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Das Land soll widerspenstig sein. Jean-Luc Mélenchon präsentiert sich als linker Hyperrealist

06.04.2017
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PD Dr. phil. Matthias Lemke

Nach der ersten Präsidentschaftsdebatte im Fernsehen war er der Überraschungskandidat: Jean-Luc Mélenchon (geboren 1951). Als Gründer der Sammlungsbewegung „La France insoumise“ (Das widerspenstige Frankreich) hat er all jenen eine Stimme zu geben vermocht, die sich weder im nationalen Isolationismus Le Pens noch im europäischen Pragmatismus Emmanuel Macrons wiederfinden. Zudem bietet Mélenchons Bewegung, die viele verschiedene parteipolitische wie gewerkschaftliche Parteien und Zusammenschlüsse des radikal linken Lagers bündelt, jenen eine Alternative, die sich nach fünf Jahren Präsidentschaft enttäuscht von der Parti Socialiste (PS) abgewendet Melenchonhaben. Mélenchon selbst hat diese Distanzierung bereits 2008 vollzogen, als er im Zuge des Parteitages von Reims die PS verlassen und die Parti de Gauche (PG, Linkspartei) aus der Taufe gehoben hat. Bei der Präsidentschaftswahl 2017 präsentiert er sich – ähnlich wie Macron – als Kandidat jenseits parteipolitischer Verstrickungen. Inwieweit ihm das bei seiner langen politischen Vita, die ihm unter anderem auch einen Ministerposten im Kabinett Lionel Jospins sowie ein Abgeordnetenmandat im Europaparlament eingetragen hat, gelingen wird, ist ungewiss. Fest steht jedoch, dass Macrons Umfragewerte nach dem ersten Fernsehduell gestiegen sind, sodass er derzeit mit François Fillon um den dritten Platz konkurriert. Dass es, wie manche Kommentatoren prophezeien, am 7. Mai in der Stichwahl gar zu einem populistischen Showdown „Rechts- gegen Linkspopulismus“ kommen wird, ist derzeit eher unwahrscheinlich.

Ist Mélenchon das linke Pendant zu Marine Le Pen? Immerhin wäre auch mit ihm ein Verbleib Frankreichs in der EU alles andere als eine ausgemachte Sache. Und sogar die Frage, ob „Hugo Chavez für ihn ein politisches Vorbild, ein Modell“ (302) werden könnte, erscheint ihm nicht so abwegig, als dass er sie ignorieren würde. Doch der Reihe nach. Das für ihn aussagekräftige Buch, dessen Titel sich mit „Die Wahl des Widerstandes“ übersetzen ließe, ist tatsächlich ein über vierhundert Seiten langes Interview (Jean-Luc Mélenchon: La choix de l’insoumission. Entretien biographique avec Marc Endeweld, Paris: Éditions du Seuil 2016). Marc Endewald, Reporter bei der linken Wochenzeitschrift Marianne, dient in diesem Interview weniger als kritischer Nachfrager denn als Stichwortgeber. Als solcher liefert er die Anknüpfungspunkte, die es Mélenchon erlauben, sein Leben zu erzählen, angefangen von den Tagen seiner Kindheit in Tanger (Marokko) bis hin zur Gründung seiner Wahlbewegung für die Präsidentschaft 2017.

Diese kann, gerade was die im Buch entfaltete politische Programmatik anbelangt, als der Fluchtpunkt begriffen werden, auf den die biografische Erzählung nachgerade naturgemäß zuläuft. Sie tut dies nach einem wesentlichen politischen Ereignis, man könnte in der Tat sagen: nach einem Bruch in der Biografie Mélenchons, nämlich dem Austritt aus der Parti Socialiste (PS). Stichwortgeber für den Austritt war niemand Geringeres als Oskar Lafontaine, das „Symbol sozialistischer Dissidenz in Europa“ (292) schlechthin. Dieser habe auf seiner Parteitagsrede deutlich gemacht, dass faule Kompromisse in der Politik auf Dauer schädlich seien. Mélenchons persönlicher fauler Kompromiss sei die Kampagne der PS zur Präsidentschaftswahl 2007 gewesen. Er habe sich in „komplettem Widerspruch“ (290) zur Position Ségolène Royals befunden, die schließlich die Präsidentschaftswahl 2007 gegen den konservativen Bewerber Nicolas Sarkozy verlor. Der Parteitag von Reims sei dann der geeignete Zeitpunkt gewesen, zusammen mit zahlreichen Mitstreitern der Partei den Rücken zu kehren. Das eine Jahr, das zwischen der Wahlniederlage und dem Parteitag mitsamt dem Austritt verstrichen sei, sei nötig gewesen, um sich politisch rückzuversichern und – aus Verantwortung gegenüber der Partei, wie Mélenchon betont – sicherzugehen, keine falsche Entscheidung zu treffen.

Da aus seiner Sicht die Gestaltung einer Reform der Partei von innen aussichtslos gewesen sei, war damit auch die institutionelle Marschrichtung vorgegeben. Diese lautete: Parteineugründung. Die Parti de Gauche (PG), die in der deutschen Linkspartei durchaus ein Vorbild für sich erblickt, wurde folgerichtig am 1. Februar 2009 gegründet. Sie begreift sich als sozialistisch-demokratische Partei in der Tradition von Jean Jaurès. Programmatisch gründet sie auf der Diagnose eines fortdauernden, weltumspannenden Klassenantagonismus zwischen massenhaft verarmender städtischer Bevölkerung und global agierender, neoliberal ausgerichteter Finanzelite, etwa in Form des Internationalen Währungsfonds und der von ihm verordneten Austeritätspolitik. Es ist dieser eine Begriff – Austeritätspolitik –, der wie kein anderer die Programmatik der PG auf den Punkt bringt: sei es um zu erklären, wieso sich Europa und die Welt in einer lang anhaltenden Abwärtsspirale befinden, sei es um zu erklären, warum sich die Menschen von der Politik abwenden, sei es um zu verdeutlichen, wie notwendig eine sozial ausgewogene Politik ist oder sei es schließlich auch um die autodestruktiven Wirkungen einer auf Finanzmarktstabilität, Kostensenkung und Schuldenabbau fixierten Politik zu illustrieren, die im Brexit 2016 vorerst ihren Höhepunkt gefunden hat.

Was aber ist die Alternative, die die PG zur neoliberal dominierten globalen Standardpolitik anzubieten hat, und wie sieht diese Alternative gerade für Frankreich aus? An einer Stelle seines Interviewbandes erinnert Mélenchon an einen Satz aus der Auftaktrede seiner Kampagne zur Präsidentschaftswahl 2017: „Ich komme aus einer Welt, in der das Meer noch keine Kloake war, in der, wenn man schwimmen ging, sich noch nicht impfen lassen musste, in der, wenn man einen Apfel aß, darin genauso viele Vitamine waren, wie heute in hundert Äpfeln.“ (326) Ist das also Mélenchons Vision einer VI., einer widerspenstigen Republik? Frankreich, wie es früher einmal war? Nur ökologischer, gesünder, und dadurch irgendwie lebenswerter? Sein Standpunkt, so Mélenchon, sei „hyperrealistisch“ (369): Wenn es gelänge, Frankreichs politisches und wirtschaftliches Gewicht innerhalb der EU richtig einzusetzen, dann ließe sich der Teufelskreis neoliberaler Wachstumspolitik in all ihren Facetten durchbrechen. Im Zuge dieser EU-Reformpolitik gelte es dann – und hier fügt sich die oben bereits erwähnte EU-Skepsis ins Bild – das französische Volk über einen Verbleib in einer linkeren, gerechteren, französischeren EU abstimmen zu lassen. Und wenn Mélenchon mit Blick auf die Flüchtlingskrise schreibt, dass dieser nicht durch Zäune, sondern durch Bekämpfung der Fluchtursachen zu begegnen ist („Beseitigen wir, eine nach der anderen, die Ursachen für ihre Flucht: Krieg und Elend.“ [403]), dann erschließt sich daraus auch eine Idee, wie eine VI. Republik aussehen könnte: selbstbewusster, realpolitischer und an der Misere von all zu vielen Menschen in Europa und weltweit ernsthaft interessiert: „Es gilt zu handeln.“ (412)

Ist das Linkspopulismus? In dem Maße, wie Mélenchon komplexe Probleme auf einen sehr überschaubaren Ursachen- und Wirkungszusammenhang reduziert, ist der Populismusvorwurf sicher nicht weit. Die Einschätzung der französischen Linken, dass Europa nach Lissabon bloß noch Apparat zur Durchsetzung einer neoliberalen Agenda ist, greift sicherlich zu kurz. Und aus dieser verkürzten Einschätzung dann die Forderung abzuleiten, Frankreich müsse sehr wohl erwägen, aus der neoliberalen EU auszutreten, ist in der Tat bloß noch Populismus. Insofern dies das politische Programm des Kandidaten Mélenchon ist, sollte man es ernst nehmen. Politik jedoch, so hat er selbst an einer Stelle des Interviews formuliert, ist immer auch flexibel, veränderbar, auf konkrete Ereignisse und ihre Auswirkungen zurückgeworfen: „Um ehrlich zu sein, nicht alles ist auf den Millimeter genau vorherberechnet.“ (349)

 

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