich gesonnen. Westliche Politiker seien „wortbrüchig“ geworden, indem sie „feste Garantien“ und „Verpflichtungen“, die NATO nicht nach Osten zu erweitern, beiseitegeschoben, das Bündnis „immer näher an Russlands Grenzen herangerückt“ und die Politik des Kalten Krieges einschließlich der Eindämmung und Einkreisung Russlands fortgesetzt hätten. Dahinter stehe das Ziel, das Land maximal zu schwächen und seinen Zerfall herbeizuführen. Auch die nach der Wiedereingliederung der Krim in den russländischen Staatsverband verhängten Sanktionen dienten diesem Zweck.1 Russland sei infolgedessen nichts anderes übrig geblieben, als auf diese Sicherheitsherausforderungen mit Entschiedenheit zu reagieren. Dieses Narrativ wird in westlichen Medien, in Kreisen der Wirtschaft sowie in weiten Teilen der SPD, der CSU, der Linkspartei und der AfD geteilt.

Einer anderen Interpretation zufolge sind es hauptsächlich innere Faktoren, die das russische Außenverhalten bestimmen.2 Im Wesentlichen gewinne man aus ihnen die wichtigste Erklärung für die gegenwärtige tiefe Krise in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen. In dem Maße, in dem äußere Faktoren die Außenpolitik beeinflussen, sei es hauptsächlich die Sorge der russischen Machtelite, dass das ordnungspolitische Vorbild und die sozio-ökonomische Attraktivität des Westens eine Bedrohung der Legitimität ihrer Herrschaft in Russland darstellten und ihren Einfluss in der von ihr deklarierten Interessensphäre unterhöhlten.

Um (auch) anhand der hier vorgestellten Bücher eine Antwort auf die oben genannten Fragen zu erhalten, sind einige grundsätzliche Überlegungen hilfreich.

Seit Aristoteles ist die Wechselbeziehung zwischen Innen- und Außenpolitik von Staaten ein wichtiges Thema der Politikwissenschaft. Wie er erkannt hat, führt eine analytische Trennung der beiden Bereiche unweigerlich zu Fehlschlüssen. Am besten stelle man sich eine Skala vor, auf der außenpolitische Entscheidungen an einem Ende ausschließlich von inneren Gegebenheiten bestimmt werden und auf dem anderen ausschließlich von internationalen Zwängen. In der Wirklichkeit gibt es diese Ausschließlichkeit wohl kaum, werden außenpolitische Entscheidungen in der Regel von einer Mischung aus inneren und äußeren Bedingungen getroffen.

Für Russland gilt das Axiom, dass die Außenpolitik von Großmächten weniger von internationalen Gegebenheiten abhängig ist als die kleinerer Staaten. Als selbst ernannte Großmacht (velikaja deržava) hat es offensichtlich mehr Spielraum als Mittelmächte oder Kleinstaaten. Hinzu kommt allerdings ein Faktor, der zwar im Hinterkopf von Forschern präsent sein mag, aber konzeptionell kaum deutlich benannt wird: Zwischen den einerseits inneren und andererseits äußeren Gegebenheiten, die die außenpolitischen Entscheidungen bestimmen, befindet sich ein Bereich, der eng mit der russischen Innenpolitik verbunden ist – der postsowjetische Raum.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ließ sich seine Sonderstellung sowohl im Bewusstsein als auch in der praktischen Politik unter anderem an der Begrifflichkeit des Nahen Auslands (bližnoe zarubež’e) ablesen – ein im Grunde genommen absurder Begriff, denn während Staaten wie Usbekistan und Kyrgistan rund 4.000 Kilometer und Georgien immerhin rund 2.000 Kilometer von Moskau entfernt liegen, gibt es zu dem im nicht-nahen (also fernen?) Ausland gelegenen Polen eine gemeinsame Grenze mit der Provinz Kaliningrad. Bei diesem Begriff war allerdings unklar, ob er mit dem Territorium der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) identisch war oder ob die baltischen Staaten auch dazu gehörten. Politisch beinhaltete er, dass die neuen unabhängigen Staaten nicht wirklich unabhängig waren, sondern sich in ihrer Politik nach russischen Interessen zu richten hätten. Anders ausgedrückt: Das Nahe Ausland war als russische Einflusssphäre zu betrachten.

Im Januar 1998 nahmen die für Russlands Beziehungen mit der GUS zuständigen Regierungsmitglieder, der stellvertretende Ministerpräsident Valerij Serov und GUS-Kooperationsminister Anatolij Adamišin, offiziell Abschied vom Begriff des Nahen Auslands. Er sei, wie Serov einräumte, unvereinbar mit der Unabhängigkeit der GUS-Staaten, die ja „Staaten wie alle anderen“ seien. „Je früher wir diese Idee des Nahen Auslands aufgeben, desto besser ist es für alle Beteiligten.“ Die GUS-Staaten sollten als „gleichberechtigte Mitglieder der Weltgemeinschaft“ betrachtet werden, mit denen „normale“ Beziehungen hergestellt werden sollten.3 In der Logik dieser Entwicklung lag auch die von Jelzin Anfang Mai 1998 verfügte Auflösung des GUS-Kooperationsministeriums und die Rückgabe dieses Aufgabenbereichs an das Außenministerium – eine Maßnahme, die allerdings bei der Regierungsumbildung im September 1998 schon wieder rückgängig gemacht wurde.4 Auch der Begriff des Nahen Auslands wurde noch jahrelang inoffiziell verwandt.

Die Verzahnung russischer Innenpolitik mit der Politik Moskaus gegenüber den neuen Staaten im postsowjetischen Raum leitet sich aus einer ganzen Reihe von Faktoren ab. Zu diesen gehören die Präsenz ethnisch russischer und „russischsprachiger“ (russkoyazyčnye) Minderheiten in vielen der ehemaligen Sowjetrepubliken; die gemeinsame Sozialisierung in den die Republiken übergreifenden und durchdringenden Institutionen wie die Streitkräfte des Verteidigungs- und des Innministeriums, andere bewaffnete Formationen und die Geheimdienste sowie die Wirtschaftsinteressen hoher russischer Staatsbediensteter und privater, aber oft eng mit dem Kreml verbundener Oligarchen.

Die nächsten Fragen, die sich stellen, sind wie folgt: Wie hat sich das gegenwärtige Herrschaftssystem in Russland entwickelt, von welchen Strukturmerkmalen wird es gekennzeichnet und welche außenpolitischen Folgen – falls diese überhaupt systemimmanent sind – kann man ihm zuzuordnen?5

An Kennzeichnungen des russischen Herrschaftssystems mangelt es nicht. Manchmal wird es noch als Demokratie bezeichnet, dann allerdings mit Zusätzen.

  • So haben Polittechnologen des Kremls Begriffe wie „gelenkte“ und „souveräne“ Demokratie ins Spiel gebracht, angeblich noch eine Demokratie, die aber russische Besonderheiten aufweise.6
  • Kritiker hingegen sehen das System im Prinzip als nicht mehr demokratisch an, sondern sprechen von „virtueller“, „simulierter“, und „Schein“-Demokratie7 oder „Demokratur“, einer Mischung aus Demokratie und Diktatur.8
  • Eine weitere Charakterisierung des Putin‘schen Herrschaftssystems ist die als „Kleptokratie“, als die Herrschaft derer, die sich Verfügungsgewalt über Besitz und Einkünfte der Beherrschten angeeignet haben und entweder sich oder ihre Klientel auf Kosten der Beherrschten bereichern.9
  • „Neopatrimonialismus“ ist ebenfalls auf Russland angewandt worden, eine Mischform aus den Weber‘schen Herrschaftstypen der patrimonialen und der rational-legalen Herrschaft, auf die auch Merkmale der „Kleptokratie“ wie Klientelismus, Korruption und Rentenökonomie zutreffen.10
  • „Putinismus“ setzt sich über alle traditionellen Typisierungen von Herrschaftssystemen hinweg. In einer seiner Definitionen wird dieser als ein Regime bezeichnet, „das sich auf das korrupte Beamtentum und die Oligarchie stützt und in vieler Hinsicht einer faschistischen Diktatur ähnelt (aggressive, auf Annexion ausgerichtete Außenpolitik, Dominanz des staatlich-monopolistischen Kapitals in der Wirtschaft, von Geheimdienst, Polizei und Militär geprägte Regierungsstrukturen, Chauvinismus und Traditionalismus in der totalen staatlichen Propaganda).“11
  • Schließlich gilt das System Putins auch als „Autokratie“, eine durch den Machthaber selbst legitimierte Herrschaft, also „Selbstherrschaft“.

2. Starker oder doch schwacher Staat?

2.1 Autokratie als zentrales Konstruktionsmerkmal

Der Begriff der „Selbstherrschaft“ oder Autokratie (Russisch: samoderžavie), spielt bei Andrei Tsygankov in The Strong State in Russia: Development and Crisis eine zentrale Rolle. Der Autor, 1964 in Russland geboren, erhielt Doktorgrade (kandidaty nauk) 1991 von der Moskauer Staatlichen Universität und 2000 von der University of Southern California und unterrichtet Politik Russlands und der Sowjetunion sowie Internationale Beziehungen an der San Francisco State University.

Tsygankov charakterisiert eingangs zwei unterschiedliche Interpretationen russischer Geschichte, die „westernistische“ und die „nativistische“. Erstere betrachte Russland durch das Prisma der westlichen Zivilisation, sehe diese allen anderen als überlegen an und gehe infolgedessen davon aus, dass dies der einzig richtige Entwicklungsweg sei. Der nativistische Erklärungsansatz hingegen bestehe darin, Russland aus sich selbst heraus zu verstehen, aus seiner Kultur und Geschichte.

TsygankovIn der westernistischen Anschauung werde die eigene Entwicklung als demokratisch, pluralistisch und fortschrittlich empfunden, die Russlands dagegen als kulturell und zivilisatorisch zurückgeblieben, barbarisch und repressiv. Das Interpretationsraster komme in zwei Varianten vor, der „liberalen“ und der „konservativen“. Dem ersteren zufolge habe die Andersartigkeit und Rückständigkeit Russlands institutionelle Gründe. Die Kritik entzünde sich nicht so sehr am russischen Volk und seiner Kultur, sondern an der Regierung, an dem in der russischen Geschichte immer wieder errichteten Zentralstaat. Dieser sei individueller Freiheit, Privatbesitz und repräsentativer Demokratie abträglich. Das Ende der Geschichte liege darin, wie Francis Fukuyama argumentiert habe, dass die Institutionen der liberalen Demokratie westlicher Prägung universellen Charakter bekämen. In der konservativen Variante werden eher die kulturellen Aspekte der Andersartigkeit Russlands betont und diese als unvereinbar und bedrohlich für den Westen hingestellt. Beide Varianten stimmten aber darin überein, dass das Russland Putins im Inneren undemokratisch und repressiv sowie nach außen aggressiv sei und man infolgedessen, wie im Kalten Krieg, einer gefährlichen Macht gegenüberstehe, die es einzudämmen gelte.

Die nativistische Interpretation gehe ebenfalls davon aus, dass Russlands geschichtliche, kulturelle und zivilisatorische Erfahrungen anders als die des Westens seien, es aber nicht prinzipiell im Inneren repressiv und nach außen anti-westlich sowie aggressiv sein müsse. „Viele“ Nativisten, zu denen sich der Autor offensichtlich rechnet, „betrachten Autokratie als für die Entwicklung des Landes notwendig, aber nicht unbedingt im Innern repressiv und [nach außen] expansionistisch“ (5, alle Zitate eigene Übersetzungen des Verfassers). Autokratie ist bei ihm mit „starkem Staat“ identisch, und er zitiert dabei Putin als Kronzeugen für die Notwendigkeit seines Vorhandenseins: „Unser Staat und seine Institutionen haben immer eine außerordentlich wichtige Rolle im Leben des Landes und seines Volkes gespielt. Ein starker Staat ist für Russen keine Anomalie, die es zu beseitigen gelte. Ganz im Gegenteil, sie sehen ihn als die Quelle und Garantie von Ordnung und als den Initiator und die wichtigste Triebkraft jeglichen Wandels.“(6)12

Der Autor hebt infolgedessen die positiven Aspekte von Autokratie hervor. Er bemüht Katharina die Große zur Stärkung seiner Thesen: „Der Sinn der ,Autokratie‘ ist nicht, Menschen ihrer natürlichen Freiheit zu berauben, sondern ihre Handlungen zum größten Guten zu steuern.“ (11) Er stimmt dem russischen Historiker Nikolj Karamzin zu, wenn er sagt: „Autokratie ist das Palladium Russlands. Von seiner Integrität hängt Russlands Glück ab.“ (6) Und er kritisiert das im Westen gängige Bild Russlands in der Geschichte als Unterdrücker von Völkerschaften und weist darauf hin, dass das Land eine lange Tradition des Schutzes von Völkern und ethnischen Minderheiten vor Angriffen von außen habe.

Insgesamt ist Tsygankov der Ansicht, dass Autokratie das zentrale Konstruktionsmerkmal des Staates in der russischen Geschichte sei. Nach der „Zeit der Wirren“ (smuta oder smutnoe vremja) der Jahre 1598 bis 1613 habe Russland immer wieder Schwächeperioden durchlebt, aus denen es aber mit konsolidierter Staatlichkeit wieder herauskam. Er sieht zwei Bedingungen, die dazu geführt hätten: eine innere und eine äußere. Im Inneren erwies sich der Adel als unfähig, sich – sogar gegen die existenzielle Bedrohung durch die Mongolen − zu vereinigen; seine Zersplitterung wurde durch die geografische Machterweiterung (sobranie zemlej) und Stärkung der Zentralmacht durch die Moskauer Großfürsten (1340 bis 1547) beseitigt. In Europa dagegen wurde der Staat durch komplexe Übereinkünfte zwischen dem König, dem Adel und den Kaufleuten aufgebaut; darin lagen die Wurzeln für die für westliche Systeme charakteristischen Gewaltenteilung und Entscheidungsfindung durch Kompromisse. Die äußere Gegebenheit für die Errichtung eines starken Zentralstaats lag in dem Fehlen weniger natürlicher Grenzen in Eurasien, was häufige Invasionen, sei es durch die Mongolen, durch Napoleon oder Hitler, begünstigte. Um den äußeren Gefahren und Bedrohungen zu begegnen, führte der Staat die Wehrpflicht mit langen Dienstzeiten ein, schuf die Möglichkeit von Massenmobilisierung und hielt lange Zeit an der Leibeigenschaft fest (8-9).

Der Autor stellt (ganz sinnvoll) zehn Merkmale zusammen, die seiner Auffassung nach ein autokratisches System ausmachen: Von der Machtelite gesteuerte Wahlen, eine (quasi-)religiöse Ideologie, Zensur, staatlicher Landbesitz, reglementierter Arbeitsmarkt, Zuteilung von Privilegien statt Chancengleichheit, Beratungen innerhalb der Machtelite zur Entscheidungsfindung, Institutionen lediglich als Beratungsgremien, imperiale Organisationsformen und der Staat als Souverän in der Außenpolitik (14).

Die These der Autokratie als wichtigstes Merkmal russischer Staatlichkeit und des immer wiederkehrenden Zyklus von Schwäche und Wiederherstellung von Stärke zieht sich wie ein roter Faden durch Tsygankovs Darstellung der geschichtlichen Entwicklung vom Kiever Rus (858 bis 1068) über das Moskauer Großfürstentum, die Romanovs (1613 bis 1917), die Sowjetunion (1917 bis 1991) und das Russland Jelzins (1991 bis 1999) bis zu Putins Amtszeiten. Da sich diese Sammelrezension auf den Zeitraum vom Zerfall der Sowjetunion bis zur Gegenwart konzentriert, interessieren hier im Wesentlichen die Kapitel, die sich mit dieser Periode befassen.

2.2 Die Jelzin-Ära

Der Autor ordnet diesen Zeitabschnitt in sein Schema der Pendelbewegung von erlittener Schwäche zur Wiederherstellung von Autokratie ein. In der Innenpolitik, wie er aufweist, steuerten radikale Reformer wie Jegor Gajdar und Gennadij Burbulis auf ein demokratisch-pluralistisches, liberales und föderales politisches System mit einer freien Marktwirtschaft und einer aktiven Zivilgesellschaft hin, also auf die Einführung des Modells, das sich dem kommunistischen Zentralstaat mit seiner staatlichen Kommandowirtschaft und einer kontrollierten Gesellschaft als überlegen erwiesen hatte. Im wirtschaftlichen Bereich sollte dies durch die von westlichen Ökonomen, unter anderem von Jeffrey Sachs von der Harvard Universität, beeinflussten Maßnahmenbündel („Schock-Therapie“) geschehen: völlige Preisliberalisierung, zügige Privatisierung sowohl der Industrie als auch der Landwirtschaft, eine restriktive Geldpolitik, Abbau der Staatsausgaben und die Verkleinerung des militärisch-industriellen Komplexes.

Die Verbindungen zwischen Innenpolitik, Politik im Nahen Ausland und Außenpolitik sui generis, um dies den Ausführungen Tsygankovs hinzuzufügen, waren stark vom Neuen Politischen Denken Michail Gorbačevs geprägt. Jelzins Außenminister Andrej Kozyrev, in diesem Amt ab Oktober 1990, griff die Kerngedanken dieses Schlagworts auf und stellte die russische Außenpolitik auf eine klare konzeptionelle Grundlage. Dazu gehörte die Anschauung, dass militärische Macht in der Weltpolitik zwar weiterhin eine wichtige Rolle spielt, politische, wirtschaftliche, wissenschaftlich-technologische, ökologische und informationstechnische Faktoren aber zunehmend an Bedeutung gewinnen. Die Bedrohungen der nationalen Sicherheit Russlands hätten im Wesentlichen keinen militärischen Charakter, sondern seien hauptsächlich innerer Natur und gründeten auf den ernsten wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Problemen des Landes. Die Außenpolitik sollte dazu dienen, dringend gebotene innere Reformen zu begünstigen.13

In der Praxis war die Neuordnung der Beziehungen mit den USA und Europa − die Schaffung einer „euro-atlantischen Gemeinschaft von Vancouver bis Wladiwostok“ − wichtigstes Prinzip. Das neue Russland war bereit, in oder mit den bestehenden internationalen, westlich dominierten politischen und wirtschaftlichen Organisationen wie den Vereinten Nationen, der Europäischen Union, dem Internationalen Währungsfonds, GATT und der G7 zusammenzuarbeiten. Russlands Mitgliedschaft in der NATO wurde, wie Präsident Boris Jelzin in seinem Brief an die NATO im Dezember 1991 erklärte, zu einem langfristigen Ziel erklärt. Einen Monat später versicherte er im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, Russland betrachte die „Vereinigten Staaten und den Westen“ nicht mehr als Gegner und nicht nur lediglich als „Partner“, sondern als „Verbündete“. Das globale Überengagement der Sowjetunion wurde weiter abgebaut, der Abzug russischer Truppen aus Deutschland sowie den baltischen Staaten fortgesetzt und Jelzin rückte anlässlich eines weiteren Besuches in den Vereinigten Staaten im Juni 1992 von dem traditionellen sowjetischen Ziel militärstrategischer Parität mit den USA ab.

Die Politik Andrej Kosyrevs im Nahen Ausland entsprach den Prinzipien des Vorrangs der strategischen Partnerschaft mit dem Westen. Zumindest wirtschaftlich wurden die ehemaligen Sowjetrepubliken als eine Last, als „burden of empire“ wahrgenommen. Die radikalen westorientierten Reformen in Russland sollten ihnen als Beispiel dienen, dem es zu folgen gelte.

Die zentrale, für die Entwicklung Russlands bis in die Gegenwart wichtige Frage ist, wie es dazu kommen konnte, dass der radikal-reformerische Kurs im Inneren und die prowestliche Orientierung in der Außenpolitik verlassen wurde und ab wann diese Abkehr einsetzte.

Tsygankov macht hauptsächlich die wirtschaftliche Katastrophe für den Wandel verantwortlich. Nach einigen Schätzungen schrumpfte die Wirtschaftsleistung Russlands in der Zeit von 1985 bis 1992 um 60 Prozent. Die Freisetzung der Preise führte zur Hyperinflation und zur Vernichtung der Ersparnisse auch der immer noch relativ kleinen Mittelklasse und zu weitgehender Verarmung der Bevölkerung. Dem standen steinreiche „Oligarchen“ gegenüber, die sich über die Privatisierung der Industrie mit legalen, halb-legalen und kriminellen Mitteln bereicherten und die, im Gegensatz zu den US-amerikanischen Tycoons, keinen Wohlstand im Lande schafften, sondern seine natürlichen Ressourcen ausplünderten und das Geld ins Ausland verbrachten. Der westliche, liberal-demokratische und marktwirtschaftliche Entwicklungsweg wurde dadurch fundamental diskreditiert (89).

Dem Autor zufolge tragen die westlichen Regierungen Mitschuld an dieser Entwicklung. Obwohl diese „finanzielle Hilfe leisteten und bereit waren, mit Russland in Sicherheits- und Rüstungskontrollfragen zusammenzuarbeiten, erfüllten sie doch nicht die [in Russland] hochgesteckten Erwartungen. Die Hilfe war nicht nur begrenzt, sondern auch fehlgeleitet. Anstatt im Rahmen eines Prozesses eine grundlegende strukturelle Reform durchzuführen und dabei ein soziales Sicherheitsnetz zu knüpfen und die Herrschaft des Rechts zu etablieren, zeigte der Westen, dass sein hauptsächliches Interesse darauf gerichtet war, das vorangegangene Wirtschaftssystem zu zerstören. [Er] zog es vor, Beziehungen zu einer eng begrenzten und korrupten Herrschaftselite zu entwickeln und gleichzeitig eine Politik zu verfolgen, die darauf gerichtet war, Russland in Sicherheitsfragen einzudämmen.“ (91)14

Hinsichtlich der Außenpolitik und der Politik im postsowjetischen Raum ist der Darstellung Tsygankovs hinzuzufügen, dass der auf „strategische Partnerschaft“ mit dem Westen ausgerichtete, kooperative und integrationsfreundliche Kurs Kosyrevs im Moskauer außen- und sicherheitspolitischen Establishment schon ab Frühjahr 1992 immer schärfer kritisiert wurde. Ein „patriotischer Konsens“ begann sich zu entwickeln, eine unheilige Allianz, bestehend aus Nationalpatrioten und Kommunisten, Befürwortern von Machtpolitik (deržavniki), die Russland wieder als „Großmacht“ (velikaja deržava) aufleben lassen wollen; „Neo-Slawophilen“, die sich für die Schaffung einer „Slawischen Union“ aus Russland, Weißrussland, Ukraine und dem Nordteil Kasachstans stark machten; „Eurasisten“, die die These vertraten, dass ein von Russland dominierter „Kontinent Eurasien“ in einem fundamentalen Gegensatz zur „römisch-germanisch“ geprägten westlichen Welt stehe; und Verfechter des Gedankens eines russischen „Sonderweges“ aufgrund eigenständiger kultureller und christlich-orthodoxer Traditionen.15

Die konservativen, reaktionären und revisionistischen Kräfte polemisierten gegen den Euroatlantismus als eine „idealistische“ und „romantische“ Verfehlung und schnöden Ausverkauf russischer Interessen. Sie unterstellten dem Außenministerium, es stufe Russland zu einem „Erfüllungsgehilfen“ und „Lakaien“ der USA herab. Eine „unipolare“ Welt unter der Ägide der USA sei aber unannehmbar. Russland müsse einen der Pole in einer neuen „multipolaren“ Welt bilden und sich wieder stärker seinen traditionellen Partnern auf dem Balkan, in Asien sowie im Nahen und Mittleren Osten zuwenden.

Am schärfsten fiel jedoch die Kritik an Kosyrevs Politik im „Nahen Ausland“ aus. Ihm wurde vorgeworfen, dass er auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion einen beispiellosen Ausverkauf russischer Interessen betreibe und das Leben von über 30 Millionen „russischsprachiger“ (russkojazyčnye) Menschen und russischer Landsleute (sootečestvenniki) sträflich aufs Spiel setze. Die Kritiker machten „massive Menschenrechtsverletzungen“ zum Nachteil der russischen Minderheiten vor allem in den baltischen Staaten geltend. Strömungen verstärkten sich, die dem angeblichen Kulturverfall des Westens Konzepte wie die „Russische Idee“ (russkaja ideja) und „Russische Welt“ (russkij mir) entgegensetzten.16 Zu dieser Welt gehörten diesen Anschauungen zufolge nicht nur die nach offiziellen Angaben über 30 Millionen ethnischen Russen im Ausland (russische „Volksgemeinschaft“, Russisch: obščina) und „Russischsprachige“, sondern all diejenigen, die die russische Sprache und Kultur wertschätzen, ganz unabhängig davon, wo sie leben, sei es in Russland oder jenseits seiner Grenzen.17

Neben den, wie oben erwähnt, für eine umfassende Transformation zu geringen westlichen Finanzmitteln macht Tsygankov weitere externe Faktoren für die Rückkehr zur Autokratie in Russland verantwortlich. Die Russen fühlten „eine wachsende Verwundbarkeit gegenüber äußeren Bedrohungen“. Der Zerfall der Sowjetunion, „militärische Konflikte an der russischen Peripherie und die Perspektive einer Erweiterung der NATO an Russlands Grenzen“ hätten ihren Nationalstolz verletzt (91-92). Zu fragen ist allerdings, ob großzügigere westliche Finanzhilfen die binnenwirtschaftliche und innenpolitische Situation grundlegend verändert hätten oder ob – wie oft bei Finanzhilfen für Entwicklungsländer der Fall – die Institutionen nicht weit genug entwickelt waren, dass die Hilfen sinnvoll verwandt werden konnten und nicht in korrupten Kanälen verschwinden würden. Ganz sicher jedoch litt die Wirtschaft unter einem für sie katastrophalen Zusammenbruch der Erdölpreise im Zeitraum von 1992 bis 1999 auf unter 20 US-Dollar im Jahresdurchschnitt – was wiederum die Frage aufwirft, wie sich Russland wirtschaftlich und politisch entwickelt hätte, wenn die Ölpreise bereits in den 1990er-Jahren und nicht erst in den beiden ersten Amtszeiten Putins in schwindelerregende Höhen geklettert wären. Bei den äußeren Faktoren unterlässt es Tsygankov zu hinterfragen, ob es denn tatsächlich äußere Bedrohungen gab oder ob diese bereits in der Jelzin-Ära aus innenpolitischen Gründen hochgespielt wurden.

2.3 Putins Autokratie

Die These von der zyklischen Entwicklung der russischen Geschichte von Zeiten der Wirren zum Wiedererstarken des Zentralstaates wendet Tsygankov konsequent auf die Putin-Ära an. Der neue Chef des Kremls sei weit davon entfernt gewesen, schreibt der Autor, Verhältnisse wie unter Peter dem Großen oder Stalin wieder einzuführen. Er habe sich vielmehr bemüht, „Zentralisierungsmaßnahmen mit Balancierungsakten“ (103) zu verbinden.18 Zu Letzteren gehörte das Schmieden einer Koalition „kommerzieller Eliten“, den „Oligarchen“, und der „Sicherheitselite“, frühere oder amtierende Inhaber führender Positionen in Geheimdiensten, Polizei und Militär − die „Siloviki“ oder „Tschekisten“.19 Zwei Entwicklungen hätten entscheidend zum Ziel Putins, Russland als starken Staat im Inneren und als „Großmacht“ (velikaja deržava) nach außen wiederherzustellen, beigetragen: terroristische Anschläge in Tschetschenien und im russischen Kernland sowie der rapide wirtschaftliche Aufschwung.

Bei der Bewertung des Terrorismus für den Aufstieg Putins zur Macht und als Vehikel für Rezentralisierung − für die Konstruktion einer „Machtvertikale“ (vertikal‘ vlasti) − lässt Tsygankov die bis heute umstrittene Frage außer Acht, ob und inwieweit die Geheimdienste in die Serie von Sprengstoffanschlägen in Moskau, im südrussischen Volgodonsk und im dagestanischen Bujnaksk verwickelt waren. Der Kreml machte sofort „tschetschenische Terroristen“ dafür verantwortlich und benutzte die Bombenanschläge wie auch den Einfall von Islamisten unter Führung von Šamil Basajev und Chattab nach Dagestan, um einen erbarmungslosen Krieg in Tschetschenien zu führen – ein Vorgehen, das in der russischen Bevölkerung auf große Zustimmung stieß und Putin im März 2000 zum Wahlsieg als Präsident verhalf. Der Autor übernimmt auch das vom Kreml zur Abwehr westlicher Kritik an dem „unverhältnismäßigen“ und ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung durchgeführten Militäreinsätzen gebrauchte Argument, dass der Terrorismus im Nordkaukasus kein russisches Sonderproblem, sondern lediglich eine Erscheinungsform des internationalen Terrorismus sei und es unbestreitbare Verbindungen zwischen beiden gebe.

Auch die im September 2004 im nordossetischen Beslan von Terroristen begangene Geiselnahme einer ganzen Schule, die mit über 300 Toten endete, wurde von Putin zum Anlass genommen, die Zentralisierung im Staate voranzutreiben. An der Bewertung der Ereignisse macht Tsygankov allerdings dreierlei deutlich. Photos of the victims at Beslan school number 1 aaron bird wikimediaBilderwand zum Gedenken der Schülerinnen und Schüler, die in der Schule Nr. 1 in Beslan starben. Foto: Aaron Bird via Wikimedia CommonsErstens: Er schaut auf Russlands Beziehungen zum Westen nahezu ausschließlich durch das Prisma des russisch-amerikanischen Verhältnisses, so als existierten die europäischen Länder nicht. Wenn der Autor von „westlicher“ Politik spricht, dann ist eigentlich fast immer die US-amerikanische Politik gemeint. Zweitens: Die postsowjetischen Staaten werden nicht als eigenständige Akteure mit legitimen eigenständigen Interessen wahrgenommen, sondern als Objekte legitimer russischer Einflusssphären-Politik. Drittens: Es gibt kaum eine im Westen als problematisch, unannehmbar oder ungeheuerlich empfundene Maßnahme oder Äußerung Putins, die er nicht als eine mehr oder weniger angemessene Reaktion auf US-amerikanisches Fehlverhalten hielte. Das betrifft auch die Unterstellung des Kreml-Chefs, dass die USA (wenn auch direkt nicht benannt) für den Terrorismus im Nordkaukasus mitverantwortlich seien. „Einige [also nicht direkt und klar benannte Kräfte] wollen ein ‚saftiges Stück‘ aus unserem Fleisch herausreißen, wobei sie davon ausgehen [...], dass Russland als eine der größten Nuklearmächte der Welt noch immer eine Bedrohung darstellt und es gelte, diese Bedrohung zu beseitigen. Der Terrorismus ist natürlich nur ein Instrument, um diese Ziele zu verwirklichen.“20

Tsygankov greift dieses Argument auf und stellt es in den Zusammenhang „westlicher“ (also US-amerikanischer) Geopolitik: „Westliche Staaten waren entschlossen, Zugang zum kaspischen Öl zu erhalten und ihre geopolitische Präsenz im Kaukasus zu verstärken, [sie] verstärkten ihre Bindungen mit Georgien und blieben gegenüber der russischen Politik in der Region misstrauisch.“ (111) Die US-amerikanische Politik sei von einer „Militarisierung der Bindungen mit den Regierungen im Kaukasus und Zentralasien begleitet“ (126) worden. Washingtons Ansätze zu einer engen Zusammenarbeit mit Moskau nach dem Terrorangriff auf das World Trade Center im September 2001 hätten also nur kurzfristig Bestand gehabt. Schon kurz nach 9/11 seien die Vereinigten Staaten von der Zusammenarbeit mit Russland gegen den internationalen Terrorismus abgewichen, „sie intervenierten im Irak und entfesselten eine Strategie des Regimewechsels über den ganzen Globus“ (110). Insgesamt konnte sich die nach 9/11 geschlossene russisch-amerikanische Partnerschaft wegen der „Russophobie“ der US-amerikanischen Politik und der „von der Ambition getragenen Politik Amerikas, die einzige Supermacht der Welt sein zu wollen“21, nicht weiter entwickeln.

2.4 Staatskapitalismus

Tsygankov weist zu Recht auf ein Spannungsverhältnis in der Putin-Ära hin, das zwischen dem Liberalismus in der Wirtschaftspolitik auf der einen und der autoritären und autokratischen Politik auf der anderen Seite bestand. Das Jahr 2003 ist jedoch auch in seiner Interpretation ein weiterer Meilenstein auf dem Weg Putins zur Stärkung des Zentralstaats und zu einer größeren Rolle des Staates in der Wirtschaft. Kristallisationspunkt war die „Jukos-Affäre“. Bei dieser ging es nicht nur um das staatliche Vorgehen gegen den Ölkonzern und seine Eigentümer, sondern um grundlegende politische und wirtschaftliche Fragen wie das Verhältnis Putins zu den Oligarchen, die Rolle des Rechtsstaates, das Investitionsklima und die wirtschaftspolitische Orientierung der Regierung.

Die Vorgeschichte der Affäre kann man auf den 19. Februar des Jahres datieren, auf ein vom russischen Staatsfernsehen übertragenes Treffen Putins mit 30 Wirtschaftsführern im Kreml. Der Präsident setzte die Oligarchen von der eigentlich nicht neuen, sondern dieses Mal nur schärfer und ausdrücklich formulierten Botschaft in Kenntnis, sie dürften das, was sie geklaut hätten, behalten, aber sie müssten sich aus der Politik heraushalten. Zur Überraschung aller Teilnehmer reagierte der Vorstandsvorsitzende des Jukos-Konzerns und Multimilliardär Michail Chodorkovskij mit Vorwürfen an die Adresse der staatlichen Ölfirma Rosneft und beschuldigte diese der Korruption. Dabei ging es um Ungereimtheiten bei der Übernahme des Ölkonzerns Severnaja Neft und um kursierende Gerüchte, die stellvertretenden Leiter der Kreml-Administration, Viktor Ivanov und Igor Sečin, hätten beim Zustandekommen dieses Geschäfts Eigeninteressen verfolgt. Politisch höchst brisant war an den Vorwürfen, dass die beiden Siloviki zu den engsten und treuesten Weggefährten Putins gehören, die sich schon aus den Zeiten des Kreml-Chefs beim Leningrader KGB kannten und dass Chodorkovskij durch seine Anschuldigungen indirekt den Kreml mitverantwortlich für die Korruption im Staate machte.22

Die Affäre nahm im Juni 2003 mit der Verhaftung des Sicherheitschefs von Jukos, Alexej Pičugin, unter dem Vorwurf der Anstiftung zum Mord an Brisanz auf. Im folgenden Monat wurde der Jukos-Großaktionär Platon Lebedev unter dem Vorwurf des Privatisierungsbetrugs festgenommen. Gleichzeitig wurde gegen Jukos ein Untersuchungsverfahren wegen Steuerhinterziehung eingeleitet. Im Oktober 2003 wurde Chodorkovskij dann selbst unter dem Vorwurf des Steuerbetrugs verhaftet. Kurz darauf verlor der Jukos-Konzern seine Förderlizenz für das Talakanskoe-Ölfeld in Ostsibirien, das die Grundlage für Ölexporte nach China bilden sollte. Im darauffolgenden Jahr übernahm Rosneft die wenige Tage zuvor gegründete Briefkastenfirma Baikal Finans, die wiederum Tage zuvor Juganskneftegas, die wichtigste Tochter des russischen Energiekonzerns Jukos, für sieben Milliarden Euro weit unter Wert ersteigert hatte. Die russischen Finanzbehörden hatten Jukos mit Steuernachforderungen von rund 28 Milliarden US-Dollar zum Verkauf gezwungen. Mit dem Erwerb des Filetstücks von Jukos verschaffte sich Sečins Rosneft die Grundlage für den Aufstieg zum weltweit größten Ölkonzern.

Der Autor räumt zwar ein, dass die „sogenannte“ Jukos-Affäre Russland „weiter in Richtung auf Staatskapitalismus bewegte“, aber praktisch eine Art defensive Reaktion gewesen sei, um staatliche „Souveränität“ wiederherzustellen. Das sei notwendig gewesen, denn die „Oligarchen vereinten wieder ihrer Anstrengungen, um ihre Macht wiederherzustellen und Russland sowohl direkt als auch indirekt über ihre Repräsentanten im Parlament und der Exekutive zu managen“ (122). Diese Interpretation ist eine Verkennung der tatsächlichen politischen Verhältnisse. Bereits zu diesem Zeitpunkt hatte Putin den Einfluss der Oligarchen drastisch beschnitten. Mittels der Siloviki und eines engen Zirkels von persönlichen Vertrauten hatte er die Exekutivgewalt fest im Griff und mithilfe der De-facto-Regierungspartei Einiges Russland sich auch das Parlament gefügig gemacht. Für den Versuch einer Art Machtübernahme der Oligarchen gibt es keinen Beweis – und desgleichen auch keine Anzeichen dafür, dass ein derartiger Versuch hätte erfolgreich sein können.

Zutreffend ist jedoch, dass Putins Schritt, der russländischen Verfassung Genüge zu tun und nach zweimaliger Amtszeit von je vier Jahren als Präsident sich nicht wieder zur Wahl zu stellen, sondern es seinem Karrierebegleiter und Ersten Stellvertretenden Ministerpräsidenten Dmitrij Medvedev für eine Amtszeit zu überlassen,23 einen Schritt zurück von Autokratie, starkem Staat und Zentralisierung darstellt, der allerdings enorme Folgen haben sollte.

2.5 Das Putin-Medvedev-„Tandem“

Aus Tsygankovs Darstellung geht nicht hervor, warum Putin sich nicht zu dem Schritt entschloss, sich einfach per Verfassungsänderung weitere Amtszeiten zu sichern und sich mit dem Amt des Ministerpräsidenten begnügte. Die entsprechenden Mehrheiten in der Duma und im Föderationsrat hätte er ja gehabt; so wurde schon kurz nach der Wahl Medvedevs per Verfassungsänderung die Amtszeit des Präsidenten auf sechs Jahre erhöht. Die Entscheidung Putins, Medvedev zum Präsidenten wählen zu lassen, erklärt der Autor damit, dass er (Putin) das „Gleichgewicht zwischen den Liberalen und den Siloviki [in den Machtstrukturen] wiederherstellen“ (111) wollte. Auch diese These ist zweifelhaft. Abgesehen von dem Tandem-Arrangement gibt es kein Personalrevirement auf anderen Ebenen, das dafür sprechen würde. Mehr spricht für eine andere seiner Deutungen. Putin habe mit der Auswahl Medvedevs als Tandem-Partner beabsichtigt, den Gesellschaftsvertrag auf eine wachsende Mittelklasse zu erweitern. Zu vermuten ist allerdings, dass Putin zwar Medvedev vorne auf dem Tandem sitzen und ihn strampeln lassen würde und dass dazu eine Verbreiterung der Legitimationsbasis gehören könnte, er (Putin) aber weiterhin die Richtung des Staatsgefährts vorgeben würde.

Die Richtung, die Medvedev vorgab beziehungsweise vorgeben durfte, stellte praktisch allerdings die acht Jahre der Amtszeit Putins infrage. Er diagnostizierte erhebliche strukturelle Defizite in der Wirtschaft und Gesellschaft. Er beklagte die „Kultur des Rechtsnihilismus“ in Russland, die in ihrem Zynismus auf dem europäischen Kontinent ohnegleichen sei,24 das „halbsowjetische [...] und archaische Gesellschaftssystem“ sowie die „jahrhundertealte Rückständigkeit“ und die „erniedrigende“ Abhängigkeit der russischen Wirtschaft von Rohstoffen. Die Konsequenz daraus war, dass „strukturelle Reformen nicht länger warten“ könnten. Die „Modernisierung und technologische Aufbesserung unseres gesamten Industriesektors“ müsste in Angriff genommen werden. All dies sei „eine Frage des Überlebens unseres Landes in der modernen Welt“.25

Die Modernisierungskampagne, an deren Spitze sich Medwedew stellte, war dem Wort nach eindeutig. Die Transformation der russischen Wirtschaft zu einem modernen, innovativen und wettbewerbsfähigen Industriestaat sollte mithilfe von Liberalisierung, Ermutigung privater Initiative, Abbau bürokratischer Hindernisse und Schutz von Unternehmern vor staatlicher Willkür bewerkstelligt werden. Die Modelle und Partner der Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft waren klar benannt und eindeutig im Westen zu finden. So sollte sich der Aufbau eines Innovationszentrums in Skolkovo nahe Moskau „am Modell Silicon Valley und anderen ausländischen Zentren ausrichten“.26

Praktisch bedeutete Medvedevs Richtungsvorgabe eine Rückkehr zu wesentlichen Inhalten des Neuen Politischen Denkens Gorbačevs und Kosyrevs. Das betraf auch das Verhältnis von Innen- und Außenpolitik. Wie Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre sollte Außenpolitik zur Unterstützung innenpolitischer Reformen dienen. Entsprechend wies er das Außenministerium an, „ein Programm für die effektive Nutzung außenpolitischer Faktoren für die langfristige Entwicklung der Russischen Föderation“27 auszuarbeiten. Eine enge Zusammenarbeit sollte nicht nur mit den USA in die Wege geleitet werden, sondern auch mit den europäischen Staaten. Medvedev ging auf Vorstellungen des damaligen Außenministers Frank-Walter Steinmeier ein und schloss zuerst mit Deutschland und dann mit anderen europäischen Ländern und mit der EU „Partnerschaften für Modernisierung“.

Die Richtungsvorgaben erstreckten sich auf die Politik Russlands im postsowjetischen Raum. So erklärte Außenminister Sergej Lavrov, dass die Modernisierungsstrategie unter anderem so angelegt sei, die Wahrnehmungen in den Nachbarstaaten zu verändern und Russland für sie attraktiver erscheinen zu lassen, dieses Land also, um es mit der neuen politikwissenschaftlichen Floskel auszudrücken, mit größerer Soft Power auszustatten.28 Er wiederholte zwar die russische Standardformel, dass „die früheren Republiken der Sowjetunion unsere vorrangigen Partner sind“, aber in Umkehr der von Medvedev nach dem Georgien-Krieg gebrauchten Formel von den privilegierten Interessen Russlands in diesem Raum sprach er davon, dass „Russland das Land ist, auf das sich die privilegierten Interessen [unserer Partner] konzentrieren”. Zudem erklärte er: „Die Interessen der USA und Europas in diesen Gebieten sind absolut objektiv. Das einzige, was wir wollen, ist, dass diese legitimen Interessen nicht zum Schaden von Russlands legitimen Interessen [...] und mittels legitimer, einsehbarer sowie transparenter Methoden verwirklicht werden.“29
Tsygankov schreibt zu Recht, dass aus all diesen unter Medvedevs Ägide entwickelten Ansätzen nichts wurde und „das System Putin im Dezember 2011 in eine Krise eintrat“ (155).

2.6 Krise des autokratischen Systems

Der Autor bezieht sich dabei auf die Massendemonstrationen gegen Wahlfälschungen und Wahlmanipulationen der Wahlen zur Duma vom 4. Dezember 2011, die sowohl für westliche als auch russische Beobachter ganz unerwartet aufflammten. In früheren Jahren waren zu regierungskritischen Demonstrationen lediglich einige Dutzend oder einige Hundert Teilnehmer erschienen, denen jeweils eine Armee von Sondereinheiten der Polizei gegenüberstand. Nach den Duma-Wahlen, aber auch nach den Präsidentschaftswahlen im März 2012, gingen Zehntausende von Menschen auf die Straße, die sich mit den von ihnen mitgebrachten Plakaten mit dem von dem Oppositionspolitiker, Blogger und Leiter der NGO „Fonds zur Korruptionsbekämpfung“ Alexej Navalnyj in Umlauf gebrachten Slogan von der Regierungspartei Einiges Russland als der „Partei der Schurken und Diebe“ (Partija žulikov i vorov) identifizierten und ein „Russland ohne Putin“ forderten. Das andere bedeutsame Phänomen dieser Ereignisse war die Tatsache, dass die Demonstranten zu einem großen Teil aus der Mittelklasse stammten, junge und aktive Mitgliedern einer im Entstehen begriffenen Zivilgesellschaft, international vernetzte Wissenschaftler, gut ausgebildete Fachkräften und in der Privatwirtschaft erfolgreiche Unternehmer.

Die Umfragewerte der Kreml-nahen Partei Einiges Russland waren in den vorausgegangenen Monaten stark zurückgegangen, desgleichen auch die Popularitätswerte des Präsidenten. In den Parlamentswahlen erlitt die Regierungspartei schwere Verluste und auch Putins Ergebnisse in den Präsidentschaftswahlen blieben hinter den Werten, die er 2004 für seine zweite Amtszeit erreicht hatte, klar zurück.

Die Folgerung, welche der Kreml aus der Legitimitätskrise zog, war – an seinen Gegenmaßnahmen in der Innen-, GUS- und Außenpolitik gemessen – offensichtlich: Die unter der Ägide Präsident Medwedews mittels enger Zusammenarbeit mit den USA sowie der EU und ihren Mitgliedstaaten, nicht zuletzt Deutschlands, angestrebte sozio-ökonomische Modernisierung Russlands hatte für das politische System gefährliche Erwartungen genährt. Der angeblich von westlichen Regierungen mittels ihrer Geheimdienste und „sogenannter“ NGOs auf dem Balkan und in Ostmitteleuropa verbreitete Virus der „Farbrevolutionen“ hatte begonnen, auf Russland überzuschwappen. Aus der Sicht der Moskauer Machtelite musste dieser Entwicklung im Lande selbst und in den Nachbarstaaten energisch Einhalt geboten werden. Die Maßnahmen, welche diesem Ziel entsprechend getroffen wurden, lassen sich in zwei große Bereiche unterteilen − repressive zur Abwehr pro-westlicher, demokratischer, liberaler, rechtsstaatlicher und autonomer zivilgesellschaftlicher Strömungen sowie eine anti-westliche, national-patriotische Mobilisierung, um die Legitimitätsbasis des Systems Putin zu verbreitern.

Der enge Zusammenhang, der sich hier zwischen russischer Innenpolitik und der Politik im postsowjetischen Raum mit all seinen Folgen für Moskaus Westpolitik offenbarte, bleibt allerdings bei Tsygankov unterbelichtet. Ein eigenes Kapitel, in dem eigentlich der scharfe Bruch im Verhältnis zwischen Russland und dem Westen dargestellt und interpretiert werden sollte, wird euphemistisch mit „Tensions with the West“ (189) überschrieben. Hinsichtlich der Ukraine-Politik stellt Tsygankov lapidar fest, dass sich der Kreml im Februar 2004 „aus Angst wegen einer sich verbreiternden politischen und militärischen Destabilisierung des Landes einmischte“ (198). Kommentarlos übernimmt er dann die offizielle Version Moskaus über die angebliche Notwendigkeit sowie Legalität und Legitimität nicht nur der Krim-Annexion, sondern auch der Militärintervention in der Ost-Ukraine. Dabei zitiert er Putin: „[W]enn wir sehen, dass derart unkontrollierte Verbrechen [von Kiev] auf die östlichen Regionen des Landes übergreifen und uns die Menschen um Hilfe bitten, nachdem wir auch schon offiziell eine entsprechende Bitte des legitimen Präsidenten [Viktor Janukovič] erhalten hatten, behalten wir uns das Recht vor, alle vorhandenen Mittel einzusetzen, um diese Menschen zu schützen.“ (198)30

2.7 Schlussfolgerungen

Wenn man bis fast zum Ende des Buches durchgedrungen ist, meint man, seine Quintessenz verstanden zu haben. Russland hat nur dann prosperiert, wenn es ein „starker Staat“ war, wobei dieser Begriff über mehrere Kapitel hinweg mit Autokratie gleichgesetzt wird, diese Gleichsetzung dann aber dann doch letzten Endes verschwindet. Die Sowjetunion wird als ein Gebilde mit starker Staatlichkeit behandelt, worauf eine Smuta, eine Zeit der Wirren, unter Jelzin folgte. Dann kommt Putin, überwindet das Chaos und stellt den starken Staat wieder her. Im Laufe der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise und des Putin-Medvedev-Tandems gerät der starke Staat wiederum in eine Krise, die sich im Herbst 2011 verschärft. Unklar bleibt bei dieser Argumentation, warum dies geschieht, denn wenn der Staat wirklich stark ist, dann müsste er eigentlich für Krisen unanfällig sein. Dann aber kommt völlig unvermittelt und inhaltlich unbegründet die These: „Der Form nach bleibt [Russland] ein starker Staat mit weitgehenden verfassungsmäßigen Vollmachten des Präsidenten. In der Praxis jedoch ist es ein schwacher Staat, der oft nicht in der Lage ist, seine Versprechungen zu halten.“ (207)

Was also nun, fragt sich der Leser. War das Russland Putins jemals wirklich ein starkes, konsolidiertes und leistungsfähiges Staatswesen oder war es stark immer nur „der Form nach“? Prinzipiell ist infolgedessen zu fragen, was denn eigentlich einen starken Staat ausmacht. Offensichtlich gehören dazu Institutionen, die im Rechtssystem eines Landes fest verankert sind und die sich diesem System ganz unabhängig von willkürlichen, rechtlich zweifelhaften oder rechtswidrigen politischen Eingriffen einer Einzelperson, eines Clans oder einer Clique an der Staatsspitze verpflichtet fühlen. Paradebeispiele dafür liefern gerade die USA, dessen Präsident durch Kongress, Gerichte und Strafverfolgungsbehörden am laufenden Band in die Schranken verwiesen wird. Ein starker Staat, so müsste man meinen, wird auch dadurch gekennzeichnet, dass die Handlungen seiner Institutionen und Amtsträger als rechtskonform angesehen werden, nicht also von einer „Kultur des Rechtsnihilismus“ durchzogen sind, die in ihrem „Zynismus auf dem europäischen Kontinent ohnegleichen“ ist. Zu einem starken Staat gehört, dass Gesetze und Verordnungen auch ausgeführt werden. In Putins Russland fehlt offensichtlich auch dieses Charakteristikum, wenn nach russischen Medienberichten nur 30 Prozent der Dekrete des Präsidenten ausgeführt werden (207).31 Der Autor weist zudem (zu Recht) darauf hin, dass das System Putin von verschiedenen „institutionellen Mängeln“ gekennzeichnet sei, von Korruption, Ineffizienz der Verwaltung, Aufschub dringend gebotener Reformen, Entmutigung lokaler Initiativen und einer politischen Führung, die nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann (206-211). Da diese Merkmale ja nicht über Nacht entstanden sind, liegt der Schluss nahe, dass es sich bei Russland schon in den ersten beiden Amtszeiten Putins nicht um einen starken Staat mit legitimen, leistungsfähigen und unabhängigen Institutionen gehandelt hat, sondern um eine Variante von Autoritarismus mit schwachen staatlichen Institutionen (weak state authoritarianism).32

Im Großen und Ganzen liest sich das Buch trotz der Darstellung der diversen Defizite des Systems, das Putin geschaffen hat, wie eine Apologie des autoritären Zentralstaats. Russland brauche den starken Zentralstaat, und wenn sich auch „das Modell des starken Staates [derzeit] in einer tiefen institutionellen Krise befindet, ist es doch in den Köpfen der Menschen wohlauf“ (209 f.). Einige der Schlussfolgerungen würden infolgedessen auch dem Kreml behagen – so beispielsweise, dass man sich „wegen der Notwendigkeit für Russland, eine starke Exekutive und Kontinuität der Regierungsführung zu sichern, ein System mit einer längeren Amtszeit des Präsidenten vorstellen kann, sagen wir mal, eine Amtszeit für zehn Jahre“. Während im Kreml dieser Ratschlag zumindest öffentlich noch nicht diskutiert worden ist, hat er einen anderen des Autors bereits befolgt: „Die Qualität der Eliten zu verbessern hängt weniger davon ab, dass sie materiell belohnt werden, sondern von der Formulierung neuer patriotischer Werte.“ (211)33

3. Regimewechsel unter autoritären Vorzeichen

3.1 Das Ziel: Machtmaximierung

Die Frage, wie es zur Ausprägung eines autoritären Systems kommen konnte, stellt sich auch Vladimir Gel’man in Authoritarian Russia: Analyzing Post-Soviet Regime Changes. Der Autor wurde 1965 in Leningrad geboren. Sein akademischer Hintergrund ist sowohl das Ingenieurswesen, ausgewiesen durch ein Diplom des Leningrader Politechnischen Instituts 1988 und zehn Jahre später den Ph.D. (kandidat nauk) in Politischer Wissenschaft von der GelmanStaatlichen Universität in St. Petersburg. Auf dem Buchumschlag ist er als Professor für Politische Wissenschaft an der Europäischen Universität in St. Petersburg und Distinguished Professor am Aleksanteri Institut für Russland- und Osteuropastudien der Universität Helsinki sowie als Autor und Herausgeber von mehr als zwanzig Büchern auf Russisch oder Englisch aufgeführt.

An der Antwort auf die obige Frage zeigt sich aber, dass so manche Bücher mit dem Anspruch an Wissenschaftlichkeit und dem lobenswerten Bemühen um Theoriebildung, Synergie und Komparabilität unterschiedlicher Systeme nicht nur knochentrocken, sondern auch kaum lesbar sind. Gel’man schreibt: „Der Entwicklungspfad des politischen Regimes in Russland war − ganz unabhängig von den Entscheidungen wichtiger Akteure − nicht von Anfang an vorausbestimmt, aber gleichzeitig sollte man den Akteuren weder guten noch bösen Willen bei der Entscheidungsfindung unterstellen. Dieses Denkmuster wäre zu einfach, unvollständig und oft falsch. Mein Ansatz beruht auf der Annahme, dass − obwohl strukturelle Begrenzungen den Akteuren bei den verfügbaren Optionen unweigerlich größere Grenzen setzen – diese [Akteure] im postsowjetischen Russland wie auch anderswo ihre strategischen Prioritäten auf eine Kombination von verfügbaren Ressourcen, Perzeptionen und vorangegangenen Strategien gründen, und dass sie unter diesen Bedingungen das Ziel der Machtmaximierung anstreben. Manchmal waren die verfolgten Optionen hinsichtlich der Vorteile für die Akteure erfolgreich, sie [die Erfolge] brachten aber größere gesellschaftliche Kosten mit sich; andererseits gab es auch Fälle, wo das Gegenteil der Fall war [...]. Die meisten der früheren Spielregeln wurden irrelevant, und die Gelegenheiten der Akteure für die Anwendung von Gewalt gegeneinander und die Gesellschaft als Ganzes wurden begrenzter [...].“ (46)

Wie dem auch sei, wenn Gel’man die theoretisierenden Abstraktionen verlässt und sich mit der Empirie beschäftigt, wird es doch spannend – was natürlich auch mit der Materie selbst zusammenhängt. Beispielhaft im wörtlichen wie im übertragenen Sinne ist seine Untersuchung der Vorgänge im Russland im Herbst und Winter 1993. Dieser Zeitabschnitt war, wie er schreibt, eine wichtige Weggabelung, die den Entwicklungspfad Russlands bis heute bestimmt hat.

3.2 Worum ging es und mit welchen Folgen?34

Im Herbst 1993 schlitterte Russland in eine ernste Verfassungskrise. Diese begann am 21. September, als Boris Jelzin die noch (theoretisch) gültige Verfassung der Russischen Sozialistischen Föderativen Republik (RSFSR) aus dem Jahre 1978 verletzte und per Dekret den gesetzgebenden Kongress der Volksdeputierten sowie dessen Obersten Sowjet auflöste, die sein Bestreben verhindert hatten, seine Macht zu festigen und Reformen durchzusetzen. Im Juli hatte eine von Jelzin einberufene Verfassungskonferenz einen Verfassungsentwurf vorgelegt, der eine parlamentarische Demokratie, basierend auf pluralistischen, föderalen, rechtsstaatlichen, marktwirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Prinzipien, beinhaltete. Das immer noch den Sowjettraditionen anhängende Parlament verweigerte sich jedoch dem Verfassungsentwurf, woraufhin Jelzin es per Dekret auflöste und für den 12. Dezember Neuwahlen sowie eine Volksabstimmung über die von der Verfassungskonferenz neu entworfene Verfassung ankündigte. Der Volksdeputiertenkongress wies Jelzins Dekret zurück und entschied, ihn durch ein Verfahren seines Präsidentschaftsamtes zu entheben. Sein ihm entfremdeter Vizepräsident Alexander Ruzkoj wurde der existierenden Verfassung gemäß zum amtierenden Präsidenten vereidigt. Ruzkoj wiederum ernannte als Teil einer Gegenregierung einen eigenen Verteidigungsminister. Russland wurde infolgedessen einer Doppelherrschaft (dvoevlastie) ausgesetzt.

Am 28. September begannen öffentliche Proteste gegen Jelzins Regierung in den Straßen Moskaus, wobei es zu erstem Blutvergießen kam. Die Volksdeputierten verbarrikadierten sich im Weißen Haus, damals das Parlamentsgebäude. Die Stadtverwaltung schnitt es von der Strom- und Wasserversorgung ab und Polizeieinheiten sperrten es weiträumig ab, sodass mit Ausnahme von Journalisten niemand in die Nähe des Gebäudes gelangen konnte. Die Parlamentarier sollten auf diese Weise gezwungen werden, das Weiße Haus zu verlassen. Diese widerstanden dem Druck fast zwei Wochen lang, bis am 3. Oktober Teile ihrer Anhänger nach einer Demonstration die Absperrung um das Weiße Haus durchbrachen. Ruzkoj rief die Menge auf, das Bürgermeisteramt von Moskau und das Fernsehstudio Ostankino zu besetzen. Russland befand sich am Rande eines Bürgerkrieges.

Der bewaffnete Sturm seiner Anhänger auf den Fernsehsender scheiterte jedoch noch an demselben Tag nach heftigen nächtlichen Kämpfen. Die höheren Kommandoebenen der Armee und der Sicherheitsdienste unterstützten Jelzin, was letztlich den Ausgang der Krise entschied. Dem Präsidenten gegenüber loyale Truppen belagerten das Parlamentsgebäude, beschossen es mit Panzergranaten und zerstörten es dadurch fast. Ein Großteil der Deputierten floh. Am 5. Oktober fiel der bewaffnete Widerstand gegen Jelzin in sich zusammen. Der zehn Tage andauernde Konflikt war seit der Oktoberrevolution 1917 der Straßenkampf mit den meisten Toten in Moskau. Laut Angaben der Regierung starben bei der Krise 187 Menschen, 437 wurden verletzt, fast alle waren Unterstützer des Kongresses.35

Am 12. Dezember billigte die russische Bevölkerung per Volksabstimmung die neue Verfassung Russlands, eine Präsidialdemokratie auf dem Papier, und bei den gleichzeitig abgehaltenen Neuwahlen wurde der Kongress der Volksdeputierten von einem neugeschaffenen Zweikammerparlament (Duma und Föderationsrat) abgelöst. Das Amt des Vizepräsidenten wurde abgeschafft.

Die Wahlen waren von massiven Manipulationen und dem umfangreichen Einsatz „administrativer Ressourcen“ einschließlich des landesweiten Fernsehens zugunsten Jelzins gekennzeichnet. Nutznießer bei der Parlamentswahl sollten die den Präsidenten unterstützenden Parteien wie Jegor Gajdars Die Wahl Russlands und Grigorij Javlinskijs Jabloko sein. Die Gegner Jelzins errangen aber erneut die Mehrheit. Die tatsächlichen Ergebnisse sowohl des Referendums als auch der Parlamentswahl mit detaillierten Angaben bis zu den einzelnen Wahlbezirken wurden nie veröffentlicht. Einige Monate nach den Abstimmungen ordnete die Zentrale Wahlkommission sogar an, die Wahlzettel zu vernichten. „Infolgedessen“, schreibt Gel’man, „wurde es unmöglich, die wahre Identifikation der Öffentlichkeit bei der Wahl zu ergründen und wir werden niemals wissen, wie die Russen wirklich im Dezember 1993 abstimmten.“36

Ganz genau werden wir es vielleicht nie wissen, aber doch zumindest annähernd. Offizielle Ergebnisse wurden von der Zentralen Wahlkommission veröffentlicht.37 Aus diesen geht hervor, dass der von demokratisch und reformerisch orientierten Kräften als „rot-brauner Sumpf“ bezeichnete Block aus Nationalisten, Chauvinisten und „Eurasiern“, „Eurasisten“38 der Liberal-Demokratischen Partei Russlands (LDPR), der der Sowjetunion und dem Sowjetimperium nachtrauernden Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF) und der mit ihr verbündeten Agrarpartei als Gewinner aus der Wahl hervorging. Die LDPR erzielte mit 22,92 Prozent der abgegebenen Stimmen das beste Ergebnis; die KPRF erhielt 12,4 Prozent und die Agrarier bekamen 7,99 Prozent, die Rot-Braunen also insgesamt 43,29 Prozent der Stimmen. Wenn es zutrifft, dass diese (offiziellen) Zahlen nicht getreulich die Wirklichkeit widerspiegeln, ist anzunehmen, dass sie von den von der Exekutive eingesetzten Wahlkommissionen zugunsten Jelzins und der reformistisch-demokratischen Parteien beschönigt wurden und Die Wahl Russlands (15,5 Prozent) und Jabloko (7,86 Prozent) in Wirklichkeit noch schlechter als offiziell angegeben abschnitten.

Gel’man verliert kein Wort über die internationalen Zusammenhänge und Wechselbeziehungen zwischen russischer Innen- und Außenpolitik weder vor noch nach dem Referendum und der Parlamentswahl.39 Dabei stellt der Zeitabschnitt vom Herbst 1992 bis Winter 1993 einen schicksalhaften Wendepunkt nicht nur in der russischen Innenpolitik, sondern auch in der Außenpolitik dar. In diesem Zeitabschnitt wurde der Entwicklungspfad Russlands entscheidend vorgezeichnet. Die entsprechenden Zusammenhänge, um hier an die bei der Besprechung des Buches von Tsygankov dargestellte Entstehung eines „patriotischen Konsenses“ anzuknüpfen, lassen sich wie folgt charakterisieren:

Die Kritik an dem pro-atlantischen Kurs Kosyrevs blieb nicht ohne Wirkung auf die „Grundzüge der Außenpolitik Russlands“, einem außenpolitischen Konzept, das erst nach mehreren Entwürfen in einem von scharfen Auseinandersetzungen geprägten Prozess ab Anfang 1992 von einer neu gegründeten, ressortübergreifenden Kommission des Nationalen Sicherheitsrats im April 1993 endgültig abgesegnet wurde.40 Neues und altes Denken vermischten sich in diesem Dokument. Die Verwässerung der prowestlichen Ausrichtung der russischen Außenpolitik und Rückkehr zu geopolitischen Ansätzen war aber offensichtlich. Der Reintegration der neuen unabhängigen Staaten des postsowjetischen Raumes durch verstärkte multilaterale wirtschaftliche, politische und sicherheitspolitische Kooperation im Rahmen der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) sowie dem Schutz der russischen Minderheiten wurde Vorrang eingeräumt. Ein „einheitlicher militärstrategischer Raum” sollte auf dem Territorium der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) geschaffen werden. Drittstaaten wurden davor gewarnt, eine militärpolitische Präsenz im GUS-Raum aufzubauen – zweifellos eine Warnung an die NATO, sich aus diesem Raum herauszuhalten. Der postsowjetische Raum wurde somit de facto zu einer russischen Einflusssphäre deklariert. Entsprechend wandte sich Jelzin an „autoritative internationale Organisationen, die Vereinten Nationen eingeschlossen, Russland Sonderrechte als Garantie[macht] für Frieden und Stabilität [...] auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion einzuräumen“. Wie ein roter Faden zieht sich diese russische Version der Monroe-Doktrin von der Jelzin-Ära zur Gegenwart, mit dem Unterschied allerdings, dass Putin, wie die Militärinterventionen in Georgien, auf der Krim und in der Ost-Ukraine bewiesen, keine internationale Organisation um Autorisierung bittet, sondern ein unilaterales Recht auf Intervention in Anspruch nimmt.41

Die Wende in den außen- und sicherheitspolitischen Konzeptionen wurde auch in einer Studie des russischen Auslandsgeheimdienstes (SVR) unter Leitung von Evgenij Primakov (ab Januar 2006 Außenminister und von September 1998 bis Mai 1999 Premierminister) deutlich. In dem im November 1993 vorgestellten Dokument wird die NATO als die „größte militärische Gruppierung der Welt, die ein enormes Offensivpotential besitzt“, bezeichnet. Der westlichen Militärallianz wurde unterstellt, „den Stereotypen des Blockdenkens“ verhaftet zu sein und sie wurde eindringlich davor gewarnt, sich nach Osten auszudehnen.42 Die Präferenz des Auslandsgeheimdienstes war eindeutig: Ein System der „kollektiven Sicherheit“ sollte geschaffen werden, „das irgendwie zwischen der NATO einerseits und der KSZE und den Vereinten Nationen andererseits liegen würde“. Jelzins Pressesprecher warnte sogar, dass der Ausbau der NATO in Gebiete in unmittelbarer Nähe zur russischen Grenze zu einer „militärpolitischen Destabilisierung der Region“ führen würde.43

3.3 Konsequenzen des Konzeptionswandels

Eine erste deutlich sichtbare Folge des Konzeptionswandels und der innenpolitischen Veränderungen in der Außenpolitik betraf das Verhältnis zu Japan. Analog zu der Neuordnung der Beziehungen Russlands zu Deutschland wollten die Reformkräfte auch das Verhältnis zu Japan von Grund auf neu gestalten. Dazu war es notwendig, eine Lösung des leidigen Konflikts um die Südkurilen herbeizuführen, wozu die Regierung auch bereit war. So hatte der stellvertretende Ministerpräsident Michail Poltoranin im August 1992 auf einer Pressekonferenz in Tokio vorgeschlagen, zu einer im Jahre 1956 vereinbarten, aber nie umgesetzten Regelung zurückzukehren, wonach Russland zwei der kleineren Inseln der Südkurilen im Austausch für den Abschluss eines Friedensvertrages und eine Normalisierung der Beziehungen zurückgegeben würde und der Status der anderen beiden Inseln später bestimmt werden sollte. Dieses Paket sollte Jelzin bei seinem für den 13. September geplanten Besuch in Japan vereinbaren. Doch vier Tage davor wurde der Besuch abrupt abgesagt. Die Entscheidung dazu wurde auf einer Dringlichkeitssitzung des von konservativen Kräften beherrschten Nationalen Sicherheitsrat getroffen. Die Opposition zum Reformkurs, bestehend aus hochrangigen Offizieren und Beamten der Militär- und Geheimdienste, hatte sich offensichtlich durchgesetzt und ein Veto gegen irgendwelche Zugeständnisse an Japan hinsichtlich der umstrittenen Inseln eingelegt. Jelzins Sprecher deutete dies kurz vor der offiziellen Ankündigung über die Streichung der Reise an, als er erklärte, dass ein Treffen des Rates zu diesem Thema „unter großen Schwierigkeiten“ vorangegangen sei.44 Ein späterer Besuch, der für Mai 1993 geplant war, wurde ebenfalls auf unbestimmte Zeit verschoben. Erst im Oktober 1993 fand er statt. Allerdings brachte er keinerlei Fortschritte bei der Lösung der Territorialfrage.

Eine der wichtigsten internationalen Konsequenzen der Duma-Wahl vom Dezember 1993 mit dem starken Abschneiden der rot-braunen Kräfte war das Aufflammen der Diskussion darüber, ob das neue Russland nicht das Schicksal der Weimarer Republik erleiden würde. Stalin hatte ja den fatalen Fehler begangen, bis zum Weltkongress der Kommunistischen Internationale (Komintern) im Juli 1935 nicht die Faschisten, sondern die Sozialdemokraten („Sozialfaschisten“) als Hauptgegner international zu bekämpfen. In Deutschland unterlagen die demokratischen Kräfte schließlich dem Ansturm von NSDAP und KPD im Parlament und von Rotfront und SA auf den Straßen. Die Befürchtungen einer Wiederholung der Geschichte in Russland waren insbesondere in den baltischen Staaten groß. Im Vorlauf der Duma-Wahlen hatte Žirinovskij dazu einen wesentlichen Beitrag mit seiner Drohung geleistet, um die Balten zur Räson zu bringen, werde er zwar nicht militärisch intervenieren, aber „radioaktive Abfälle entlang der litauischen Grenze platzieren, starke Ventilatoren aufbauen und das Zeug über die Grenze blasen“. Die Menschen dort „würden alle Strahlenkrankheiten bekommen [und] entweder daran sterben oder auf die Knie [vor uns] fallen.“45 In Anbetracht der innenpolitischen Entwicklung in seinem Nachbarland ist es nicht verwunderlich, dass Litauen als erstes ehemals zum Territorium der Sowjetunion gehörendes Land am 4. Januar 1994 offiziell den Antrag auf Mitgliedschaft in der NATO stellte. Diese Zusammenhänge sind insofern von Bedeutung, als sie das eingangs erwähnte Narrativ Moskaus entkräften, die NATO habe sich in aggressiver Absicht nach Osten ausgedehnt. Zutreffend ist vielmehr, dass sich die Nachbarstaaten Russlands westliche Sicherheitsgarantien verschaffen wollten.

Das Wiedererstarken rückwärtsgewandter Kräfte wirkte sich nicht nur auf das Verhältnis Moskaus zur NATO, sondern auch auf andere Bereiche der russischen Außenpolitik aus. Der Kreml zeigte geringe Neigung, die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und ihrer Trägermittel mittels Sanktionen gegen den Irak, Iran und Nordkorea mitzutragen. Es kritisierte die US-amerikanischen Pläne zum Aufbau einer nationalen Raketenabwehr (NMD) und dem damit verbundenen Schicksal des ABM-Vertrags und der Verträge über die Begrenzung von nuklearen Offensivwaffen (START I und START II). Die geopolitische Konkurrenz begann wieder aufzuleben, nicht nur in Ostmitteleuropa und im Baltikum, sondern auch auf dem Balkan, im Kaukasus und in Zentralasien.

Wichtig für das Verständnis des Zusammenhangs zwischen russischer Innen- und Außenpolitik ist auch die Entwicklung der russischen Haltung und Politik auf dem Balkan. Nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens und dem Beginn der Balkankriege im Frühjahr 1991 stellten sich die nationalistischen und kommunistischen Kräfte auf die Seite des slawischen, christlich-orthodoxen Serbiens, einem traditionellem Verbündeten des Zarenreichs und Teil einer von Moskau beanspruchten Einflusssphäre. Die national-patriotische Opposition polemisierte gegen die Einbeziehung der NATO in die Konfliktregulierung, um den Schutz der Blauhelmtruppen und die Überwachung von Flugverbotszonen zu gewährleisten, sowie die Drohungen der NATO, Luftangriffe auf Stellungen der bosnischen Serben im Belagerungsring um Sarajewo zu führen. In einem aus innenpolitischen Gründen von Jelzin als notwendig erachteten Balanceakt stellte sich der russische Präsident verbal voll und ganz hinter Slobodan Milošević und die Serben, arbeitete aber in der Praxis mit den USA, der EU und der NATO zusammen. Typisch für diese Haltung war, dass sich Jelzin nach dem durch bosnisch-serbische Artilleriegeschosse verursachten Massaker auf dem Marktplatz von Sarajewo im August 1995 und den daraufhin von der NATO Anfang September 1995 durchgeführten Luftangriffen gegen serbische Stellungen zu dem Vorwurf verleiten ließ, die NATO betreibe „Genozid an den Serben“ und „beschwöre die Flamme eines neuen Weltkriegs über Europa“ herauf, die Friedensgespräche in Dayton überließ Russland dann aber nahezu vollständig den USA. Russland stimmte den Ergebnissen der Verhandlungen zu und beteiligte sich sogar aktiv an der Implementierung des Abkommens mit Truppen an der von der NATO geführten IFOR/SFOR.46

3.4 Schlussfolgerungen zum Verhältnis von Innen- und Außenpolitik in der Jelzin-Ära

Um die Wechselwirkungen zwischen Innen-, Nahem Ausland- und Außenpolitik in der Jelzin-Ära zu verstehen, sollte man weniger bei internationalen Interessengegensätzen ansetzen, auch wenn diese objektiv bestanden, sondern bei inneren Machtfaktoren. Die Charakterisierung der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen als partnerschaftlich, die Abwertung militärischer Instrumente und verbunden damit die Aufwertung wirtschaftlicher und technologischer Mittel der Einflussnahme in der internationalen Politik benachteiligten tendenziell all diejenigen Institutionen und Kräfte im Konkurrenzkampf um knapper werdende Ressourcen, welche die Größe Russlands mit militärischer Macht gleichzusetzen pflegen: das Militär, die Sicherheitsdienste und den militärisch-industriellen Komplex. Den Ministerien, Ämtern und Betrieben des immer noch weit gespannten, aber maroden Netzwerks politischer und wirtschaftlicher Macht offensichtlich daran gelegen, konzeptionelle Grundlagen für größere Mittelzuweisungen zu schaffen. Diesem Interesse war Entspannung mit dem Westen abträglich. Die Rückkehr zur Wahrnehmung der NATO als „offensives“ Militärbündnis, das „immer näher an Russlands Grenzen“ heranrückt, passte dazu ebenso wie die Aufrechterhaltung einer über eine Million Mann umfassenden Massenarmee, die sich auf einen „großmaßstäblichen Krieg“ (im Klartext mit der NATO) vorbereiten müsse.

Der unter Jelzin eingeschlagene Entwicklungspfad hin zu Autoritarismus und Abkehr von Zusammenarbeit mit dem Westen ist auch nicht ohne Rückgriff auf – wenn auch unscharfe – psychologische und psychopathologische Kategorien zu verstehen. Der Verlust von einer mit den USA im militärstrategischen Bereich ebenbürtigen und bei den konventionellen Waffen in Europa überlegenen Position, der Zerfall des weitverzweigten Weltreichs von Kuba bis Vietnam, der Zusammenbruch der Sowjetherrschaft in Ostmitteleuropa, die Auflösung der Sowjetunion und schließlich der wirtschaftliche und soziale Abstieg Russlands waren offensichtlich schwer zu begreifen und zu verkraften. Es war infolgedessen eigentlich zu erwarten, dass es zu politischen Krankheitserscheinungen kommen würde und dass sich aus dem verletzten Nationalstolz nationalistische Strömungen formieren würden. Vorzuwerfen ist Jelzin allerdings, dass er sich nicht bemühte, den nationalistischen Strömungen Einhalt zu gebieten, sondern sie treiben ließ, ja, dass er sich sogar mit ihnen identifizierte − mit der Konsequenz, dass sich die außenpolitische Praxis dem neuen Konsens beugte.

In seiner Zusammenfassung der Entwicklungen in der Jelzin-Ära schreibt Gel’man, dass dem Entstehen eines voll ausgeprägten autoritären Systems noch zwei Hindernisse entgegenstanden: die Schwäche des Staates und seiner Institutionen sowie die Fragmentierung seiner Machtelite. In der Putin-Ära sollten beide Hindernisse beseitigt werden.

3.5 Putins Autoritarismus

Das System, das Putin in Russland geschaffen hat, nennt Gel’man „auf Wahlen beruhenden Autoritarismus“ (electoral authoritarianism). Putin habe erkannt, dass es unmöglich ist, im 21. Jahrhundert ein nach Peter dem Großen oder Stalin modelliertes System aufzubauen, allein schon deswegen, weil es ineffizient wäre. Er bemühe sich infolgedessen, dem Regime Legitimität zu verschaffen. Dies geschehe durch eine Art Gesellschaftsvertrag, dem zufolge sich das Volk aus der Politik heraushalten solle, was die Herrschaftselite mit Verbesserung des Lebensstandards honoriere. In Wahlen solle die Zustimmung des Volkes dokumentiert werden. Das sei in der Sowjetunion nicht anders gewesen. Der wichtige Unterschied sei allerdings, dass es im Russland Putins tatsächlich breite Unterstützung für das von ihm geschaffene System gebe. Trotz dieser Tatsache seien auch heute massive Wahlfälschungen an der Tagesordnung, die wiederum nur die Spitze des Eisbergs seien.

Eine Reihe von institutionellen und politischen Faktoren trügen zur Herstellung der Scheinlegitimität bei. Dazu gehörten die hohen Barrieren für die Teilnahme von Parteien und unabhängigen Kandidaten an den Wahlen – in den Parlamentswahlen vom Dezember 2011 eine Hürde von sieben Prozent, die danach wieder auf fünf Prozent gesenkt wurde; hohe Anforderungen für die Registrierung von Parteien und Kandidaten – 200.000 Unterschriften für Parteien und drei Prozent eines Wahlbezirks für Direktkandidaten; massiver Einsatz „administrativer Ressourcen“ zur Diskreditierung von zugelassenen Parteien und Kandidaten, angefangen von Behinderungen von Wahlveranstaltungen bis hin zur Ausstrahlung von kompromittierenden Videos aus dem Privatleben von Kandidaten; direkte und indirekte Finanzierung von Wahlaktivitäten der Parteien und Kandidaten, die dem Kreml genehm sind; Verwerfung von Anfechtungen der Wahlergebnisse durch (nach der Beseitigung der Gewaltenteilung) der Exekutive hörige Gerichte; das Verbot unabhängiger Wahlbeobachtung durch Organisationen wie Golos, die als „ausländische Agenten“ gebrandmarkt werden; und schließlich das Bemühen, die Bezeichnungen der OSZE-Wahlbeobachtungsmission der Wahlen als unfrei, unfair und intransparent mittels Berichte der dem Kreml genehmen Wahlbeobachtungsmissionen wie der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), der Shanghai Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) und der Organisation der Vertragsstaaten für kollektive Sicherheit (OVKS) (95-96).47

3.6 Die Jukos-Affäre

Wie für Tsygankov ist die Jukos-Affäre auch für Gel’man ein Meilenstein auf dem Weg zur Herausbildung eines autoritären Herrschaftssystems. Allerdings erkennt Gel’man ihre Bedeutung weit klarer. Für ihn war die Affäre „ein Wendepunkt im Verhältnis zwischen dem Staat und der Privatwirtschaft“ und der Beginn einer „grundlegenden Neuordnung von Eigentumsrechten“. Das instabile Equilibrium zwischen staatlichen Funktionsträgern und privaten Unternehmern sei beseitigt worden. Nachdem Putin und ein kleiner Kreis von Freunden und Anhängern aus seiner Zeit in St. Petersburg die staatlichen Institutionen erobert hätten („state capture“), bemächtigten sich diese und die staatlichen Amtsträger nun auch der Privatwirtschaft („business capture“). Nach der Jukos-Affäre seien die Privatunternehmer noch mehr als in der Vergangenheit bereit gewesen, ihr Vermögen oder wichtige Teile davon dem Staat zu übergeben, um ihre Freiheit zu bewahren (97).

Auch die Frage, warum Putin 2007-2008 nicht von dem auf Scheinwahlen beruhenden Autoritarismus zu seiner vollgültigen und repressiveren Form überging, nicht von Duma und Föderationsrat die verfassungsgemäße Beschränkung der Amtszeit des Präsidenten auf vier Jahre über Bord werfen ließ und Medvedev dagegen für die Übergangszeit von vier Jahren als Präsident installieren ließ, beantwortet Gel’man überzeugender als Tsygankov.

3.7 Das Putin-Medvedev-„Tandem“

Gel’man zufolge war sich Putin zwar der Risiken bewusst, die das Tandem-Arrangement mit sich bringen könnte. Der Nachfolger, auch wenn vorgesehen war, dass er nur für eine begrenzte Zeit amtieren würde, könnte sich gewissermaßen außerplanmäßig verhalten. Er musste aber die Risiken und Kosten bedenken, welche die Rückkehr zu einem unbeschönigten, „traditionellen“ Autoritarismus nach sich ziehen könnten. Das System Putin könnte zu dem Alexander Lukašenkos in Belarus oder Islam Karimovs in Usbekistan verkommen, seine Legitimität würde sowohl innen- wie auch außenpolitisch großen Schaden nehmen. Keines der drei Modelle autoritärer Herrschaft des 20. Jahrhunderts – seine auf die Staatsbürokratie, das Militär oder ein Parteimonopol gestützte Ausprägungen – passte zu den bereits geschaffenen Institutionen. (106) Zudem schienen die Risiken mit Medvedev begrenzt zu sein, denn er stand im Grunde genommen immer im Windschatten Putins und galt nicht als besonders willens oder fähig, sich durchzusetzen.

Trotz alledem, so Gel’man weiter, brachte die Tandem-Konstruktion ungeplante Folgen mit sich. Die mittleren und unteren Ebenen der Machtvertikale wurden durch Medvedevs Modernisierungskampagne verunsichert. Sie fanden es nicht leicht, zwei anscheinend unterschiedlichen Herrschern zu dienen. Im geistig regen Teil der Mittelklasse außerhalb der Staatsbürokratie wurden die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Reformimpulse begierig aufgenommen, diese führten aber zu nichts, weil sie von den erstarkten konservativen Kräften in der Machtelite ausgebremst wurden. Zudem war überdeutlich, dass der Premier zwar sozio-ökonomischer Modernisierung das Wort redete, aber jegliche Diskussion über begleitende politische Reformen tunlichst vermied. (106)

Die enttäuschten Erwartungen kamen im Herbst und Winter 2011 voll zum Ausbruch. Am 24. September verkündete Medvedev mit Blick auf die Wahlen zur Duma am 4. Dezember und den Präsidentschaftswahlen am 4. März 2012 vor rund 11.000 Aktivisten zum Wahl-Kongress der Kreml-nahen Partei Einiges Russland im Moskauer Sportstadion Lužniki, dass er mit Rücksicht auf Putins „etwas höheren Zustimmungswert“ in der Vladimir Putin Medvedvev 23 April 2008 3 Presidential Press and Information OfficeVladimir Putin und Dmitri Medvedvev, hier am 23. April 2008, wird vorgeworfen, beim Ämtertausch die Öffentlichkeit zynisch manipuliert zu haben. Foto: Presidential Press and Information Office (Wikimedia Commons)Gesellschaft auf eine eigene Kandidatur zum Präsidentenamt verzichte. Medvedev zufolge gründete diese Entscheidung „auf einer tief durchdachten und vor langer Zeit erfolgten Vereinbarung“ zwischen ihm und Putin, die wohl schon auf die Zeit vor Oktober 2006 zurückging, als Letzterer ankündigte, er werde nicht für eine dritte Amtszeit kandidieren.48

Die Entscheidung rief tiefe Enttäuschung unter demokratisch gesinnten und reformistischen Kräften in der russländischen Politik und Gesellschaft sowie unter westlichen Regierungen und in der öffentlichen Meinung hervor. Es war nicht nur die Entscheidung selbst, die dafür den Grund lieferte, sondern die Tatsache, dass die beiden Politiker über Monate hinweg der Diskussion darüber, ob Medvedev kandidieren und ob es zu einem Wettstreit zwischen zwei verschiedenen politischen Richtungen kommen würde, freien Lauf gelassen hatten. Der nach eigenen Angaben der Machtinhaber lange vorher beschlossene Ämtertausch wurde als erniedrigende und zynische Manipulation der Öffentlichkeit betrachtet.

Wie im Zusammenhang mit Tsygankovs Untersuchung festgestellt, waren die Folgerungen, welche der Kreml aus der Legitimitätskrise zog, in der Innen-, GUS- und Außenpolitik gemessen, offensichtlich. Gel’man schreibt, dass Medvedevs Modernisierungskampagne für das politische System gefährliche Erwartungen genährt habe. Die objektiven Gefahren einer Infektion des russischen Staatswesens mit dem Virus der „Farbrevolutionen“ seien zwar gering gewesen, aber aus Sicht der Moskauer Machtelite dennoch real. Sie hätten die Konsequenzen der innenpolitischen Liberalisierungskampagne Michail Gorbačevs (und der pro-westlichen Orientierung seiner Außenpolitik) vor Augen gehabt und entsprechend gehandelt. Der Kreml schlug deshalb zurück. (123)

Wie Tsygankov lässt auch Gel’man den engen Zusammenhang zwischen russischer Innenpolitik und der Politik im postsowjetischen Raum und die sich bereits im Herbst 2011 abzeichnende Umorientierung von europäischer und transatlantischer Zusammenarbeit zu „eurasischer“ Integration nahezu völlig außer Acht.49 Es wäre richtig gewesen, auf den von Putin am 3. Oktober 2011 in der Izvestija veröffentlichten Artikel einzugehen, in dem er vorschlug, auf der Basis der Zollunion Russland, Belarus und Kasachstan zu einer engeren Koordinierung der Wirtschafts- und der Währungspolitik überzugehen und eine vollwertige Wirtschaftsunion herzustellen.50 Analog zur Europäischen Union sollte das eurasische Integrationsprojekt nicht auf rein wirtschaftliche Fragen begrenzt werden, sondern ganz offensichtlich eine politische Dimension erhalten. Aufgrund der Tatsache, dass Putin als Wahlsieger aus den für März 2012 anberaumten Präsidentschaftswahlen hervorgehen würde, war klar, dass die Re-Integration des postsowjetischen Raums unter russischer Führung eine Priorität seiner dritten Amtszeit werden würde. Die Gefahr, dass ein Konkurrenzprojekt zur Europäischen Union entstehen würde, das die Ausbreitung „europäischer“ Normen und Strukturen auf den „eurasischen“ Raum verhindern sollte, verschärfte sich. Dass dies ein wichtiger Hintergrund für Putins Ukraine-Politik bis hin zur Annexion der Krim und der Militärintervention in der Ostukraine ist, kommt bei Tsygankov andeutungsweise, bei Gel’man überhaupt nicht zum Ausdruck.


4. Der postsowjetische Raum: das neue russische Imperium

Der postsowjetische Raum spielt allerdings in dem Buch Beyond Crimea − The New Russian Empire von Agnia Grigas eine zentrale Rolle. Wie Tsygankov und Gel’man hat Grigas einen „sowjetischen“ Hintergrund, allerdings keinen ethnisch und kulturell russischen, sondern einen litauischen. Geboren 1979 in Kaunas als Agnia Baranauskaitė, emigrierte sie 1989 mit ihrer Mutter in die USA, studierte an Grigasder Columbia University in New York, erhielt dort 2002 ihren Bachelor of Arts cum laude in Economics and Political Science, 2006 einen M.Phil. in International Relations vom St. Antony’s College in Oxford und 2011 und einen Doktorgrad in International Relations vom Brasenose College, ebenfalls in Oxford.

Mit ihrem baltischen Hintergrund, von der Warte eines Zielobjekts der Politik Moskaus, ist Grigas gut ausgestattet, sowjetischen und russischen Imperialismus in Eurasien als Forschungsgegenstand zu behandeln. Den konzeptionellen Ansatz ihrer Analyse hat sie klar formuliert. Die Verstärkung des russischen Einflusses auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion und die Wiedereingliederung „verlorener“ Landgebiete (reimperialization) seien nicht Mittel zu einem bestimmten Zweck, wie beispielsweise Russland als „Großmacht“ wiederaufleben zu lassen, sondern eigenständiges Prinzip. Dabei ginge es um mehr, als die Integration der ehemaligen Sowjetrepubliken in die NATO und EU zu verhindern. Sie bekennt sich zur Realistischen Schule der internationalen Politik, der zufolge das Hauptinteresse eines Staates darauf gerichtet sei, Macht, Kontrolle über Ressourcen und politischen Einfluss zu maximieren. (16)

Die Autorin benennt verschiedene Instrumente, mithilfe derer Moskau neoimperialistische Politik betreibt. Das wichtigste und von ihr nahezu ausschließlich behandelte Instrument ist die Nutzung der russischen „Landsleute“ (sootečestvenniki) für seine Ziele. Sie stellt detailliert und umfassend anhand der vielen, seit 1993 erstellten Grundsatzdokumente dar, wie sich die Inhalte des Begriffs gewandelt haben. Dabei arbeitet sie die Bewusstseinsänderung heraus, die seit diesem Zeitpunkt stattgefunden hat. Während Moskau die ethnisch russischen Minderheiten und kulturell assimilierten nicht-russischen Russischsprachigen auf postsowjetischem Raum in der Jelzin-Ära noch als Bürde betrachtete, deren man sich nicht entledigen konnte, sah es sie in der Ära Putin zunehmend als Mittel, um seine Zielsetzungen in Eurasien durchzusetzen.

Die Unterstützung der russischen Diaspora wird vom Kreml als nach internationalem Recht völlig legitim und als Teil „humanitärer“ Außenpolitik dargestellt. Entsprechend ließ Präsident Medvedev nach dem Georgien-Krieg 2008 eine „Bundesagentur für die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, die im Ausland lebenden Landsleute und humanitäre Zusammenarbeit“ beim russischen Außenministerium gründen. (88) Grigas bezweifelt allerdings (zu Recht) den humanitären Impuls der russischen Minderheitenpolitik. Dem Kreml gehe es weniger um die Interessen und das Wohl der Landsleute in den Nachbarstaaten als (wie oben erwähnt) darum, seine eigenen politischen und wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen. (37)

Welche Triebkräfte liegen der imperialistischen Politik Moskaus zugrunde? Grigas zufolge sei eine der wichtigsten ideeller oder ideologischer Art und bestehe in der Mission, die russische Nation (natsija) zu vereinen und eine eigenständige slawische und christlich-orthodoxe Kultur und Zivilisation auf dem eurasischen Kontinent unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit der dort lebenden Menschen zu erhalten. Putin hat dies in einem richtungsweisenden Artikel im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen vom März 2012 mit den Worten bestätigt: „Die große Mission der Russen ist, unsere Zivilisation zu vereinen und zu binden. Sprache, Kultur und ,universelle Gutherzigkeit‘ sind nach Fjodor Dostojewski das, was russische Armenier, russische Aserbaidschaner, Russlanddeutsche und russische Tataren zusammenbringt [und die es möglich machen], eine staatlich begründete Zivilisation auf der Grundlage gemeinsamer Kultur und gemeinsamer Werte zu errichten. Diese zivilisatorische Identität basiert auf der Erhaltung kultureller Dominanz Russlands, die nicht von den ethnischen Russen bestimmt wird, [sondern von all denjenigen Menschen, die sich dieser Identität] unabhängig von ihrer Nationalität verpflichtet fühlen.“51

Bei dem Bemühen, die Russische Welt zu schaffen, stützt sich Moskau auch auf die Russisch-Orthodoxe Kirche. So hat Außenminister Sergej Lavrov darauf hingewiesen, dass die „russische Kultur und russische Sprache“ nicht die alleinige Basis seien, auf der das Konzept der Russischen Welt beruhe. Ein weiteres grundlegendes Element sei das der „Rechtgläubigkeit“ (pravoslavie). Staat und Kirche, Putin und der Patriarch Moskaus und ganz Russlands, Kyrill I., arbeiten dabei eng zusammen. Beide kommen aus St. Petersburg und haben eine gemeinsame Vergangenheit mit dem KGB − der Kreml-Chef als Mitarbeiter bis zum Rang des Oberst, der Patriarch als Kollaborateur unter dem Decknamen „Michajlov“. Für Kyrill ist die Ära Putin „ein Wunder Gottes“. Beide sehen die russische, slawisch-orthodoxe Welt als eigenständige Zivilisation, Russland als unteilbare Einheit und die nach der Auflösung der Sowjetunion entstandenen Grenzen als künstlich an. (31-32) So hat Kyrill die Losung ausgegeben, „Russland, die Ukraine und Weißrussland − das ist das Heilige Russland (Svjataja Rus’).“52 Wie absurd es in einem Zeitalter der Globalisierung und Digitalisierung auch erscheinen mag, konzeptionell und in der politischen Praxis nähert sich das Russland Putins damit dem zaristischen Imperialismus und seinen drei Säulen an: Autokratie, Orthodoxie und (russisches) Volkstum (Russisch: samoderžavie, pravoslavie, narodnost’).

Zusätzlich zur Russisch-Orthodoxen Kirche werden auch weltlich orientierte Nichtregierungsorganisationen zur Einflussnahme in den Nachbarstaaten herangezogen. Dazu gehört vor allem die Russische-Welt-Stiftung (Fond „Russkij mir“). Ihre Bedeutung ergibt sich unter anderem daraus, dass sie im Jahre 2007 durch ein Dekret Putins als Gemeinschaftsprojekt des Außenministeriums und des Ministeriums für Erziehung ins Leben gerufen wurde und dass sein Vorsitzender Vjačeslav Nikonov, ein Enkel des sowjetischen Außenministers Vjačeslav Molotov, ist. Auch Nikonov hatte Verbindungen zum KGB. (31)

Grigas geht ausführlich auf eine Besonderheit des neoimperialistischen Ausgreifens Moskaus in seinen Nachbarstaaten ein − die Ausstattung von ethnischen Russen, Russischsprachigen und Angehörigen anderer Volksgruppen in den Nachbarstaaten mit Pässen der Russischen Föderation (pasportizatsija). Diese Praxis hat wesentlich dazu beigetragen, die Souveränität der betroffenen Staaten zu untergraben und den Anspruch des Kremls legitimiert, zum „Schutz“ seiner neu geschaffenen Staatsbürger politisch und militärisch intervenieren zu müssen. Moskau fordert von den neuen Staaten auf postsowjetischem Raum, einer doppelten Staatsbürgerschaft zuzustimmen. Die meisten der GUS-Staaten und schon gar nicht die baltischen Staaten sind allerdings bereit, dieser Forderung zu entsprechen. Ihnen ist klar, dass sie mit dieser Regelung Russland Interventionsmöglichkeiten eröffnen. Infolgedessen hat bisher nur Tadžikistan einen entsprechenden Vertrag geschlossen. Kyrgistan und Armenien haben die doppelte Staatsbürgerschaft nicht vertraglich mit Russland geregelt, lassen diese aber gesetzlich zu. Insgesamt, so wird geschätzt, hat Moskau im Zeitraum von 2000 bis 2009 fast drei Millionen Menschen auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion mit russischen Pässen ausgestattet. Die illegale Praxis wurde nicht nur durch die Handlungen der russischen Konsulate, sondern auch von extra dafür geschaffenen Annahmestellen befördert.

Die Autorin weist auf Unterschiede in den jeweils betroffenen Staaten hin. Am weitestgehenden war die Praxis in den Separatistengebieten Georgiens. Nachdem Russland 2002 den Erwerb seiner Staatsbürgerschaft gesetzlich erleichtert hatte, weitete sich die Ausstattung der zum allergrößten Teil nichtrussischen Bevölkerung Abchasiens und Südossetiens von einem Bach zu einem mächtigen Strom aus. Innerhalb von vier Jahren schwoll der Anteil der russischen Staatsbürger in Abchasien von 30 auf 80 Prozent und in Südossetien von 40 auf 90 Prozent an. Nachdem Russland 2008 zum Schutz seiner Staatsbürger in Georgien militärisch interveniert hatte, wuchsen diese Prozentzahlen noch. (119-120) Wenn auch weniger nachdrücklich und in unterschiedlicher Intensität im Laufe der vergangenen 25 Jahre hatte die pasportizatsija in der Separatistenrepublik Transnistrien schon kurz nach ihrer Unabhängigkeitserklärung von Moldova im Jahre 1990 begonnen. Schätzungen zufolge besitzen rund 150.000 von der circa nur eine halbe Million umfassenden Einwohnerzahl Transnistriens einen russischen Pass.

Einem ähnlichen Muster wie in Georgien folgte der Kreml auf der Krim, wo die russischen Konsulate in Simferopol und Sewastopol vor der Annexion der Halbinsel in großem Umfang russische Pässe ausgaben. Während Moskau zur Rechtfertigung der Intervention in Georgien ausdrücklich (auch) den Schutz russischer Staatsbürger geltend machte, stand bei der Annexion der Krim der Schutz der russischsprachigen Bevölkerung im Vordergrund: „Das offensichtlichste Risiko war“, so Putin, „dass die russischsprachige Bevölkerung bedroht war und dass diese Bedrohung absolut konkret und greifbar war. Das ist es, was die Bewohner der Krim, die Leute, die dort leben, veranlasste, an ihre Zukunft zu denken und Russland um Hilfe zu bitten. Das hat unsere Entscheidung bestimmt.“ (129)53

Mit der Ausstattung der Bewohner der von der Ukraine abtrünnigen Gebiete im Donbass, in Lugansk und Donezk, hat sich Moskau anscheinend bisher zurückgehalten. Mitte Februar 2017 sorgte ein Erlass Putins für Aufsehen. Dem Dekret zufolge sollten ab sofort die Pässe der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk als gültige Ausweispapiere anerkannt werden. Vielfach wurde dieser Schritt als eine De-facto-Anerkennung der beiden „Volksrepubliken“ aufgefasst. Bürger mit solchen Pässen werden in Russland aber offenbar als Ukrainer behandelt. Zumindest gelten für sie dieselben Einreiseregeln wie für ukrainische Bürger. Demnach dürfen Inhaber von Pässen dieser Republiken nicht länger als drei Monate in Russland bleiben, sofern sie über keine russische Aufenthaltsgenehmigung verfügen.

Die Instrumentalisierung vermeintlich bedrohter nationaler Minderheiten auf dem Gebiet anderer Staaten und der Anspruch, die eigenen Landsleute schützen zu müssen, ist ein Zündstoff, der zu gefährlichen Explosionen führen kann. Darauf hatte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble Ende März 2014 mit Blick auf die Ukraine und die Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs hingewiesen. Wenn die Instabilitäten in dem Land zunähmen und die Regierung in Kiew nicht mehr zahlungsfähig sei, dann könnten „irgendwelche bewaffneten Banden die Macht übernehmen“ und Russland könnte behaupten, nun seien Faschisten an der Macht, die unsere russische Bevölkerung bedrohen und das zum Anlass nehmen, um zu sagen: „Jetzt müssen wir sie schützen, das nehmen wir zum Grund, um einzumarschieren.“54 Einem derartigen Szenario entsprechend fügte er hinzu: „Das kennen wir alles aus der Geschichte. Solche Methoden hat schon der Hitler im Sudetenland übernommen – und vieles andere mehr.”55

Genau vor diesem Muster hatte auch der damals und noch heute amtierende Präsident Kasachstans, Nursultan Nazarbajev, gewarnt. Nachdem, wie oben dargestellt, konservative und „national-patriotische“ Kräfte in Moskau außenpolitische Kursänderungen schon 1993 erzwungen hatten, stellte er im November desselben Jahres fest: „Wann immer auch man über den Schutz von Russen in Kasachstan , nicht also in Russland, spricht, dann erinnere ich mich an Hitler, der zu einem [gewissen] Zeitpunkt damit anfing, die Sudetendeutschen zu ,unterstützen‘. Ich mache mir große Sorgen um die Russen, die außerhalb Russlands leben. Wirklich [aber], sie haben nicht darum gebeten, verteidigt zu werden [...]. Sie sind Staatsbürger Kasachstans.“ (172)

Insgesamt zeichnet Grigas ein Bild einer im Wesentlichen erfolgreichen Politik Russlands auf post-sowjetischem Raum und identifiziert die Schaffung von separatistischen Republiken und die Manipulation der „eingefrorenen Konflikte“ als eine „Strategie geringer Kosten und hoher Renditen“ (244). Die Frage aber, welche politischen und wirtschaftlichen Kosten die Verfolgung imperialistischer Politik tatsächlich mit sich bringt, lässt die Autorin praktisch unbeantwortet. Die wirtschaftlichen Kosten werden auf einer halben Seite gestreift, wobei sie es aber unterlässt, die durch den Verfall des Ölpreises verursachten Einbußen von dem durch die internationalen Sanktionen entstandenen und noch entstehenden Schaden für die Volkswirtschaft zu trennen. (21) Im Index sucht man vergeblich nach dem Begriff „Sanktionen“. Eine Aufstellung, welche – tatsächlichen und geschätzten − Kosten die Subventionierung der von Russland abhängigen Volkswirtschaften im eurasischen Raum zu tragen hat, fehlt. Um einer Kosten-Nutzen-Analyse des russischen Neoimperialismus gerecht zu werden, wäre eine Fortschreibung der von Boris Nemcov und Vladimir Milov,56 Vladimir Ryžkov57 und anderen58 angestellten Berechnungen hilfreich gewesen.

Was von Grigas ebenfalls nicht berücksichtigt wird, sind die „Opportunitätskosten“, also Verluste oder Nachteile, die wegen eines eingeschlagenen Kurses entstehen, aber nicht erlitten würden, wenn eine andere Politik oder Strategie verfolgt worden wäre. So stellt sich beispielsweise die Frage, ob es nicht im besten Interesse Moskaus gewesen wäre, dazu beizutragen, dass sich die Ukraine zu einem demokratischen, rechtsstaatlichen und wirtschaftlich prosperierenden Nachbarn entwickelt, anstatt es sich durch erzwungene territoriale Abtrennungen, Militärintervention und Schaffung von Separatistengebieten zum Feind zu machen. Warum der Kreml entschlossen ist, keine Win-Win-Politik in der Ukraine und in anderen Ländern des postsowjetischen Raums einzuschlagen, sondern auf einem Nullsummen-„Spiel“ (der Gewinn der einen Seite ist der Verlust der anderen) zu beharren, hängt offensichtlich davon ab, dass er ein Konkurrenzmodell zum Putin-System der autoritären Autokratie und um den Machterhalt im eigenen Land fürchtet. Die Autorin teilt diese Schlussfolgerung: „Putin ist weniger an der Wirtschaft interessiert als an Großmachtpolitik und vor allen Dingen daran, an der Macht zu bleiben.“ (21)

Allerdings versäumt es die Autorin, diese Schlussfolgerung mit der konkreten Situation im Herbst und Winter 2011 in Verbindung zu setzen. Sie sieht anscheinend nicht, dass dieser Zeitabschnitt ein wichtiger Meilenstein ist, der den Weg zu einer weiteren, wie sie sagen würde, „Reimperialisierung“ markiert. Sie weist nicht darauf hin, dass sich Putin und die Moskauer Machtelite abrupt von der sozio-ökonomischen Modernisierungskampagne Medvedevs abwendet und zur national-patriotischen Mobilisierung und scharf anti-westlicher Rhetorik übergeht.59
Dieses Bewusstsein spiegelt sich deutlich in den Büchern von Reitschuster und Wehner wider.


5. Der verdeckte Krieg

Im Vergleich zu wissenschaftlich anspruchsvollen, aber oft mühsam zu lesenden Büchern wie die von Tsygankov und Gel’man liest sich das Buch Putins verdeckter Krieg: Wie Moskau den Westen destabilisiert von Boris Reitschuster leicht. Der Autor ist Journalist, was hierzulande an Universitäten oft als Manko erscheint, denn er sei weder wissenschaftstheoretisch fundiert noch trage er zur ReitschusterTheoriebildung bei. Die Erfassung der Wirklichkeit ist jedoch kaum ohne gute Auslandskorrespondenten vorstellbar – vorausgesetzt allerdings, dass sie für regierungsunabhängige Zeitungen oder Zeitschriften arbeiten, die Sprache des Landes beherrschen, in denen sie akkreditiert sind, sich in seiner Kultur und Geschichte auskennen und gute Kontakte zu Entscheidungsträgern in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft des Gastlandes haben.

All dies trifft auf Reitschuster zu. Er hat insgesamt 16 Jahre in Russland gelebt, war von 1999 bis zum August 2015 Leiter des Moskauer Büros des Nachrichtenmagazins Focus, hat die dort geschlossenen Freundschaften und – wo immer dies heute noch möglich ist – Kontakte zu Entscheidungsträgern aufrechterhalten. All dies unterscheidet ihn fundamental von ehemaligen Auslandskorrespondenten, die möglicherweise nur kurze Zeit in Moskau gearbeitet haben, aber sich lebenslang als „Russlandexperte/in“ auf ihre lange zurückliegenden Erfahrungen berufen.60

Der Autor geht davon aus, dass es in Russland nie einen Rechtsstaat und auch keine wesentlichen Ansätze dafür gegeben hat, auch nicht unter Jelzin, aber dass die allgegenwärtige Willkür und Allmacht des Apparates, die Steuerung der Gerichte von oben und die De-Institutionalisierung Russlands unter Putin ein Ausmaß angenommen hat, das bisher ungekannt war. Er weist infolgedessen die (wie oben dargestellt, auch von Tsygankov vertretene) These zurück, Putin habe Recht und Ordnung und einen „starken Staat“ geschaffen. „Wirklich stark ist ein Staat“, berichtigt er, „wenn seine Spielregeln, seine Verfassung und seine Gesetze eine starke Rolle einnehmen und auch stark durchgesetzt werden. Stattdessen hat Putin einen Staat geschaffen, in dem keine allgemeinverbindlichen Spielregeln mehr vorhanden sind und in dem Verfassung und Gesetze keine Rolle mehr spielen, sondern so ausgelegt und angewandt werden, wie das den Herrschenden beliebt.“ (41) Putin habe Russland in eine Diktatur im klassischen Sinne zurückverwandelt, definiert als eine unumschränkte, andere gesellschaftlichen Kräfte mit Gewalt unterdrückende Ausübung der Herrschaft durch eine Person, gesellschaftliche Gruppierung oder Partei in einem Staat. Anders aber als unter Stalin sei Putins Diktatur nicht totalitär. Es handle sich um eine Diktatur neuen Typs, um eine „Demokratur“, ein System mit demokratischer Fassade.

Über weite Strecken liest sich das Buch wie ein Kriminalroman, ist aber Dokumentation und Analyse, wobei Kriminalität eine herausragende Rolle spielt. Das kommt bereits in seiner Widmung zum Ausdruck. Es sei „für die mutigen Menschen in Russland [geschrieben], die ums Leben kamen, weil sie sich nicht den Mund verbieten ließen: Für Boris Nemcov, Anna Politkovskaja, Alexander Litvinenko, Jurij Ščekočichin, Stanislav Markelov, Paul Klebnikov, Sergej Magnitskij, Natalja Estemirova, Sergej Juščenkov und viele andere.“61 Die direkte Verantwortung des Kremls in all diesen Fällen ist umstritten. Unbestreitbar ist allerdings, dass all diese Opfer Kritiker der Moskauer Machtelite und des von Putin geschaffenen Systems waren und die Morde in einem Umfeld stattfanden, in dem die Mörder bei ihrem Verbrechen mit Deckung, Vertuschung, Nachlässigkeit oder Nachsicht der Rechtschutzorgane rechnen konnten.

Die Widmung lässt erahnen, dass Reitschuster seine Leser nicht im Unklaren darüber lassen wird, was er für die wesentlichen Merkmale dieses Systems hält. In der Tat schreibt er ähnlich wie Karen Dawisha in ihrer umfassenden Darstellung und Analyse der Putin‘schen „Kleptokratie“,62 dass „eine kleine kriminelle Clique Russland privatisiert hat, ausbeutet und unterdrückt“ (11). Er ist sich auch mit dem in Berlin im Exil lebenden russischen Autor Nikolaj Klimenjuk einig, den er zitiert: „Der russische Staat ist nicht korrumpiert und nicht mit der organisierten Kriminalität verwoben. Er ist die organisierte Kriminalität, und das verbrecherische Regime ist keine Metapher, sondern die nüchterne Bezeichnung einer Sachlage.“ (93)63

Wie Dawisha sieht er die „Keimzelle des Systems Putin“ in der am 11. November 1996 von acht Männern gegründeten Datschenkooperative „Ozero“ − See auf Deutsch. „Vladimir Putin, der bekannteste von ihnen, nach der Niederlage seines Chefs, des Petersburger Bürgermeisters Anatolij Sobčak [in den Wahlen zu diesem Amt], hatte gerade seinen Posten als dessen Stellvertreter verloren und einen neuen Job gefunden: Seit August 1996 war er im Kreml Stellvertreter des Chefs des Liegenschaftsamts, Pavel Borodin, der in Bestechungsskandale rund um die Jelzin-Familie verwickelt war, die später weltweit für Aufsehen sorgten [...]. Ebenfalls im Sommer 1996 war Putins alte Datscha abgebrannt, und er erinnerte sich später, dass er einen Aktenkoffer voller Bargeld aus den Flammen retten konnte. Woher das Geld stammte, ist nicht bekannt. Ebenso wie Putin selbst sollten auch die anderen sieben Gründungsmitglieder Jahre später in ganz Russland bekannt werden: Unter ihnen ist Jurij Kovalčuk, der als Miteigentümer der Rossija-Bank und zahlreicher Medien zu einem der an Geld und Einfluss reichsten Männer des Landes aufsteigt. Vladimir Jakunin, der es später als Chef der Eisenbahn ebenso zu einem beachtlichen Vermögen bringt, und Andrej Fursenko, später Bildungsminister. Vorsitzender der Kooperative ist ein gewisser Vladimir Smirnov, ein sehr öffentlichkeitsscheuer Mann [...], der später in der Atomwirtschaft eine beachtliche Karriere hinlegt [...]. Mit den notwendigen Genehmigungen für die Datschensiedlung ist ein gewisser Viktor Zubkov behilflich, damals Chef der Steuerverwaltung in Sankt Petersburg, zuvor mehrere Jahre Stellvertreter Putins in der Stadtverwaltung und später, nach dessen Umzug in den Kreml, Premierminister Russlands. Die Verbindung zum Präsidenten ist so eng, dass Zubkovs Schwiegersohn Anatolij Serdjukov es später zum Verteidigungsminister bringt.“ (74-75) Die Namen von fünf der Datschen-Liebhaber waren vorher schon im Rahmen einer Korruptionsaffäre im Petersburger Stadtparlament aufgetaucht, in deren Mittelpunkt Vize-Bürgermeister Putin stand. Die in den Vereinigten Staaten wahrgenommene Bedeutung der Ozero-Verbindungen Putins zeigt sich daran, dass drei von ihnen – Jakunin, Kovalčuk und Fursenko – auf ihrer Sanktionsliste stehen.64

Die von allen ernst zu nehmenden Fachleuten, seien es Wissenschaftler oder Journalisten, geteilte Überzeugung ist, dass die „Jelzin-Familie“ Putin wegen seiner KGB-Vergangenheit (1975-1990) und als FSB-Chef (Juli 1998 bis August 1999) dazu ausersehen hatte, die Nachfolge im Präsidentenamt anzutreten, er im Gegenzug aber garantieren würde, dass gegen Jelzin und seine Familienmitglieder sowie Vertraute keine Strafverfahren wegen Korruption oder anderer Vergehen oder Verbrechen eingeleitet würden. Den vielleicht besten Beweis dafür, dass auf ihn Verlass sein würde, hatte Putin in der „Skuratov-Affäre“ geliefert.

Jurij Skuratov war von 1995 bis 1999 – unbestechlicher, wie sich herausstellen sollte – russischer Generalstaatsanwalt.65 Seit April 1998 hatte er konkret mit Carla del Ponte von der Schweizer Bundesanwaltschaft zusammengearbeitet. Grund dafür waren Hinweise auf Milliarden von US-Dollar, die aus Russland auf Schweizer Konten geflossen waren und laut del Ponte mit der Korruption von hohen russischen Funktionären zusammenhingen. Am 22. Januar 1999 ließ die Schweizer Bundesanwaltschaft die Büros der Schweizer Firma Mabatex durchsuchen. Hierbei fand man Dokumente, die den Verdacht bekräftigten, dass die Firma für Bauaufträge des russischen Staates Schmiergelder gezahlt hatte. Unter den beschlagnahmten Dokumenten befanden sich Kreditkarten-Belege, die auf Boris Jelzin und seine Töchter Jelena und Tatjana lauteten, sowie Unterlagen eines Kontos der Banca del Gottardo, für das der Kreml-Verwalter und Ozero-Mitbegründer Pavel Borodin die Unterschriftsberechtigung hatte und von dem aus angeblich eine Million Dollar auf ein Konto Jelzins in Budapest überwiesen worden war. Im Zuge der Untersuchungen tauchte ein Video auf, auf dem ein Skuratov ähnlich aussehender Mann auf einem Bett mit zwei Prostituierten zu sehen ist. Das Video soll Putin in seiner damaligen Eigenschaft als FSB-Chef Jelzin persönlich übergeben haben, und während der Generalstaatsanwalt das verschwommene Video als Fälschung zurückwies, verbürgte sich Putin für seine Authentizität. Skuratov wurde von seinem Amt suspendiert und später von Putin, als er Präsident war, entlassen.

Reitschuster präsentiert für den kriminellen Charakter des Systems und Verbindungen Putins zur Organisierten Kriminalität eine ganze Reihe von Indizien mit zum Teil großer Überzeugungskraft. Diese gehen auf die Zeit zurück, als Putin in der Petersburger Stadtregierung für die Erteilung von Exportlizenzen verantwortlich war. Einer der dubiosen Exportverträge wurde mit der Firma Newskij dom abgeschlossen, die unter anderem dem bereits erwähnten Vorsitzenden der Putin’schen Datschenkooperative gehörte. „Sein Name tauchte in diversen Firmen auf, die mit Putins Außenwirtschafts-Abteilung im Petersburger Rathaus kooperierten. So erteilte diese 1994 der ,Petersburger Ölgesellschaft‘ (PTK) die Lizenz, die Millionenstadt mit Treibstoff zu versorgen. Der PTK wiederum wurden enge Verbindungen zur „Tambov-Mafia“ nachgesagt, die sich in jenen Jahren auf Autodiebstahl, Schmuggel, Prostitution, Schutzgelderpressungen und Menschenhandel spezialisiert hatte. [...] Als Smirnov 1998 die Leitung der PTK übernahm, machte er Vladimir Kumarin zu seinem Stellvertreter – den mutmaßlichen Paten der ,Tambov-Mafia‘. [...] Der Name Smirnov taucht auch in der St. Petersburg Immobilien und Beteiligungs-AG, kurz SPAG auf. Die geriet in den Fokus der deutschen Behörden wegen des Verdachts, eine Geldwaschanlage der russischen Mafia zu sein.66 Im Mai 2003 durchsuchten 200 Polizisten 27 Firmen und Wohnungen in Deutschland. Profite aus Menschenhandel, Alkoholschmuggel, Schutzgelderpress und Autoschiebereien sollen über ausländische Konten, Liechtensteiner Stiftungen sowie Briefkastenfirmen in Finnland und auf den Kanalinseln verschoben worden sein, so der Verdacht der Ermittler. An der Gründung der Firma 1992 war auch die Petersburger Stadtverwaltung beteiligt; deren Vertreter im Aufsichtsrat war Vladimir Smirnov, Putins Datschenfreund. Vladimir Putin selbst wiederum saß bis zu seinem Wechsel in den Kreml im Jahr 2000 im Beirat der SPAG.“ (78-79)

Diese auf die Anfangszeit des Aufstiegs Putins zur Macht zurückgehenden Indizien für die Verfilzung der Freunde und Weggefährten Putins – und mit großer Wahrscheinlichkeit von ihm selbst – mit der Organisierten Kriminalität sind keineswegs die einzigen, die Reitschuster aufdeckt und die bis in die Gegenwart hineinreichen. Besonders aufschlussreich sind dabei die Belege, die im Zusammenhang mit einer 488 Seiten umfassenden, im Mai 2015 vorgelegten Anklageschrift der spanischen Sonderermittler gegen Korruption und organisierte Kriminalität gegen Genadij Petrov, Alexander Malyšev und 27 mutmaßliche Komplizen aufgetaucht sind. Von Petrov wird angenommen, dass er der Chef der „Tambov-Mafia“ ist. Er war ein früherer Petersburger KGB-Offizier, der Putin noch aus seinen Jugendtagen kennt und laut dem ehemaligen Sonderermittler der Petersburger Polizei, Andrej Zykov, enge Beziehungen zu Putins Umfeld unterhielt. Er saß mehrfach im Gefängnis, und gegen ihn wurde wegen mehrerer Morde ermittelt. Malyšev, zweimal wegen Mordes verurteilt, ist mutmaßlicher Chef der nach ihm benannten „Malyšev-Mafia“, die einst mit der „Tambov-Mafia“ konkurrierte und später fusionierte. Die Anklageschrift wirft den Verdächtigten vor, von Spanien aus ihre kriminellen Organisationen in ihrer Heimat und über Russland in anderen Ländern geführt zu haben. Wie in anderen Fällen zeigten sich die russischen Strafverfolgungsbehörden nicht kooperationsbereit. Nachdem Petrov und Malyšev 2010 von der spanischen Justiz gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt worden waren, kehrten beide nach Russland zurück, wo sie heute unbehelligt leben. (87-88)

Die Verweigerung von Zusammenarbeit mit westlichen Strafverfolgungsbehörden, um mutmaßliche Mörder oder andere Verbrecher vor Gericht zu stellen, und die Deckung von Beschuldigten ist kein Einzelfall. Der Fall Litvinenko liefert ein weiteres Beispiel. In öffentlichen Anhörungen an den Royal Courts of Justice und auf der Basis sowohl offenen als auch geheimen Beweismaterials kam der Vorsitzende Sir Robert Owen zu dem Schluss, dass der Mord an Alexander Litvinenko, einem ehemaligen Offizier des russischen Geheimdienstes FSB, der an der Vergiftung mit dem radioaktiven Isotop Polonium-210 m November 2006 in London starb, von den russischen Agenten Andrej Lugovoj und Dmitrij Kovtun begangen wurde. Nach allen ihm zur Verfügung stehenden Beweisen einschließlich einer „beträchtlichen Menge“ geheimer Informationen wurde die FSB-Operation, um Litvinenko zu töten, wahrscheinlich von [Nikolaj] Patrušev [FSB-Chef 2006] und auch von Präsident Putin genehmigt“.67 Der mutmaßliche Mörder Lugovoj kandidierte in den Duma-Wahlen vom Dezember 2007 für die Partei LDPR des Nationalisten Vladimir Žirinovskij, wodurch er ein Abgeordneten-Mandat und somit parlamentarische Immunität erhielt; zudem bekam er 2015 von Putin einen Verdienstorden. Der mutmaßliche Komplize Kovtun hat anscheinend eine weniger illustre Kariere gemacht; so weit bekannt, lebt aber auch er in Russland und weiterhin in Freiheit.68

Dass der Kreml auch bei überwältigenden Indizien und Beweisen für kriminelle und international völkerrechtswidrige Tatbestände jegliche Verantwortung des russischen Staates zurückweist, beschränkt sich nicht auf den Fall Litvinenko. An oberster Stelle einer langen Liste entsprechender Zurückweisungen Putins (später teils zurückgenommenen, teils relativierten) Behauptungen steht, russische Truppen hätten nichts mit der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ost-Ukraine zu tun gehabt. Weiter aufrechterhalten werden Erklärungen, dass man keine Waffen an die „Volksrepubliken“ in Lugansk und Donezk liefere und dass weder die Separatisten noch die russischen Streitkräfte für den Abschuss der Passagiermaschine mit der Flugnummer MH17 über dem umkämpften Gebiet verantwortlich seien.

Jegliche Beteiligung russischer staatlicher Stellen an einem umfangreichen Dopingsystem, von dem nach zwei unabhängigen Berichten (McLaren Reports) und darin enthaltenen 1.166 Belegen mehr als 1.000 russische Athleten aus 30 Sportarten zwischen 2011 und 2015 profitiert hätten, wurde von Moskau vehement bestritten.69

Im Syrien-Krieg bezeichneten sie die Erkenntnisse westlicher Geheimdienste über den Einsatz von Giftgas durch die Streitkräfte Assads am 21. August 2013 in Ghuta und am 4. April 2017 in Chan Schaichun als falsch. Auch westliche Berichte über den Einsatz von Streubomben in Syrien tat der Kreml als Teil einer anti-russischen Medienkampagne ab − bis der Fernsehkanal RT Aufnahmen von einem Besuch Verteidigungsministers Sergej Šojgu auf der Luftwaffenbasis in Chmeimim nahe Latakia sendete, auf denen klar und deutlich am Rumpf einer Su-34 angebrachte Streubomben vom Typ RBK-500 ZAB 2.5SM zu sehen waren.70

Ähnlich wie die britische Untersuchungskommission im Fall Litvinenko, machten sämtliche − insgesamt siebzehn − US-amerikanische staatliche Institutionen, die sich mit Nachrichtenbeschaffung und Spionageabwehr befassen, in einem gemeinsamen Bericht Putin persönlich dafür verantwortlich, eine breit gefächerte Kampagne „befohlen“ zu haben, die zum Ziel gehabt habe, „das Vertrauen der Öffentlichkeit in den demokratischen Prozess der USA zu untergraben, die [ehemalige] Außenministerin [Hillary] Clinton zu verunglimpfen, an ihrer Befähigung [Zweifel zu säen] und ihrer Präsidentschaftskandidatur zu schaden“.71 Der Kreml zog diese Ergebnisse ins Lächerliche und stritt jegliche staatliche Beteiligung an den Hackerangriffen ab.

Die hier zu stellende und auch für Reitschuster zentrale Frage lautet, welchen Zusammenhang es zwischen dem Charakter des – laut dem Autor – kriminellen Systems Putin und der Politik des Kremls im Verhältnis zum Westen gibt. Die wichtigste Antwort ist, dass es wegen der Weigerung Moskaus, Verantwortung für Rechtsbrüche sowohl innerstaatlichen Rechts als auch des Völkerrechts zu übernehmen, die Vertrauensbasis für eine 640px Sergei Magnitsky via WikimediaIn der Haft zu Tode gekommen: Sergej Magnickij (Foto: Wikimedia Commons)echte Partnerschaft fehlt. (42) Am deutlichsten werden die Folgen für Russlands Westbeziehungen in der Serie von Sanktionen sichtbar, die vor allem die Vereinigten Staaten, aber auch die Mitgliedstaaten der EU und andere europäische und außereuropäische Länder verfügt haben. So unterschrieb US-Präsident Barack Obama 2012 ein eigens nach Magnickij benanntes Gesetz, das eine Reihe politischer und wirtschaftlicher Sanktionen gegen Russland vorsah und das bis heute in Kraft ist.72 Nach Moskaus Annexion der Krim, seiner Militärintervention in der Ostukraine, der mutmaßlichen Mitverantwortung für den Abschuss der Malaysian-Airlines-Passagiermaschine mit der Flugnummer MH17 mit einer Buk-1-Rakete und den Hackerangriffen wurden weitere Sanktionen beschlossen und ausgeführt.

Neuestes Beispiel dafür, dass sich Rechtsbrüche staatlicher Institutionen Russlands negativ sowohl auf die politischen als auch auf die Wirtschaftsbeziehungen auswirken, ist die Ausrüstung von geplanten Kraftwerken auf der Krim (in Simferopol und Sewastopol) mit Turbinen der Firma Siemens entgegen vertraglicher Vereinbarungen, welche die Nutzung der Turbinen auf der Halbinsel ausdrücklich ausschlossen. Auf Betreiben Deutschlands reagierte die EU wiederum mit Sanktionen gegen die an der Vertragsverletzung beteiligten russischen Unternehmen.

Russische und westliche Forscher bemühen sich immer wieder, die Kosten abzuschätzen, die Russland durch die Wirtschaftssanktionen entstanden sind und noch entstehen.73 Methodologisch ist allerdings dabei auch hier wieder die Frage der Opportunitätskosten, der Verluste, die Russlands Wirtschaft dadurch erlitten hat und weiter erleidet, dass es sich von Modernisierungspartnerschaften mit europäischen Staaten und den USA abgewandt und einer euro-asiatischen Orientierung, begleitet von scharfer anti-westlicher Rhetorik, Vorrang eingeräumt hat. Die mit Russland in der Eurasischen Wirtschaftsunion verbundenen Staaten sind weder willens noch in der Lage, zu der von Putin als auch von Medvedev als dringend notwendig bezeichneten Modernisierung des Landes beizutragen, und China ist an Rohstoffen, nicht an Strukturveränderungen in Russland interessiert.

Negativ auf die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen wirkt sich auch die feste Verbindung zwischen Moskaus Innenpolitik und der Politik gegenüber seinen Nachbarn aus. Das war schon frühzeitig erkennbar,74 hat sich aber, wie Reitschuster erkennt, nach den Massenprotesten im Dezember 2011 verschärft. „Paranoia“, die Wahnvorstellung der Moskauer Machtelite, dass der Westen Russland „zerstückeln“ wolle und dass durch Massenproteste erzwungener Regimewechsel in Nachbarländern auch in Russland stattfinden könnte, sei gewissermaßen zur „Staatsdoktrin“ (69) erhoben worden. Während Putin, wie der frühere EU-Kommissionschef José Barroso bestätigt hat, vor 2012 offiziell keinerlei Einwände gegen das zwischen der EU und der Ukraine verhandelte Assoziierungsabkommen geäußert habe und sogar mit einem möglichen Beitritt der Ukraine zur EU einverstanden gewesen sei, habe er seine Haltung danach „radikal geändert“ (63).75

Der Vorrang einer Politik des Machterhalts im Inneren, die Abwehr von angeblich vom Westen inszenierten „Farbrevolutionen in Eurasien“, eine „Expansionspolitik“ (Reitschuster) oder „Reimperialisierungspolitik“ (Grigas) im postsowjetischen Raum und das Aufbauschen von äußeren, allen voran von der NATO ausgehenden Bedrohungen stellen ein unauflösliches Bündel dar, das nach Ansicht der beiden Autoren auch nicht durch eine kompromissbereite westliche Politik aufgelöst werden könnte.


6. Wie Russland den Westen vor sich hertreibt

Zu ganz ähnlichen Schlussfolgerungen gelangt Markus Wehner in Putins Kalter Krieg: Wie Russland den Westen vor sich hertreibt. Der Autor ist einer der Journalisten, die die Entwicklung erst der Sowjetunion und dann Russlands schon seit der Studienzeit verfolgen. Wehner studierte Osteuropäische Geschichte, Politologie und Slawistik in Freiburg, Moskau und Berlin und schrieb 1996 eine Doktorarbeit über die sowjetische Bauernpolitik in den 1920er-Jahren. Von Oktober 1999 an war er fünf Jahre lang Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Moskau und ist seit Herbst 2004 Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in Berlin.

Bereits das Inhaltsverzeichnis des Buches zeigt die logische Progression der Argumentation des Autors. Nach einer Charakterisierung von „Putins Zielen“ und „Russlands Ideologie“ (I) geht er gleich auf den Kernpunkt der Beziehungen zwischen russischer Innen-, Nachbarschafts- und Außenpolitik ein, auf „Russland und die farbigen Revolutionen“ (II), die zum „Krieg ohne Regeln: Putin, die Krim und der Krieg in Wehnerder Ukraine“ (III) geführt haben. Der Autor beschreibt dann „Die neue Militärmacht“ und erläutert, dass eine im Wesentlichen erfolgreiche Militärreform und umfassende Modernisierung der Streitkräfte diesen Krieg erst möglich gemacht haben (IV). „Russlands Informationskrieg“ (V) betrachtet er als einen Teil der neuen Kriegführung und führt aus, dass auch „Russlands Spione“ (VI), die russischen Geheimdienste, Teil der Kriegführung sowohl im Inland als auch im Ausland seien. Die neue Militärmacht Russland hat auch im Syrien-Krieg – in „Moskaus Spiel in Syrien“ (IX) – ihre modernen Waffen, neue Einsatzgrundsätze und Interventionsfähigkeiten über ihre nahe Nachbarschaft hinaus unter Beweis gestellt. Davor schon ist Wehner auf des „Kremls extremistische Freunde“ rechts und links des politischen Spektrums in westlichen Ländern (VII) und auf die besondere Kategorie der „Russland-Versteher“ eingegangen (VIII), um dann in den beiden letzten Kapiteln die Fragen zu stellen, ob denn der „Westen hilflos“ (X) und „was [zu] tun“ (XI) sei.

Gleich eingangs befasst sich Wehner mit der Frage, wie es denn dazu kommen konnte, dass das neue Russland nach der Auflösung der Sowjetunion keinen demokratischen und rechtsstaatlichen Entwicklungsweg beschritt und imperiale Ambitionen aufgab, sondern zur „traditionellen russischen Regierungsform, in der das Zentrum bestimmt und Demokratie keinen Platz hat“, zurückkehrte. Auch für ihn bietet die innere Dynamik dafür die wichtigste Erklärung. Wollte man seine Deutung politikwissenschaftlichen Kategorien zuordnen, würde man ihn wohl als Konstruktivismus bezeichnen, dem zufolge politisches Handeln als Ergebnis einer sozialen Situation oder vorherrschenden sozialen Strukturen verstanden wird und denen wiederum eine bestimmte Ideen oder eine Ideologie, Normen und Werte zugrunde liegen. Für Wehner sind die russischen Geheimdienste die treibende Kraft, die politisches Handeln determiniert. Mit „Putin kamen die Leute aus dem Geheimdienst an die Macht. Mit ihnen zog ein anderes Denken in den Kreml ein. [...] Glaubten manche in Putins erster Amtszeit noch, der Präsident balanciere zwischen Geheimdienstleuten und ,Liberalen‘, so ist heute klar, dass die Leute aus dem KGB das Sagen haben.“ (11)

Wie Reitschuster zeigt Wehner auf, wie Putins Freunde und Mitstreiter aus dem KGB, der Petersburger Stadtverwaltung und der früheren Datschen-Kooperative „Ozero“ zu „Staatsoligarchen“ geworden sind. Er argumentiert aber, dass der Begriff der Kleptokratie, um Putins Herrschaftssystem zu kennzeichnen, zu kurz gegriffen sei, wenn damit gemeint sei, dass es der Machtelite lediglich um Pfründe ginge. „Putin und seine Mannschaft glauben an eine Mission, die sie seit Jahren mit großer Beharrlichkeit verfolgen. Sie wollen die russische Nation ideologisch auf der Grundlage des Nationalismus erneuern.“ (27)

Konstruktivistischen Ansätzen entsprechend, spielten „national geprägte ideologische Versatzstücke“ sowohl für das politische Handeln des Kremls als auch als Legitimationsbasis eine wichtige Rolle. Nach den Massenprotesten im Winter 2011/2012 hätten sie verstärkt an Bedeutung gewonnen. Ihre Inhalte drückten sich am besten in dem im September gegründeten Isborsker Klub aus, benannt nach einem Dorf im Gebiet Pskov. Wehner bezeichnet ihn als eine Art „Forum für eine neue Ideologie“ und „national-ideologischer Thinktank des Kremls“.76 In seinen Berichten beklage der Klub, dass es „Volksfeinde“ im Lande gebe, eine „fünfte Kolonne“, die noch gefährlicher sei als die in den 1930er-Jahren wirkende.77 Die Mitglieder des Klubs forderten eine „Revolution von oben“, um eine vom Ausland unterstützte Revolution von unten zu verhindern. Sie riefen dazu auf, der Bevölkerung klar zu machen, dass das Land von Feinden im Inneren wie von außen bedroht sei. Russland solle als starker Staat auftreten, für den sowohl die zaristische als auch die sowjetische Zeit als Vorbild dienen solle. Wenn man auch nicht davon sprechen könne, dass der Isborsker Klub eine geschlossene Ideologie entwickelt habe, seien Antiamerikanismus und Antiliberalismus aber unverrückbare Versatzstücke. Der Kreml habe wesentliche Elemente dieser Anschauungen übernommen, wozu auch die von der Russisch-Orthodoxen Kirche propagierten anti-liberalen Werte gehörten. Der Autor stimmt infolgedessen der Sicht des Kulturhistorikers Ulrich Schmid zu, der als Kernelemente als einer neuen Staatsideologie Neoimperialismus, die religiöse Legitimierung durch die Orthodoxie und eine geopolitische Begründung durch das Eurasiertum betrachtet. (20-21)

Er geht auch auf die (oben erwähnte) Zielsetzung Putins ein, die „Russische Welt“ zu schaffen – ein weiteres Versatzstück der unerklärten Staatsideologie. In der Tat dient dieses Ziel im Grunde genommen dazu, nicht nur die kulturelle Dominanz, sondern auch die politische und wirtschaftliche Vormachtstellung Russlands im postsowjetischen Raum zu verwirklichen. Unzählige Male ist Putin dabei mit den Worten zitiert worden, dass Russland lediglich „ein anderer Name für die Sowjetunion“78 und deren Zusammenbruch „eine nationale Tragödie riesigen Ausmaßes“79 sowie „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ gewesen sei.80 Es ist ein Verdienst Wehners darauf hinzuweisen, dass sich die Vorstellungen Putins über die „widernatürlich“ nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gezogenen Grenzen und die Legitimität des „Schutzes“ der russischen Minderheiten auf dem postsowjetischen Territorium seit März 1994 nicht geändert haben. Damals, wie er berichtet, fand im Gästehaus der Stadt St. Petersburg eine Tagung der Körber-Stiftung zum Thema „Russland und der Westen“ statt. Putin war 41 Jahre alt, er hatte neunzehn Jahre lang beim Geheimdienst gearbeitet und war seit zwei Jahren Vize-Bürgermeister von St. Petersburg. Kein Mensch kannte ihn. „Wladimir W. Putin, Jahrgang unbekannt“ stand auf der Teilnehmerliste. Er sagte, dass niemand die Liquidierung des sowjetischen Imperiums bewusst angestrebt habe, das sei abwegig. Die kommunistische Parteiführung unter Gorbačev habe mit ihren „ungeschickten Handlungen“ den Zerfall der Sowjetunion leider herbeigeführt. Die Folge sei, dass nun plötzlich 25 Millionen Russen im Ausland lebten. „Russland kann es sich einfach nicht leisten − allein schon im Interesse der Sicherheit in Europa −, dass diese Menschen willkürlich ihrem Schicksal überlassen bleiben“, fuhr Putin in emotionalem Ton fort. Er appellierte an seine Zuhörer aus dem Westen: „Vergessen Sie nicht, dass Russland im Interesse der allgemeinen Sicherheit und des Friedens in Europa freiwillig riesige Territorien an die ehemaligen Republiken der Sowjetunion abgegeben hat; darunter auch solche Territorien, die historisch immer zu Russland gehört haben.“ Welche Territorien hatte Putin im Sinn? Er sagte: „Ich denke dabei nicht nur an die Krim oder an Nordkasachstan, sondern beispielsweise auch an das Kaliningrader Gebiet.“ (16)81

Diese Vorstellungen wiederholte Putin vierzehn Jahre später in seiner damaligen Eigenschaft als Premierminister. Auf einer Sitzung des NATO-Russland-Rats am 4. April 2008 in Bukarest und auf dem Treffen mit US-Präsident George W. Bush am 6. April in Soči warnte er vor einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens. Dabei stellte er die Existenzberechtigung und territoriale Integrität der Ukraine infrage. Gegenüber Bush führte er aus, dass die Ukraine eigentlich „keine richtige Nation” sei; ein großer Teil ihres Territoriums sei von Russland „weggegeben“ worden; und sollte die Ukraine der Nato beitreten, könnte es zu einer Abspaltung der Krim und der östlichen Landesteile der Ukraine kommen, und die Ukraine könnte „aufhören als Staat zu existieren“.82

Wie für Grigas und Reitschuster sind auch für Wehner primär innere Faktoren für die scharfe Wende Russlands zu einer anti-westlichen, national-patriotischen Mobilisierungspolitik verantwortlich. Das „Hauptmotiv“ politischen Handelns im System Putin ist für ihn der „Machterhalt“, für den „je nach Situation verschiedene ideologische Begründungsmuster herangezogen werden“ (25) – ein Urteil, das sich mit dem Reitschusters deckt: „Putins einzige Ideologie ist der Machterhalt“.83 Wegen der Besorgnisse über eine Erosion der Macht und weiterer Delegitimierung der Herrschaft habe die politische Führung „panisch“ auf die Massendemonstrationen im Winter 2011/2012 reagiert. Sie habe im Inneren den repressiven Kurs verschärft und Konsequenzen für seine Außen- und Militärpolitik gezogen: „Sie beschloss, farbige Revolutionen mit dem Ziel eines Regimewechsels in für Russland strategisch wichtigen Ländern mit militärischen und anderen Mitteln zu verhindern und zum Gegenangriff überzugehen.“ (45)

Russlands Annexion der Krim und seine verdeckte Intervention in der Ost-Ukraine können als Teil dieser Gegenoffensive betrachtet werden. Die dafür notwendigen organisatorischen Vorbereitungen und operativen Einsatzkriterien waren der westlichen Allianz weitgehend verborgen geblieben oder in ihrer Bedeutung nicht erkannt worden. Wichtige Entwicklungen, wie die seit Oktober 2008 laufende umfassende Reform des Militärwesens, die richtungsweisende Rede des russischen Generalstabschefs und früheren Tschetschenien-Kommandeurs, Valerij Gerasimov, Ende Januar 2013 über „hybride“ (Russisch: „nicht-lineare“) Kriegführung und der darauf folgende Aufbau von Streitkräften für Sonderoperationen (Sil special’nych operacii) liefen an der westlichen Öffentlichkeit vorbei.

Wehner stellt fest, dass die Wirtschaft unzureichend modernisiert worden sei, dies aber nicht für die Streitkräfte und einen wichtigen Bereich der Wirtschaft gelte – den militärisch-industriellen Komplex. (74 f.) Es ist sogar so, dass Putin die Rüstungsindustrie nicht nur als leistungsfähigen Sektor in der Exportwirtschaft, sondern auch als „Motor“ und „Lokomotive“ für die Gesamtwirtschaft betrachtet. Schon im „Konzept zur nationalen Sicherheit“, das unter seiner Ägide als Sekretär des Nationalen Sicherheitsrats ausgearbeitet wurde, ist zu lesen, es sei „notwendig, neue Militärtechnologie zu transferieren, um die Zivilwirtschaft zu stimulieren“ und „Mechanismen zu entwickeln, um die Wettbewerbsfähigkeit russländischer Firmen auf dem Weltmarkt zu sichern“.84 Diese Vorstellungen haben sich bis heute gehalten. So erklärte Putin kurz vor dem Beginn seiner dritten Amtszeit: „Die enormen Ressourcen, die in die Modernisierung unseres militärisch-industriellen Komplexes und Neuausrüstung unserer Armee investiert werden, müssen als Kraftstoff dienen, um die Motoren für die Modernisierung unserer Wirtschaft anzutreiben und reales Wachstum zu schaffen.“85

Vielleicht ist es übertrieben, von einer „Militarisierung des Landes“ (Ebd.) zu sprechen. Nicht zu bestreiten ist allerdings, dass der Stellenwert der Streitkräfte in Politik und Gesellschaft, ihre finanzielle Ausstattung und die Anwendung militärischer Instrumente bis hin zu Militärinterventionen im System Putin enorm gewachsen sind.


7. Fazit

Wie eingangs beschrieben, lautete das anhand der fünf Bücher zu untersuchende Problem, warum sich die im Westen nach dem Zerfall der Sowjetunion gehegten Hoffnungen und Erwartungen zerschlagen haben und Russland einen Entwicklungspfad beschritten hat, der diesen entgegenläuft. Westlichen Transformationstheorien zufolge hätte das „neue Russland“ das unter Gorbačev entwickelte Neue Politische Denken fortsetzen, im Inneren ein demokratisches, pluralistisches, liberales politisches System mit föderaler Struktur, einen Rechtsstaat, eine freie Marktwirtschaft mit fairem Wettbewerb und eine Zivilgesellschaft mit aktiven Nichtregierungsorganisationen errichten, in seiner Politik gegenüber den mit ihm eng verbundenen Nachbarstaaten – im anfangs so bezeichneten Nahem Ausland − deren Souveränität und territoriale Integrität respektieren und im weiteren Ausland eine europäische und transatlantische Richtung einschlagen sowie mit den vom Westen dominierten internationalen Organisationen konstruktiv zusammenarbeiten sollen.

Die hier ebenfalls untersuchte Leitfrage nach dem Verhältnis zwischen Innen- und Außenpolitik hätte diesen Theorien zufolge vom „neuen Russland“ so beantwortet werden müssen, dass Innenpolitik Vorrang habe und die Außenpolitik in den Dienst innenpolitischer Reformpolitik zu stellen sei.

Theorien dieser Art deckten sich mit Vorstellungen, die sich mit dem Begriff der deutschen „Ostpolitik“ verbinden. Der Weg Russlands hin zu Demokratie, Marktwirtschaft, Rechtsstaat und Zivilgesellschaft im Inneren und zu strategischer Partnerschaft mit dem Westen in der Außenpolitik würde diesen Gedanken zufolge durch den Aufbau umfangreicher Handels-, Finanz- und Wirtschaftsbeziehungen („Wandel durch Handel“) und eine Vielzahl von gesellschaftlichen, nicht-staatlichen Verbindungen („Annäherung durch Verflechtung“) geebnet. Träger der liberal-demokratischen Entwicklung würde eine durch wirtschaftlichen Aufschwung geförderte breite Mittelklasse sein.

Die Autoren der besprochenen Werke sind sich darüber einig, dass das entstandene System Putin den vorgestellten Entwicklungsweg nicht beschritten hat, sondern zu „traditionellen“ Werten und Verhaltensmustern zurückgekehrt ist – in der Innenpolitik zu einem autokratischen und autoritären Staat, der mit der Russisch-Orthodoxen Kirche zusammenarbeitet, im postsowjetischen Raum zu einer „eurasischen“, imperialistischen Orientierung und in der Außenpolitik entsprechend zu anti-westlicher, militärisch unterfütterter Großmachtpolitik.

Was sind die Gründe für diese Entwicklung? Im Wesentlichen wird eine innere, innenpolitische Dynamik dafür verantwortlich gemacht. Das kommt besonders deutlich bei Gel’man zum Ausdruck, der sich entsprechend auch kaum mit internationalen Einwirkungen auf den Entwicklungsweg Russlands befasst. Nur Tsygankov folgt dem Kreml-Narrativ, was allerdings recht widersprüchlich ausfällt. Wie der Kreml macht der Autor die politische Klasse der Vereinigten Staaten mit ihrer „Russophobie“ und die „von der Ambition getragenen Politik Amerikas, die einzige Supermacht der Welt sein zu wollen“, für die Krise(n) im russisch-amerikanischen Verhältnis verantwortlich. Unklar bleibt jedoch, was und wie sich die US-amerikanische Politik auf die innere Entwicklung Russlands ausgewirkt hat. Von Wechselwirkungen zwischen der Politik Europas und der russischen Innenpolitik ist bei ihm überhaupt nicht die Rede. Zudem zieht sich durch seine Interpretation die These der „zyklischen“ Entwicklung Russlands, des Aufbaus eines autokratischen Zentralstaats, der in die Krise gerät, dann in eine Reformphase eintritt und dann wieder zur Autokratie zurückkehrt, dass also eine innere Gesetzmäßigkeit die Entwicklung des Landes bestimme.

Die besprochenen Werke weisen drei methodologische Schwächen auf. Die erste betrifft eine Besonderheit, die bei Russlandanalysen zu berücksichtigen ist. Bei Untersuchungen von Entscheidungsprozessen im Kreml ist es immer notwendig, nicht nur auf Wechselbeziehungen zwischen Innen- und Außenpolitik einzugehen, sondern auch auf die Verzahnung russischer Innenpolitik mit der Politik Moskaus im postsowjetischen Raum und ihren Auswirkungen auf die Außenpolitik sui generis.

Eine zweite Schwäche besteht darin, dass die Autoren es unterlassen, „kognitive“ und „instrumentelle“ Wahrnehmungen als analytische Kategorien voneinander zu trennen. Sie stellen nicht die wichtige Frage, was die Moskauer Machtelite wirklich denkt und was sie vorgibt zu denken, um ihre Macht zu sichern. Wehner schreibt beispielsweise, dass „Russland den Westen und Europa heute als Gegner, wenn nicht als Feind“ und als eine „gedemütigte Nation“ sieht, und sich „in einem Überlebenskampf wähnt“ (8, 14). Diese Formulierungen weisen darauf, dass der Autor das Narrativ der Machthaber als „kognitiv“ akzeptiert. Dann aber stellt er fest: „Der Kreml hat die russische Bevölkerung über Jahre ideologisch auf eine Entwicklung vorbereitet, wie wir sie heute erleben“ (15). Der Autor weist somit den Wahrnehmungen „instrumentellen“ oder manipulativen Charakter zu.

Ein drittes methodologisches Problem, das die Autoren nicht benennen, ist das Spannungsverhältnis zwischen inneren und äußeren machtpolitischen „Interessen“ und „Werten“. Grigas, Wehner und Reitschuster beispielsweise sind sich einerseits darin einig, dass (wie oben zitiert) das „Hauptmotiv“ politischen Handelns im System Putin der „Machterhalt“ sei, für den „je nach Situation verschiedene ideologische Begründungsmuster herangezogen werden“ (Wehner: 25) und dass „Putins einzige Ideologie der Machterhalt“ sei (Reitschuster: 18).86 Dann liest man jedoch, dass Putin und seine Mannschaft an eine „Mission“ glaubten, die sie mit großer Beharrlichkeit verfolgten, die „russische Nation ideologisch zu erneuern“. Wie bei der Frage nach den Wahrnehmungen ist unklar und vermutlich gar nicht eindeutig zu beantworten, ob die anti-westliche, national-patriotische Quasi-Staatsideologie und die Vision der Russischen Welt lediglich zur Legitimierung der Herrschaft dienen, also „instrumentellen“ Charakter haben, oder die reale Zielsetzung der Moskauer Machtelite darstellen.

Eine andere wichtige Frage, die sich durch die besprochenen Werke zieht, ist, wann Russland sich denn von der innenpolitisch liberal-demokratischen und außenpolitisch prowestlichen Orientierung abgewandt hat. Die Autoren geben darauf unterschiedliche Antworten, ihnen allen gemeinsam ist aber, dass sie die Bedingungen dafür bereits in der Jelzin-Ära sehen und dass diese in der Putin-Ära verschärft wurden.

Eine Unterfrage ist dabei, ob Putin es wirklich mit Erklärungen wie die, die er im Deutschen Bundestag 2001 abgab, dass das „Hauptziel der Innenpolitik Russlands vor allem die Gewährleistung der demokratischen Rechte und der Freiheit, die Verbesserung des Lebensstandards und der Sicherheit des Volkes ist“,87 und ob er ernsthaft eine genuine Partnerschaft mit dem Westen angestrebt, aber dann aus Enttäuschung über eine zurückgewiesene ausgestreckte Hand einen anti-westlichen Kurs eingeschlagen hat. Eine klare Antwort darauf gibt nur Reitschuster. Putins prowestliche Äußerungen seien nie ernst gemeint gewesen, und objektiv konnte es auch wegen der „eklatanten Unterschiede in den Grundsätzen, Überzeugungen und Werten“ zwischen dem sich entwickelnden System Putin und dem Westen nicht zu einer echten Partnerschaft kommen. Für seinen „Flirt“ mit dem Westen habe Putin zwei Gründe gehabt. Ein erster sei gewesen, dass er die gigantischen Vermögen, die privaten und staatlichen Oligarchen ins Ausland geschafft hatten, legitimieren und sicherstellen wollte, sodass diese dort gewinnbringend investiert werden könnten. Ein zweiter habe darin gelegen, dass Russlands Wirtschaft zur Jahrtausendwende hoffnungslos rückständig und dringend auf Technik, Technologie und Fertigungsanlagen angewiesen war, die nur im Westen zu erhalten waren (Reitschuster: 42 f.).

Abschließend ist festzustellen, dass die Frage, ob primär innere oder äußere Faktoren für den von der Moskauer Machtelite eingeschlagenen Kurs verantwortlich sind, von zentraler Bedeutung für die westliche Politik ist. Die Antwort darauf entscheidet unter anderem, wie die von wissenschaftlichen Forschungsinstituten geforderten Handlungsempfehlungen aussehen. Wenn es genuine Bedrohungsvorstellungen in Russland sind, die wesentlich zur Verhärtung in Moskau beigetragen haben, dann ist es opportun, nach Kompromisslösungen zu suchen, um den Kreml milde zu stimmen. Sind es dagegen hauptsächlich innere Beweggründe, eine innere Logik und vorgespielte Bedrohungsvorstellungen, die Entscheidungsprozesse in Moskau bestimmen, dann kann die russische Innenpolitik, in Nachbarstaaten und im weiteren Ausland nicht durch westliches Wohlverhalten bewerkstelligt werden.88

 

 

1Das Adjektiv „russländisch“ (rossijskij) ist von „russisch“ (russkij) zu trennen. „Russisch“ ist hauptsächlich ethnisch zu verstehen; es bezieht sich auf „Russen“, die dem derzeitig vorherrschenden national-patriotischen Diskurs zufolge den Kern der Russischen Welt (russkij mir) bilden. „Russländisch“ bezieht sich dagegen auf alles, was mit der Russländischen (rossijskaja) Föderation zu tun hat. Dieser eher staatsrechtliche Begriff wird hier nur dann verwandt, wenn er zur Unterscheidung von der historischen und ethnischen Kategorie „russisch“ notwendig ist.
2Diese Interpretation des Zusammenhangs zwischen russischer Innen- und Außenpolitik findet sich bei: Adomeit (2017).
3Serov und Adamišin in getrennten Fernsehauftritten, NTV und „Vesti“-Programm des RTV am 21.1.1998, zit. in: Jamestown Foundation Monitor: A Daily Briefing on the Post-Soviet States, 22.1.1998.
4„Presidential Decree Reorganizes Government Structure, Kiriyenko Reported.“ RIA-Novosti, Hotline, 2.5.1998 http://www.ria-novosti.com/products/hotline/1998/05/02-018.htn. Bei der Regierungsumbildung im September 1998 wurde Boris Pastuchov neuer GUS-Kooperations¬minister; siehe Rossijskaja gazeta, 30.9.1998, S. 1.
5Zu unterscheiden ist zwischen Herrschafts- und Regierungssystem. Herrschaftssysteme charakterisieren die tatsächliche Art und Weise der Herrschaftsausübung und berücksichtigen hierbei unter anderem, welche Personen oder Gruppen politische Macht ausüben. Davon abzugrenzen sind die Regierungssysteme, welche durch die Stellung des Staatsoberhaupts, Regierungschefs, des Parlaments und der Justiz und deren Wechselbeziehungen („Gewaltenteilung“) bestimmt werden.
6Der Begriff der „souveränen“ Demokratie kursierte bereits 2005, öffentlich etablierte ihn jedoch Vladislav Surkov − einer der Berater Putins, gelegentlich (übertrieben) als „Chefideologe“ des Kremls bezeichnet − in einer Rede vor Aktivisten der Regierungspartei Einiges Russland am 7. Februar 2006. „Der Souveränitätsaspekt bezeichnet dabei die Selbstbestimmung des russischen Staates nach außen: Er dürfe nicht, wie angeblich in der Ukraine geschehen, durch äußere Kräfte unterwandert und ins Chaos gestürzt werden. Gleichzeitig sollte das Konzept der Demokratie aus der westlich-liberalen Deutungshoheit herausgelöst und mit eigenem Inhalt gefüllt werden. Kritiker setzten den Ausdruck [...] in Beziehung zum Begriff der ,gelenkten Demokratie‘ und identifizierten ihn damit als Teil einer PR-Strategie zur Maskierung der schleichenden Autoritarisierung Russlands.“ Dollbaum 2016.
7Den „virtuellen“, „simulierten“ und „Schein“-Charakter des Systems Putin hat die Politologin Lilia Ševzova bereits 2007 diagnostiziert: Ševzova (2007): 47-65.
8Reitschuster (2014).
9Die umfassendste (445 Seiten) Darstellung und Analyse findet sich bei Dawisha (2015).
10Die überzeugendste Anwendung dieses Begriffs auf Russland bei Gel’man (2014).
11Eidmann (2016): 115. Das Buch wurde im Portal für Politikwissenschaft am 5.1.2017 von Wilhelm Johann Siemers besprochen: https://www.pw-portal.de/putins-russland/40212-wer-steht-fuer-russlands-zukunft.
12Putin (1999). Das Zitat stammt aus der sogenannten „Millennium“-Botschaft Putins, nachdem Jelzin ihn zu seinem Nachfolger gekürt hatte, praktisch eine Art Regierungsprogramm.
13Im Konzept der nationalen Sicherheit vom Dezember 1997 wurde sogar die nukleare Abschreckungsfähigkeit des Landes in den Zusammenhang des Vorrangs der Innenpolitik vor der Außenpolitik gestellt. Der nukleare Schirm und die Neuordnung der Beziehungen zur Außenwelt mache es Russland leichter, so hieß es dort, „die Ressourcen des Staates und der Gesellschaft neu zugunsten einer prioritären Lösung der akuten inneren Probleme zu verteilen“: Rossijskaja gaseta, 26.12.1997: 4-5. Zu dem Zeitpunkt jedoch, als diese These veröffentlicht wurde, war es sie schon überholt.
14Dieses Argument findet sich auch bei Reddaway und Glinski (2001).
15Die Charakterisierung der Inhalte des „patriotischen Konsens“ findet sich bei Arbatov (1997); siehe auch Simon (1997).
16Mommsen (2004): 148-153.
17Die Zahl von 30 Millionen, im „Nahen Ausland” lebenden „Russen” (russkich) wurde zum Beispiel in einem vom Außenministerium entwickelten Programm für ihren „Schutz“ genannt: Izvestija (1994).
18Eine etwas freie Übersetzung von „trends of centralization and balancing“, die allerdings den Kern dessen trifft, was Tsygankov meint.
19Der Begriff „Siloviki“ geht auf das russische Wort „sila“, Macht oder Kraft, zurück; Siloviki sind also Personen, die über Macht verfügen und ausüben. Der Begriff „Tschekist“ (translit. Čekist) leitet sich von der von dem bolschewistischen Berufsrevolutionär Felix Dzeržinskij am 20. Dezember 2017 gegründeten Geheimpolizei, der Cheresvychajnaja kommissija (Auerordentliche Kommission) ab.
20Putin (2004). In einer Fernsehansprache nach der Geiselnahme in Beslan am 4.9.2004. Der Hinweis auf Russland als „eine der größten Nuklearmächte“ im Zusammenhang mit dem Bemühen des Auslands, Russland zu zerstückeln, kann nur bedeuten, dass es die USA sind, die den Terrorismus als „Instrument“ gegen Russland nutzen wollen.
21Diese These hatte Tsygankov bereits 2009 vertreten: Tsygankov (2009): Aufmacher des Buches.
22Putin war offensichtlich von dieser für ihn ungewohnten öffentlichen Kritik schockiert. Wenn es Chodorkovskij um die Beseitigung von Korruption gehe, dann solle er sich lieber mit seinem eigenen Imperium befassen. „Wir wissen, wie die Oligarchen zu ihren Milliarden gekommen sind“, fügte er hinzu. Zitiert in der Spiegel-Recherche 2003. Eine umfassende Darstellung und Analyse der Jukos-Affäre findet sich bei: Pleines 2005.
23Putin erklärte später, dass die Amtsrochade Präsident-Premier, die bei den Präsidentschaftswahlen im März 2012 stattfand, von Anfang an geplant war. Siehe dazu den nachfolgenden Abschnitt.
24Medwedews vernichtende Kritik an den bestehenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen und die Notwendigkeit umfassender „Modernisierung” findet sich u. a. in seinen Jahresbotschaften an die Föderale Versammlung 2008 und 2009 sowie in seinem Aufruf „Vorwärts, Russland!“, in: Kremlin.ru, 10.9.2009, http://www.kremlin.ru/news/5413.
25Poslanie Federal’nuju Sobraniju Rossijskoj Federacii, Kremlin.ru, 12.11.2009, http://kremlin.ru/transcripts/5979. Zur Abhängigkeit des Wirtschaftswachstums vom Ölpreis siehe Götz (2015).
26Poslanie [wie Fn. 35].
27Ebd. – Das Außenministerium fügte sich den Anweisungen Medwedews und legte im Mai 2010 ein entsprechendes Programm vor: Programma effektivnogo ispol’zovanija na sistemnoj osnove vnešnepolitičeskich faktorov v celjach dolgosročnogo razvitija Rossijskoj Federacii, Perevodika.ru, 10.2.2010, http://perevodika.ru/articles/13590.html.
28Russia Does not Want „Zero-Sum“. Geopolitical Games in CIS – Lavrov, Vesti TV, 10.12. 2008.
29Ebd.
30Putin (2014).
31Tsygankov unter Bezugnahme auf Samarina (2013).
32Zu dem auf Russland angewandten Konzept des „weak state authoritarianism“ siehe Hanson (2007) und Mendras (2012) und (2013).
33Tsygankov schreibt zwar, dass die „patriotischen Werte“ nicht traditionalistisch, isolationistisch und antiwestlich sein sollten. Genau dies ist aber im System Putin der Fall.
34Die nachfolgende Darstellung basiert auf ebd.: 53-56 und Wikipedia, „Russische Verfassungskrise 1993“, https://de.wikipedia.org/wiki/Russische_Verfassungskrise_1993.
35Bei der Bewertung der Ereignisse ist umstritten, ob die Doppelherrschaft tatsächlich nur durch den Einsatz militärischer Gewalt gebrochen werden konnte oder ob es Kompromisslösungen gab. Ich konnte mir damals wie auch heute keine Kompromisslösung vorstellen. Lilija Ševzova beispielsweise, eine der besten Politologen, die das neue Russland hervorgebracht hat und die lange Jahre mit dem Moskau Carnegie Center und der Brookings Institution in Washington verbunden war, war ursprünglich anderer Meinung, hat in der Zwischenzeit aber ihre Auffassung geändert. Korrespondenz mit Ševzova, 20.-22.8.2017.
36Gel’man (2015): 56.
37Rezultaty vyborov v Dumu I sozyva 12 dekabrja 1993. http://www.politika.su/fs/gd1rezv.html.
38Zu den kontinental-europäischen, „eurasischen“, „eurasistischen“ und „neo-eurasistischen“ – westlichen, „euro-atlantischen“ entgegengesetzten − Konzepten siehe: Umland (2017).
39So enthält beispielsweise der umfangreiche Index keinen Verweis auf die NATO.
40„Osnovnye položenija koncepcii vnešnej politiki Rossiskoj Federacii ot 23 aprelja 1993 goda.“ Učebnik online, http://uchebnik-online.com/131/1174.html.
41Gelb (1993).
42Der 30 Seiten umfassende Text der Studie wurde an Journalisten auf einer Pressekonferenz in Moskau verteilt und vollständig oder in Auszügen in allen großen nationalen Zeitungen veröffentlicht. Die obigen Zitate laut „Perspektivy rasširenija NATO i interesy Rossii. Doklad služby vneshnei razvedki.“ Izvestija, 26.11.1993.
43ITAR-TASS, 5.1.1994.
44Schmemann (1992).
45Bridge (1993).
46Einzelheiten zur russischen Balkanpolitik als Streitpunkt in den innenpolitischen Auseinandersetzungen in Moskau bei: Adomeit (2004): 237-241.
47Gel’man hat nur die Prinzipien der Wahlmanipulationen zusammengestellt. Die Einzelheiten stammen vom Rezensenten.
48S’’ezd partii 2011. Die nachfolgende Darstellung und Analyse der Legitimitätskrise des Systems Putin im Herbst und Winter 2001 gründet sich auf Adomeit (2017): 44-45.
49Tsygankov erwähnt die Eurasische Union wenigstens einige Male (146, 174, 192-193), Gel’man aber, zumindest nach dem Index zu urteilen, noch nicht einmal das.
50Putin (2011). Zur Bedeutung der Eurasischen Union als Konkurrenzprojekt zu den EU-Assoziierungsabkommen für die Länder der Östlichen Partnerschaft siehe Adomeit (2014) und (Adomeit 2017): 44-45.
51Putin (2012).
52Das Zitat des Patriarchen bei Lavrov (2015). − Bei dem Begriff der „Heiligen Rus“ (Svjataja Rus’) handelt es sich um den ersten orthodoxen Staat der Ostslawen, der unabhängig von der heutigen nationalen Identität der Ukrainer, Belarussen oder Russen eines gemeinsam hatte: Sie alle waren orthodox. Gemeint sind damit alle staatlichen Strukturen auf dem Gebiet des späteren Russland, die vor 1654 existierten.
53Putin (2014b).
54In seiner offiziellen Reaktion zeigte sich Moskau über Schäubles Äußerungen „empört“, bezeichnete diese als „Provokation“ und bestellte sogar den deutschen Botschafter ein, um dagegen zu protestieren. – Zu Recht hat Schäuble der Kritik an seinen Äußerungen entgegengehalten, er habe nicht Putin und Hitler gleichstellen wollen, sondern lediglich auf ein gefährliches außenpolitisches Verhaltensmuster hingewiesen. − Quellenangaben erübrigen sich hier, denn über den Vorgang wurde eingehend und weltweit berichtet.
55Ebd.
56Nemcov, Boris und Vladimir Milov (2010).
57Ryžkov 2014. Bei den Berechnungen der Kosten, die Moskau aus der Subventionierung der vom ihm kontrollierten Gebiete entstehen, unterscheidet Ryžkov in Anlehnung an Begriffe des britischen Commonwealth direkt verwaltete Territorien (Kolonien) und indirekte (Dominions).
58Die von Nemcov, Milov und Ryžkov entwickelten Ansätze angewandt und fortgeführt bei Adomeit (2015).
59Charakteristisch für diesen Mangel ist die Tatsache, dass Grigas auch keine Verbindung zwischen den „Farbrevolutionen“ und der russischen Innenpolitik herstellt. Im Index taucht dieser Begriff nicht auf.
60Das betrifft beispielsweise Gabriele Krone-Schmalz. Laut Wikipedia-Eintrag arbeitete sie lediglich 1987 bis 1991 als Journalistin in Moskau. Den meist polemisch gebrauchten Begriff „Russlandversteher“ greift sie im positiven Sinne in ihrem 2015 veröffentlichten Buch Russland verstehen. Der Kampf um die Ukraine und die Arroganz des Westen auf. Bei ihr ist die Beziehung zwischen russischer Innen- und Außenpolitik eindeutig. Die russische Ukraine-Politik (wie auch, so wird im Buch klar, die russische Außenpolitik überhaupt) sei „weitgehend defensiv“. Die EU und die USA trügen die Hauptverantwortung für den Konflikt in der Ukraine, weil sie beide durch ihre Expansionspolitik die Sicherheitsinteressen Russlands missachtet und die politischen Verhältnisse in der Ukraine von außen massiv beeinflusst hätten. Im Wesentlichen ist dieses „Werk“ beschönigend und geschichtsklitternd. Es ignoriert die innenpolitischen Ursachen der Krim-Annexion und der militärischen Intervention Russlands in der Ostukraine.
61Die Transliteration der Namen ist meine, nicht die des Autors. Zu den „vielen anderen“ gehört auch Ivan Safronov der nach der offiziellen Version Selbstmord begangen haben soll, was ich und all die anderen, die ihn kannten, vehement bestreiten. Kurz vor seinem Tod hatte er noch Orangen gekauft.
62Dawisha (2014). Eine ausführliche Rezension des Buches von Dawisha sowie von Browder 2015 bei Adomeit (2016b).
63Klimeniouk (2016). Hervorhebung nicht im Original.
64Heritage (2014).
65Nachfolgend Wikipedia: Skuratow-Eintrag und CSIS 2000: 29-31.
66Spiegel-Recherche 2003.
67Litvinenko Inquiry (2016): 241
68Sowohl Lugovoj als auch Kovtun befinden sich auf der US-amerikanischen Sanktionsliste, die nach dem mutmaßlichen Mord an Sergej Magnickij („Magnitsky Act“) erstellte wurde.
69Am 4.9.2017 behauptete Vitalij Smirnov, der Vorsitzende des russischen Anti-Doping-Ausschusses: „Ich habe mich vor einiger Zeit mit McLaren getroffen. Da hat er letztendlich gesagt, dass er die Vorwürfe der staatlichen Einflussnahme fallen lässt.“ Smirnov bezeichnete zudem diesen Vorgang als „sehr wichtig“. Zahlreiche russische Medien und RT griffen diese Aussagen daraufhin auf, sogar der Kreml reagierte. „Wenn diese Informationen stimmen, kann man sie nur begrüßen“, sagte Dmitrij Peskov, Putins Pressesprecher. In einer Stellungnahme des Büros des kanadischen Rechtsprofessors hieß es allerdings: „Professor McLaren steht unmissverständlich zu den Ergebnissen seiner Untersuchung. Er ist überrascht von den jüngsten Berichten, die das Gegenteil behaupten.“ McLaren 2017.
70Auf Youtube ist sowohl die ursprüngliche als auch die von RT veränderte Version zu sehen, letzteres Video ohne die Streubomben: https://www.youtube.com/watch?v=NP8VOliyPc8.
71Office of the Director of National Intelligence (2017).
72Der Fall Magnickij bezieht sich auf den Moskauer Steueranwalt Sergej Magnickij, der im Herbst 2007 den größten bekannten Steuerbetrug der russischen Geschichte aufdeckte und zwei Jahre später nach Verweigerung medizinischer Hilfe und Folterungen im Gefängnis ums Leben kam.
73Siehe beispielsweise Nemcov und Milov (2010), Ryžkov (2014), Adomeit (2015) und Caroll (2017).
74„Solange die Vorstellungen des Moskauer außen- und sicherheitspolitischen Establishments traditionellem Denken verhaftet bleiben, keine gesellschaftlich orientierten Reformen vorgenommen werden, die Geheimdienste im Entscheidungsprozess weiter vordringen und der Tschetschenienkonflikt Militär, Politik und Gesellschaft in Russland vergiftet, kann es keine feste, vertrauensvolle Basis und echte Partnerschaft zwischen Russland und den westlichen Demokratien − einschließlich Deutschlands − geben.“ Adomeit (2005): 51.
75Barroso (2014).
76Analyse des Isborsker Klubs bei Götz (2015).
77In der Tat gibt es eine Webseite mit genau dieser Bezeichnung: „5-ja Kolonna − Vragi naroda.“ http://пятаяколонна.рф/. Als frühere und heutige „herausragende Vertreter“ der 5. Kolonne werden unter anderem die folgenden Personen genannt: Der ehemalige Vorstandvorsitzende der „Jukos“-Ölgesellschaft Michajl Chodorkovskij; der Blogger und Oppositionspolitiker Alexander Navalnij; der ehemalige Schachweltmeister und – zusammen mit Boris Nemcov – Gründer der außerparlamentarischen Oppositionsbewegung „Solidarnost“ Garri Kasparov; der frühere Premierminister Jegor Gaidar; der ehemalige Leiter der Präsidialverwaltung unter Jelzin und ehemaliger Chef des halbstaatlichen Energiekonzerns EES Rossii Anatolij Čubais; die Tochter des ehemaligen liberalen Bürgermeisters von St. Petersburg Ksenia Sobčak; und liberaler Kreml-Kritiker, Satiriker, Journalist und Drehbuchautor Viktor Šenderovič. Vor seiner Ermordung befand sich auch Boris Nemcov auf dieser Liste. Zur „Fünften Kolonne“ und dem Isborsker Klub siehe Adomeit (2016c).
78Putin (2011a). In seinem jährlichen Fernsehauftritt „Direkter Draht” (prjamaja linea) am 17.10. 2011.
79Putin (2004a). In einer Rede am 12.2.2004 vor rund 500 Journalisten im Rahmen seiner Kampagne für die Präsidentschaftswahlen vom März 2004.
80Putin 2005. In seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation vor der Föderalen Versammlung. Er sprach von „krupnejšaja katastrofa“. Richtiger übersetzt müsste es „enorme“, „riesige“ oder „größere“ Katastrophe heißen. Wenn Putin wirklich „die größte Katastrophe“ gemeint hätte, dann hätte er „samaja krupnaja katastrofa“ sagen müssen.
81Der vom Autor angegebene Link http://www.koerber-stiftung.de/fileadmin/bg/PDFs/bnd_101_de.pdf ist obsolet. Das Putin zugeschriebene Zitat findet sich aber auch bei Wehner 2014.
82Socor (2008). Berichte in Kommersant vom 7.4.2008 sowie der Moscow Times vom 8.4.2008. Im Wesentlichen bestätigte Außenminister Lavrov diesen Bericht in einem Radiointerview wie folgt: „Sowohl in Bukarest als auch in Soči hat Putin daran erinnert, wie die heutige Ukraine in ihren gegenwärtigen Grenzen geschaffen wurde. [Er erinnerte auch an] die Gegensätze zwischen der westlichen Ukraine und ihren östlichen und südöstlichen Regionen. Er sagte, dass das, was getan werde, um die Ukraine in die Nato zu ziehen, nicht die wichtige Aufgabe erleichtern würde, der Ukraine zu helfen, ihre Einheit zu bewahren.“ Radio Interview mit Ekho Moskvy vom 8.4.2008. – Putins Sicht deckt sich mit der, die schon Alexander Solčenicyn im September 1973 in seinem „Offenen Brief an die sowjetische Führung“ offenbart hat. Er bezeichnete dort den Norden Kasachstans über die Ost- und Südukraine bis nach Odessa als legitim russisches Gebiet, wo bolschewistische Abenteurer willkürlich neue Grenzen gezogen hätten, um den Eliten in den neuen nationalen Republiken die Sowjetmacht schmackhaft zu machen. Holm 2014. – Interessant ist an den Ausführungen Putins 1994 ebenfalls, dass er Gorbačev mit „ungeschickten Handlungen“ für den Zerfall der UdSSR verantwortlich macht, (noch nicht) die westlichen Geheimdienste.
83Reitschuster: 18 und Grigas: 21.
84Sicherheitskonzept 2000.
85Putin (2012a).
86Ähnlich Grigas: 21.
87Putin 2001.
88Insbesondere bei Reitschuster und Wehner finden sich Handlungsempfehlungen, die darauf hinauslaufen, dass eine Politik des Appeasements fatal wäre. Der Westen müsse „Stärke“ zeigen und Russland „enge Grenzen“ setzen, die Sanktionen müssten beibehalten und „Geduld“ geübt werden, bis Putin zu einer kooperativen Politik zurückkehre. Ziel der vorliegenden Sammelbesprechung war es allerdings, analytische und methodologische Probleme zu klären, nicht Empfehlungen für die praktische Politik abzugeben. Dieser Aspekt wurde infolgedessen ausgeklammert.

 

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Reddaway, Peter und Dmitri Glinski (2001): The Tragedy of Russia's Reforms: Market Bolshevism Against Democracy. Washington, D.C: U.S. Institute of Peace Press.

Reitschuster, Boris (2014). Putins Demokratur – Ein Machtmensch und sein System. 3. aktualisierte und erweiterte Auflage. Berlin: Ullstein. Zur Rezension siehe: https://www.pw-portal.de/rezension/37311-putins-demokratur_45763

Ryžkov, Vladimir (2014): „Bremja imperii.“ Echo.msk.ru, http://m.echo.msk.ru/blogs detail.php?ID=1338210, 11. Juni.

Samarina, Alexandra (2013): „Ugolovno-administrativnoe stimujlirovanie elit.“ Nezavisimaja gazeta, 27. August.

Schmemann, Serge (1992): „Yeltsin Cancels Visit to Japan as Dispute Over Islands Simmers.“ The New York Times, 10. September.

Shevtsova, Lilia (2007). Lost in Transition – The Yeltsin and Putin Legacies. Washington, DC: Carnegie Endowment for International Peace.

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Tsygankov, Andrei P. (2009): Anti-Russian Lobby and American Foreign Policy. New York: Palgrave Macmillan.

Umland, Andreas (2017): „Wahlverwandtschaften der russischen extremen Rechten: Der Neo-Eurasismus, das Putin System und die Verbindungen nach Westeuropa.“ https://www.pw-portal.de/putins-russland/40295-wahlverwandtschaften-der-extremen-rechten, 28. März.

Wehner, Markus (2014): „Putins Ambitionen: ,Ich denke dabei nicht nur an die Krim‘.“, FAZ.net, http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/wie-putin-seit-jahren-seine-grossmachtplaene-umsetzt-13139437.html, 18. September.

Quiring, Manfred (2017): Putins russische Welt: Wie der Kreml Europa spaltet. Berlin: Links Verlag.

Wohlleben, Natalie (2017): „Zu viel gewollt − Die imperiale Überdehnung der Sowjetunion. Gescheitert auch an der Teilung Deutschlands.“ Portal für Politikwissenschaft. 3.7. Buchbesprechung von Adomeit, Hannes (2016). Imperial Overstretch: Germany in Soviet Policy from Stalin to Gorbachev. An Analysis Based on New Archival Evidence, Memoirs, and Interviews. Baden-Baden: Nomos,
https://www.pw-portal.de/putins-russland/40247-imperial-overstretch-germany-in-soviet-policy-from-stalin-to-gorbachev.

 

 

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Putins Russland

 

Transformation mit ungewissem Ausgang. Neue Elite unter Putin steuert innenpolitische Entwicklung

Am Ausgangspunkt dieser Zusammenschau verschiedener Beiträge zur gesellschaftlichen und innenpolitischen Entwicklung Russlands steht die These Karen Dawishas, in Russland sei nie versucht worden, eine Demokratie aufzubauen – eine neue Elite habe sich des einstigen sowjetischen Vermögens bemächtigt und sehe in einem autoritären Regime ihre Interessen am besten geschützt. Auch in weiteren Beiträgen steht diese neue Elite im Mittelpunkt. Beschrieben wird sie als antiwestlich und weder Gewalt noch Medienmanipulationen gegenüber abgeneigt.

 


Wahlverwandtschaften der russischen extremen Rechten. Der Neo-Eurasismus, das Putin-System und die Verbindungen nach Westeuropa

Ein Grund dafür, dass die russische Gesellschaft ungeachtet ihres akklamierten Antifaschismus die wachsende wechselseitige Durchdringung zwischen der extremen Rechten und der russischen Führung akzeptiert, liegt im Einfluss des Neo-Eurasismus, wie Andreas Umland in seiner Analyse zeigt. Einige Elemente dieser demonstrativ pannationalistischen, aber zugleich ethnozentrischen Ideologie sind im Laufe der vergangenen 25 Jahre tief in die russische Intellektuellendebatte, die Hochschulbildung und die Massenmedien eingedrungen. Entstanden sind dabei auch Anknüpfungspunkte für die extreme und populistische Rechte in Westeuropa.

 


Zu viel gewollt – die imperiale Überdehnung der Sowjetunion. Gescheitert auch an der deutschen Teilung

Die russische Behauptung, der Westen habe Gorbatschow einst versprochen, die NATO nicht nach Osten auszudehnen, ist nur ein Mythos, der heute der Propaganda dient, wie Hannes Adomeit in seinem Buch „Imperial Overstretch: Germany in Soviet Policy from Stalin to Gorbachev. An Analysis Based on New Archival Evidence, Memoirs, and Interviews” zeigt. Tatsächlich war zum einen der Systemumbruch in Osteuropa in der Zeit, in der die deutsche Einheit verhandelt wurde, nicht weit genug fortgeschritten, um eine derartige Forderung zu erheben, zum anderen erlebte die Sowjetunion in der Endphase ihrer imperialen Überdehnung einen Paradigmenwechsel, der ein Neues Denken auch in der Sicherheitspolitik ermöglichte. Heute aber sei eine Wiederauferstehung imperialer Ambitionen zu beobachten.

 


Darstellung: Eugene Ivanov

Stalinismus – Systemumbruch – Geschichtspolitik. Eine Auswahl an Kurzrezensionen

In Russland ist eine politisch zielgerichtete Deutung der eigenen respektive der sowjetischen Geschichte zu beobachten, wie sich in einigen der hier vorgestellten Bücher zeigt. Ohne Stalin zu rehabilitieren, werden Errungenschaften seiner Zeit wieder positiv hervorgehoben und dabei auch die Qualitäten einer starken Führungspersönlichkeit betont. Die stalinistischen Verbrechen werden tendenziell ausgeblendet.

 


Aus der Annotierten Bibliografie

Jegor Gajdar

Der Untergang eines Imperiums. Übersetzung: Vera Ammer

Wiesbaden: Springer Gabler 2016; 369 S.; hardc., 29,99 €; ISBN 978-3-658-10572-3

Als Wirtschaftsminister und später auch als kommissarischer Ministerpräsident war Jegor Gajdar seit 1991 in führender Position für die Umsetzung jener grundlegenden Wirtschaftsreformen im postsowjetischen Russland verantwortlich, die als „Schocktherapie“ in die Geschichte eingingen. Seine Kritiker sollten ihm dafür bis zu seinem Tod 2009 immer wieder vorwerfen, dass er damit die Verantwortung für die Hyperinflation und die Entwertung der Sparguthaben in den frühen 1990er‑Jahren getragen habe. 


Jegor Gajdar

Entscheidung in Rußland. Die Privatisierung der Macht und der Kampf um eine zivile Gesellschaft. Aus dem Russischen von Vera Ammer

München/Wien: Carl Hanser Verlag 1995; 203 S.; ISBN 3-446-18279-9

Jegor Gajdar, damaliger Premierminister und Autor der russischen wirtschaftlichen "Schocktherapie" des Jahres 1992 und bis heute einer der führenden demokratischen Politiker Rußlands, hat sein Buch (Originaltitel "Staat und Evolution") im Jahre 1995 zuerst in Rußland veröffentlicht. Darin spricht er sich klar und entschlossen für die "Verwestlichung" Rußlands aus - im Sinne der Etablierung einer russischen Marktwirtschaft und eines russischen demokratischen Rechtsstaats. 


Michail Chodorkowski

Meine Mitgefangenen. Aus dem Russischen übersetzt von Vlada Philipp und Anselm Bühling

Berlin: Galiani 2014; 107 S.; geb., 17,50 €; ISBN 978-3-86971-089-1

So wie die Literatur über den Gulag die wahre Geschichte der Sowjetunion erzählt, spiegeln auch Michail Chodorkowskis biografische Miniaturen über Mitgefangene die Zustände im heutigen Russland. Der Unternehmer Chodorkowski war zehn Jahre lang wegen Steuerhinterziehung und Betrug inhaftiert, 2013 wurde er amnestiert. Seine Inhaftierung ist vielfach als politisch motiviert beschrieben worden, da Chodorkowski öffentlich mit Putin in Streit geraten war und Oppositionsparteien unterstützt hatte. In diesem Band aber geht es nicht um ihn selbst.


Erik Albrecht

Putin und sein Präsident. Russland unter Medwedew

Zürich: Orell Füssli Verlag AG 2011; 206 S.; 19,90 €; ISBN 978-3-280-05427-7

Als Medwedew 2008 zum neuen Präsidenten gewählt wurde, keimte bei einigen außenstehenden Beobachtern und auch Bürgern Russlands die Hoffnung auf, dass Putins Nachfolger aus dem Schatten seines Ziehvaters treten und grundlegende Reformen anstoßen könnte. Die Hoffnung wurde enttäuscht, wie Albrecht in seinem kritisch-rekonstruierenden Buch nachweist. Bereits in Medwedews Antrittsrede spiegelt sich jene Haltung, die seine gesamte Präsidentschaft hindurch fortbestehen sollte


Boris Reitschuster

Der neue Herr im Kreml? Dimitrij Medwedew

Berlin: Econ 2008; 254 S.; geb., 16,90 €; ISBN 978-3-430-20049-3

In seiner Biografie des neuen russischen Präsidenten wirft Reitschuster einen kritischen Blick hinter die Kulissen des Kremls. Der Journalist, der seit 1999 das Moskauer Focus-Büro leitet, zeigt dem Leser, wie die gelenkte Demokratie Russlands funktioniert. Zugleich dokumentiert er anhand des Machtwechsels im Kreml den Stand der Pressefreiheit im heutigen Russland. Für ausländische Journalisten ist es nahezu unmöglich, ins Zentrum der russischen Macht vorzudringen. 


Alex Goldfarb / Marina Litwinenko

Tod eines Dissidenten. Warum Alexander Litwinenko sterben musste. Aus dem Amerikanischen von Violeta Topalova

Hamburg: Hoffmann und Campe 2007; 428 S.; geb., 19,95 €; ISBN 978-3-455-50045-5

Ende 2006 starb in London der ehemalige russische Geheimdienstoffizier Litwinenko an einer Polonium-Vergiftung. Die Strahlendosis entsprach etwa der doppelten Menge des Fallouts, der bei der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl freigesetzt wurde. Sein Tod erregte weltweit Aufsehen, weil bis heute der russische Geheimdienst für diesen Mord verantwortlich gemacht wird. Gemeinsam mit der Witwe hat Goldfarb aber nicht nur die Lebensgeschichte Litwinenkos aufgeschrieben. 


Bill Browder

Red Notice. Wie ich Putins Staatsfeind Nr. 1 wurde. Aus dem Englischen von Hans Freundl und Sigrid Schmid

München/Wien: Carl Hanser Verlag 2015; 410 S.; 21,90 €; ISBN 978-3-446-44303-7

Das Buch ist Sergej Magnitski gewidmet, der als Anwalt für Bill Browder arbeitete und dabei versuchte, gegen die Korruption in Russland vorzugehen. Unter falschen Anschuldigungen wurde er verhaftet und starb 2009 in einem Moskauer Gefängnis infolge von Misshandlungen. Browder konnte in den USA Unterstützung dafür gewinnen, die Peiniger zu bestrafen: 2012 wurde der Magnitsky Act erlassen, die Täter wurden damit sanktioniert.


Walter Laqueur

Putinismus. Wohin treibt Russland? Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt

Berlin: Propyläen Verlag 2015; 332 S.; geb., 22,- €; ISBN 978-3-549-07461-9

Für den Historiker Walter Laqueur steht fest, dass das politische System Russlands „gegenwärtig eine Diktatur mit großer Unterstützung der Bevölkerung“ (11) ist. Damit ein solches System funktioniert, brauchen die Regierenden eine Ideologie oder Doktrin. Der Autor nennt diese Ideologie „Putinismus“ (88), indem er Dokumente der russischen Regierung in diese Richtung interpretiert: „Das Land brauche eine neue Mission, eine ‚russische Idee‘, welche die Grundlage der gossudarstwennost (Staatlichkeit) und auch der Solidarität bilden müsse.“ (89)

 

Mehr zum Themenfeld Autokratie vs. Demokratie: Das Wiederaufkommen der Systemkonkurrenz

 

Mehr zum Themenfeld Strategische Konkurrenz im internationalen System?

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