Skip to main content

Brexit.Großbritannien zwischen Re-Nationalisierung und Globalisierung

15.03.2017
1 Ergebnis(se)
Autorenprofil
Natalie Wohlleben, Dipl.-Politologin

British MuseumDer Anspruch auf historische Größe spiegelt sich in den Exponanten ebenso wie durch das Gebäude des Britischen Museums. Hier der nach dem Entwurf von Sir Norman Foster überdachte Innenhof.
Foto: Natalie Wohlleben
Der politische Diskurs im Vereinigten Königreich ist seit Jahrzehnten geprägt durch ein Hadern mit der Frage, ob man sich europäisch integrieren soll oder nicht. Die Römischen Verträge unterzeichnete das Land nicht mit, scheiterte dann zunächst mit zwei Beitrittsgesuchen in den 1960er-Jahren am Widerspruch aus Frankreich und trat 1973 unter einer konservativen Regierung schließlich doch bei, um anschließend in einem Referendum die Bevölkerung zu fragen, ob dies denn auch dem Mehrheitswillen entspreche. Das Referendum 1975 wurde zugunsten einer Teilhabe am europäischen Integrationsprozess entschieden. Die Debatte aber ging weiter, wobei stets innenpolitische Motive eine deutliche Rolle spielten. So war es auch, als der damalige Premierminister David Cameron erneut ein „Referendum über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union“ mit der erklärten Absicht ansetzte, den andauernden Streit in der eigenen konservativen Partei über die Frage der EU-Mitgliedschaft durch ein Votum des Volkes zu befrieden – eine große politische Fehlkalkulation, wie Andrew Glencross in seinem Buch „Why the UK Voted for Brexit“ aufzeigt. Anstatt Cameron zu folgen, entschieden sich die Wählerinnen und Wähler am 23. Juni 2016 – ja, wofür? Viele nahmen an der Abstimmung erst gar nicht teil, weil sie von einem klaren Sieg der EU-Befürworter ausgingen, aber von denen, die abstimmten, entschied sich eine knappe Mehrheit gegen ein gemeinsames Europa. Seit diesem Tag wird weitergestritten, auf der Straße und im Parlament.

Das Referendum hat der ungeschriebenen Verfassung des Landes nach eine beratende Funktion, die Regierung aber hat sich entschlossen, es konsequent umzusetzen – im ersten Versuch ohne parlamentarische Zustimmung, erst nach einem Urteilsspruch des Obersten Gerichts wurde ein parlamentarischer Mehrheitsentscheid eingeholt. Die Entscheidung von Premierministerin Theresa May, den Brexit durchzusetzen und dies zudem in einer harten Version, spiegelt nun aber keineswegs einen Wählerwillen, der nach allen Regeln der Demokratie erfasst worden wäre: Diese These vertritt Gerard Delanty, Professor für Soziologie und soziopolitische Theorie an der University of Sussex (Brighton, UK) und Herausgeber des European Journal of Social Theory, in dem Interview „(Il-)Legitimität und Demokratie“, das Hendrik Simon mit ihm geführt hat. Um eine wesentliche Änderung des Status quo – worum es sich bei einem Austritt aus der EU handelt – zu legitimieren, hätte am Anfang eine parlamentarische Zweidrittel-Mehrheit stehen müssen und nicht die einfache Mehrheit in einem Referendum, mit dem komplexe politische Sachverhalte ohnehin nicht erfasst werden können.

Das Spannungsverhältnis zwischen Referendum und Repräsentation – die einander wesensfremd sind, wie bereits Ernst Fraenkel festgestellt hat – arbeitet auch Wolf J. Schünemann in seinem Buch „In Vielfalt verneint“ heraus. Dabei befasst er sich sowohl mit den demokratietheoretischen Hintergründen direktdemokratischer Entscheidungsverfahren als auch mit den Spezifika verschiedener Referenden zur europäischen Integration – eines der Fallbeispiele ist die Abstimmung über den Brexit.

Paul J. J. Welfens, Präsident des Europäischen Instituts für internationale Wirtschaftsbeziehungen (EIIW) an der Bergischen Universität Wuppertal, zeigt in seiner ausführlichen Analyse der Hintergründe, Widersprüche und Perspektiven, dass es sich eigentlich sogar um einen „BREXIT aus Versehen“ handelt – politisch nicht beabsichtigt und nun wirtschaftlich von großem Schaden für das Land. Diese Sicht findet sich auch in mehreren Kurzanalysen, die in dem Beitrag „Vor dem Referendum: Leave or Remain?“ zusammengestellt sind, sowie in den Antworten auf die Frage „Wie konnte das passieren?“. In den in diesem Beitrag vorgestellten Beiträgen verschiedener Wissenschaftler*innen schimmert immer wieder das Unverständnis über das Brexit-Votum durch, dürften doch viele Wähler*innen – so der Konsens – gegen die eigenen Interessen abgestimmt haben. Angst und Wut spielten eine treibende Kraft im Referendumswahlkampf, wie Katrin Lampe auifzeigt. Sowohl Nigel Farage als auch David Cameron praktizierten die Strategie des Negative Campaigning, um Wähler*innen zu mobilisieren.

Einige Thinktanks haben das weitere Geschehen nun unter Dauerbeobachtung gestellt, weiterführende Links finden sich unter „Im Fokus: BREXIT“. Mit einer Auswahl an Rezensionen werden „Staat – Verfassung – Devolution“ als Vorbedingung der weiteren Entwicklung abgebildet.

Und wie geht es nun weiter? Der Brexit ist eng mit der Forderung verbunden, Souveränitätsrechte von der EU zurückgewinnen zu wollen. Aber wie frei wird Großbritannien bei der Gestaltung seiner wirtschaftlichen Beziehungen künftig tatsächlich sein? Ausgehend vom EU-Zollrecht und den Regeln der WTO zeigt Michael Lux, langjähriger Leiter des Referats „Zollverfahren“ bei der EU-Kommission, den begrenzten Spielraum auf und skizziert die Möglichkeiten. Einen Schwerpunkt der Analyse unter dem Titel „Das Zollrecht begrenzt den Spielraum“ bildet die Grenze zwischen Irland und Nordirland.

Bedeutet eine wieder sicht- und fühlbare Grenze für Nordirland: Das Ende vom Lied? Bernhard Moltmann skizziert in seiner Analyse Ansatz, Rahmenbedingungen und Verlauf des nordirischen Friedensprozesses bis hin zu Symptomen seines Zerfalls. Anschließend umreißt er die Herausforderungen, die ein Brexit dem Erhalt friedlicher Verhältnisse in Nordirland auferlegt. Erste Überlegungen zur weiteren Zukunft Schottlands sind in dem Beitrag „Devolution oder Unabhängigkeit?“ zusammengestellt – der nördlichste Landesteil will auf jeden Fall im europäischen Binnenmarkt bleiben. Kommt es dennoch zum Brexit, wird sich das institutionelle und verfassungsrechtliche Gefüge in Großbritannien allerdings auch verschieben, so die Prognosen.

Zunächst hat es dann so ausgesehen, als ob eine einvernehmliche Trennung Großbritanniens von der EU gar nicht möglich sein wird, die britischen Unterhändler kamen auch nach Meinung der heimischen Medien unvorbereitet und mit leeren Händen in Brüssel. Erst seit Dezember 2017 zeichnet sich ein erster Fortschritt ab, sodass die zweite Runde der Verhandlungen beginnen konnte. In seiner Rezension des Bandes „Negotiating Brexit“ zeigt Wilhelm Johann Siemers auf, um welche Details es nun gehen wird.

Die britische Regierung verhandelt allerdings nicht nur mit der EU über die künftigen Beziehungen, sondern versucht sich auch in anderen Teilen der Welt neu zu positionieren – mit dem Brexit verknüpft hat sie auch das Versprechen eines „globalen Großbritanniens“. Ob es tatsächlich eingelöst werden kann, scheint allerdings zweifelhaft, wie Dirk Kohnerts Analyse der Zukunft der britischen Beziehungen zu Afrika zeigt: Den Ländern dort hat sie kaum etwas anzubieten, was nicht auch andere Akteure mit zunehmendem Interesse an afrikanischen Ressourcen und Märkten wie China, Indien, die USA und die EU bereits auf ihrer Agenda haben.

Die ambivalente Beziehung zu Europa wird auch in einem Digirama deutlich, das Analysen und Einschätzungen über die möglichen Folgen des Brexits vorstellt. Und dass der 23. Juni 2016 eine historische Zäsur in der Geschichte der Europäischen Union bilde, dessen Folgen schwer abzuschätzen sind, schreibt Rudolf G. Adam. Der Brexit werfe nicht nur ökonomische und institutionelle Probleme auf, sondern berge auch das Potenzial, „Großbritannien und den Kontinent politisch-psychologisch auseinander oder sogar gegeneinander zu treiben“. In einem weiteren Digirama mit dem Titel „Alle Fristen gerissen. Verlässt Großbritannien die Europäische Union ohne Deal?“ sind Einschätzungen und Analysen zum möglichen Ausgang der Verhandlungen zum Jahresende 2020 versammelt.

------------------------------------

Anmerkung: Dieser Text wurde ursprünglich von Natalie Wohlleben verfasst und wird seit Februar 2019 weiter von der Redaktion bearbeitet.

 

Neueste Beiträge aus
Demokratie und Frieden
  • Biblio Link Thomas Mirbach / 26.03.2024

    Georg Wenzelburger, Reimut Zohlnhöfer: Handbuch Policy-Forschung

    Mit der zweiten, überarbeiteten und erweiterten Auflage des „Handbuch[s] Policy-Forschung“ ist es den Herausgebern und Mitwirkenden gelungen, einen guten Überblick über das Profil eines Forschu...
  • Biblio Link Leon Switala / 21.03.2024

    Simon Schaupp: Stoffwechselpolitik. Arbeit, Natur und die Zukunft des Planeten

    Unter dem Begriff der „Stoffwechselpolitik“ zeichnet Simon Schaupp nach, dass wir die ökologische Krise nur über unsere Arbeit verstehen werden: Seine These lautet, dass Arbeit menschliches Lebe...
  • Biblio Link Nina Elena Eggers / 19.03.2024

    Birgit Sauer, Otto Penz: Konjunktur der Männlichkeit. Affektive Strategien der autoritären Rechten

    Birgit Sauer und Otto Penz betonen die geschlechterpolitische Dimension des Aufstiegs der autoritären Rechten, indem sie zeigen, wie es dieser durch eine „autoritär-maskulinistischen Identitätspo...
Neueste Beiträge aus
Demokratie und Frieden
  • Biblio Link Thomas Mirbach / 26.03.2024

    Georg Wenzelburger, Reimut Zohlnhöfer: Handbuch Policy-Forschung

    Mit der zweiten, überarbeiteten und erweiterten Auflage des „Handbuch[s] Policy-Forschung“ ist es den Herausgebern und Mitwirkenden gelungen, einen guten Überblick über das Profil eines Forschu...
  • Biblio Link Leon Switala / 21.03.2024

    Simon Schaupp: Stoffwechselpolitik. Arbeit, Natur und die Zukunft des Planeten

    Unter dem Begriff der „Stoffwechselpolitik“ zeichnet Simon Schaupp nach, dass wir die ökologische Krise nur über unsere Arbeit verstehen werden: Seine These lautet, dass Arbeit menschliches Lebe...
  • Biblio Link Nina Elena Eggers / 19.03.2024

    Birgit Sauer, Otto Penz: Konjunktur der Männlichkeit. Affektive Strategien der autoritären Rechten

    Birgit Sauer und Otto Penz betonen die geschlechterpolitische Dimension des Aufstiegs der autoritären Rechten, indem sie zeigen, wie es dieser durch eine „autoritär-maskulinistischen Identitätspo...