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Jan-Werner Müller

Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert. Aus dem Englischen von Michael Adrian

Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2013; 509 S.; geb., 34,95 €; ISBN 978-3-518-58585-6
„Contesting Democracy“ – der Originaltitel trifft präzise den Kern dieser herausragenden Darstellung der ideengeschichtlichen Demokratiewerdung in Europa. Jan‑Werner Müller, Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Princeton University, erzählt sie entlang von Persönlichkeiten, die „man als ‚Grenzgänger‘ bezeichnen könnte, […] nämlich philosophierende Staatsmänner, öffentlich wirkende Juristen, Verfassungsberater [und] Philosophen, die politischen Parteien und Bewegungen nahestehen, sowie die ‚berufsmäßigen‘ Ideenvermittler“ (9 f.). Als Leitstern, dessen Ideenschweif über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg Impulse für das Nachdenken über Staat und Politik zu geben vermag, identifiziert Müller Max Weber und dessen Definitionen der Legitimität von Herrschaft, des Kapitalismus als eine westliche Errungenschaft ohne „besondere Affinität zur Freiheit oder zur Demokratie“ (53) sowie der Bürokratie und ihrer (potenziellen) Macht. Außerdem zeigt sich, dass so etwas wie eine historische Unterströmung existiert(e) – im 20. Jahrhundert konnte „die Forderung nach Partizipation schlichtweg nicht mehr überhört werden“ (13). Sogar in den sozialistischen und faschistischen Diktaturen, deren totalitären Charaktere Müller scharfkantig voneinander unterscheidet, wurden dazu Lippenkenntnisse abgegeben. Abgesehen von ihnen aber schienen in der Zwischenkriegszeit die Zeichen auf eine sozialistische Form der Demokratisierung zu stehen (Gramsci, Austromarxisten, ungarische Räterepublik, schwedische Sozialdemokratie). Diese „Experimente im europäischen Nachkriegslaboratorium“ (116) fanden, mit Ausnahme Schwedens, mit dem Zweiten Weltkrieg ihr Ende und danach war alles anders: Während Osteuropa sich dem Stalinismus beugen musste, etablierten sich in Westeuropa – historisch bedingte – demokratische Systeme, die von christdemokratischen Politikern geprägt waren. Deren Versöhnungswerk, zu dem auch die Gründung der Europäischen Gemeinschaft gehöre, schreibt Müller, sei darauf ausgerichtet gewesen, Stabilität und Konsens zu erzeugen. Und diese Konstruktion habe sich als so stabil erwiesen, dass sie sogar die 68er‑Bewegung und den Neoliberalismus überstanden haben. Die bisher einzig reale Revolution im westlichen Europa erkennt er im Feminismus, mit dem den Männern die (körperliche) Herrschaft über die Frauen genommen worden sei. Im Anschluss an Agnoli, Luhmann, Habermas, Gorz und Foucault erinnert Müller schließlich daran, dass viele der intellektuellen Grundlagen der Demokratie „erodiert oder zum Teil fast völlig vergessen“ (406), deren künftige Aufgabenfelder aber trotzdem deutlich zu erkennen seien: der Schutz der Menschenrechte und der natürlichen Umwelt.
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 2.61 | 2.1 | 2.22 | 5.43 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Jan-Werner Müller: Das demokratische Zeitalter. Frankfurt a. M.: 2013, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/163-das-demokratische-zeitalter_43559, veröffentlicht am 07.03.2013. Buch-Nr.: 43559 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken