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Martin Sabrow (Hrsg.)

Autobiographische Aufarbeitung. Diktatur und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert

Leipzig: Akademische Verlagsanstalt 2012 (Helmstedter Colloquien 14); 167 S.; brosch., 19,- €; ISBN 978-3-931982-76-8
Neben den Massenmedien und dem Schulunterricht erscheinen lebensgeschichtliche Schilderungen als „die hauptsächliche Instanz, die das Bild der Vergangenheit prägt und generationell weitergibt“ (11). Politische Zäsuren und Systembrüche wie 1917/18, 1933, 1945 und 1989/91 werden dabei von den Beteiligten ganz unterschiedlich erinnert und interpretiert. Auf den Helmstedter Universitätstagen im September 2011 untersuchten Historiker, Literaturwissenschaftler und Soziologen besonders mit Blick auf die deutsche Wiedervereinigung Identitätskonstruktionen im Rahmen von Autobiografien. Im Vergleich zu 1945 lässt sich eine viel stärkere literarische Selbstbewältigung feststellen, die sich in einer „schier unübersehbare[n] Zahl von Funktionärsmemoiren“ (16) niederschlägt. Der Berliner Zeithistoriker Sabrow begründet dies u. a. mit der Tatsache, dass die SED-Diktatur im Gegensatz zum NS-Regime keinen Zivilisationsbruch darstellte und es für ihre Protagonisten damit einfacher war, sich öffentlich zu erklären. Als typische Formen identifiziert Sabrow die Konversions- und der Kontinuitätsbiografien. Erstere bildeten bis 1989 „in Gestalt der exkommunistischen Abkehrerzählung das beherrschende Muster der biographischen Auseinandersetzung mit der kommunistischen Welt“ (18). Zweitere hingegen erzählen Lebensgeschichte als „gezielte Relativierung oder gar Verneinung der historischen Zäsur, um so die Identität des Ich-Erzählers zu bewahren“ (21 f.). Autobiografische Schriften schwanken also zwischen „selbstkritische[r] Abkehr“ und „unbeirrte[r] Rechtfertigung“ (15), in jedem Fall ist ein intensives Werben um Authentizität erkennbar. Letzteren Typus der „Erinnerung als Rechtfertigung“ (57) identifiziert Oliver von Wrochem auch in den Memoiren deutscher Generäle des Zweiten Weltkriegs. Eine selbstkritische Hinterfragung habe dabei nur in Ausnahmen stattgefunden. Sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik sei damit ein kollektives Opfernarrativ geschaffen worden, mit dem die Verantwortung für Holocaust und Kriegsverbrechen einem kleinen Kreis um Hitler zugeschrieben worden sei.
Martin Munke (MUN)
M. A., Europawissenschaftler (Historiker), wiss. Hilfskraft, Institut für Europäische Studien / Institut für Europäische Geschichte, Technische Universität Chemnitz.
Rubrizierung: 2.35 | 2.313 | 2.314 | 2.315 | 2.62 Empfohlene Zitierweise: Martin Munke, Rezension zu: Martin Sabrow (Hrsg.): Autobiographische Aufarbeitung. Leipzig: 2012, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/35648-autobiographische-aufarbeitung_43028, veröffentlicht am 13.12.2012. Buch-Nr.: 43028 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken