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Stefan Wolle

Aufbruch nach Utopia. Alltag und Herrschaft in der DDR 1961-1971

Berlin: Ch. Links Verlag 2013; 440 S.; 2., durchges. Aufl.; 29,90 €; ISBN 978-3-86153-619-2
„Die Insel Utopia […] wird existieren, solange sie gesucht wird. Und sie wird zugrundegehen, wenn Eroberer ihre Fahne dort aufpflanzen, um das Eiland ihrem irdischen Reich einzuverleiben.“ (420) So ähnlich sind – zumindest aus Sicht der zunächst Wohlmeinenden – die mittleren Jahre der DDR verlaufen, die Stefan Wolle im zweiten Teil seiner Trilogie über die DDR (siehe Buch‑Nr. 7196 und 44673) gewohnt luzide in ihre charakteristischen Einzelteile zerlegt – aus dem „Aufbruch nach Utopia“ wurde der „Aufbruch in die Stagnation“ (381). Zwar identifiziert Wolle die 1960er‑Jahre durchaus als den Zeitraum, in dem über Reformen nachgedacht und einiges – etwa auf kulturellem Gebiet – auch versucht wurde. Immerhin sahen die trivialmarxistischen Denkmuster der SED‑Oberen eine „allgemeine Menschheitsverbrüderung“ (110) vor, waren bestimmt vom Glauben an den Fortschritt von Wissenschaft und Technik wie an „die Gesetzmäßigkeit der Geschichte“ (111), gottlos und von der „Verherrlichung der Arbeit“ (112) geprägt. Überschattet aber wurden diese Suchbewegungen mit dem Ziel, eine sozialistische Gesellschaft durchzusetzen – und damit vor allem den Mangel „sozial gerecht“ (196) zu verteilen –, von dem ausufernden Machtanspruch der SED, der sich mit der in der DDR vorherrschenden „pseudoproletarische[n] Kleinbürgermoral“ (212) paarte. Wolle illustriert die Auseinandersetzungen mit diesem Gemenge aus Fortschrittsglauben und gesellschaftlichen Rückstand mit Zitaten aus Erinnerungen, Romanen, Filmen und aus dem Kabarett. So gelingt es ihm, eine Ahnung von dem Gefühl zu vermitteln, das die Menschen bedrückte, die nicht systemkonform dachten. Vor allem diejenigen, die in den späten 1960er‑Jahren jung waren, bekamen das enge Korsett des Sozialismus zu spüren – jede kleine Innovation in der Mode oder der Versuch, die Rolling Stones spielen zu sehen, stand unter dem Generalverdacht des Revisionismus. Wolle schreibt aber gerade dieser Generation im Ostblock, die hoffnungsvoll auf den Prager Frühling geblickt hatte und sich nach dessen Niederschlagung versuchte unauffällig zu verhalten, eine Schlüsselrolle für die spätere (nicht nur deutsche) Geschichte zu: Die 68er des Ostens hatten „widerlegt, was sie beweisen wollten, nämlich die Erneuerungsfähigkeit des Sozialismus“ (419). Das Lebensgefühl des Aufbruchs aber „haben viele mit sich herumgetragen bis ins Jahr 1989“ (418).
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 2.314 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Stefan Wolle: Aufbruch nach Utopia. Berlin: 2013, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/37653-aufbruch-nach-utopia_46017, veröffentlicht am 09.10.2014. Buch-Nr.: 46017 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken