Skip to main content
Wolfgang Leonhard

Anmerkungen zu Stalin

Berlin: Rowohlt 2009; 189 S.; 16,90 €; ISBN 978-3-87134-635-4
Dass Stalin in einer Meinungsumfrage jüngst zur „bedeutendsten historischen Persönlichkeit Russlands” (9) gewählt wurde, mag eine offensichtliche Geschichtsvergessenheit vieler Russen illustrieren und für Sprachlosigkeit sorgen. Doch gerade um der Aufklärung der Vergangenheit willen kann das Schweigen keine Lösung sein, und so liest sich auch Leonhards Buch als eine Schrift gegen das Vergessen. Die Geschichte führt zurück ins Jahr 1935, als der Autor zum ersten Mal mit dem Personenkult um den sowjetischen Diktator in Berührung kam. Da war er gerade 14 Jahre alt und er ahnte noch nicht, dass seine Mutter und sein leiblicher Vater, von dem er erst sehr viel später erfuhr, bald Opfer des Systems werden sollten. Als einer der letzten, der die Stalin-Ära ganz bewusst erlebt hat, räumt er so in seinem Essay gründlich mit dem Mythos auf, der in Russland um den „Führer der fortschrittlichen Menschheit” (14) neuerlich errichtet wird. Und gerade dadurch, dass Personenkult und willkürliche Verhaftungen für Leonhard eben keine abstrakten Begriffe, sondern Stationen der eigenen Familienbiografie sind, ist sein Werk authentisch. In einer betont klaren Sprache wird der Leser durch sieben kurze Kapitel geführt, in denen er den Aufstieg des ehemaligen Priester-Seminaristen zum Herrscher der Sowjetunion schildert. Den Erfolg des anfangs von vielen unterschätzten Stalin führt Leonhard darauf zurück, dass er „der einzige im ZK der Partei [war], der über Realitätssinn verfügte” (46). Als Machttaktiker machte ihn dies allen anderen überlegen. Stalin veränderte so die Rolle der Partei, deutete den Marxismus in einem Sinne, der kaum mehr etwas von Marx übrig ließ, und errichtete einen gigantischen bürokratischen Apparat, der zum Instrument seiner Herrschaft werden sollte. Alles in allem bringen die „Anmerkungen” kaum neue Erkenntnisse, aber als Innenansicht eines der letzten lebenden Zeitzeugen auf ein System, das einst sogar so kritische Geister wie Leonhard zu verzaubern wusste, sind sie von unschätzbarem Wert.
Michael Vollmer (MV)
M. A., Politikwissenschaftler, wiss. Mitarbeiter, Professur für Politische Theorie und Ideengeschichte, TU Chemnitz.
Rubrizierung: 2.622.12.25 Empfohlene Zitierweise: Michael Vollmer, Rezension zu: Wolfgang Leonhard: Anmerkungen zu Stalin Berlin: 2009, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/30547-anmerkungen-zu-stalin_36269, veröffentlicht am 29.04.2009. Buch-Nr.: 36269 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken