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Hans Hermann Linscheid: Das politische System der Türkei unter dem Einfluss der AKP. Autoritäre Mehrheits- oder pluralistische Konsensdemokratie?

16.07.2021
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Autorenprofil
Prof. Dr. Rainer Lisowski
Baden-Baden, Tectum 2021

Der Autor Hans Hermann Linscheid beschreibe „die Türkei als ein Mehrparteiensystem mit einer stark majoritären Ausrichtung und einer hohen Polarisierung“, so Rezensent Rainer Lisowski. Zu diesem Ergebnis sei Linscheid unter Zugrundelegung der von Arend Lijphart entwickelten Indikatoren für die Typisierung von Demokratien gelangt. Spaltungen prägten das Land, wie zum Beispiel zwischen den urbanen Zentren und dem anatolischen Hinterland. Insgesamt habe das politische System in zunehmendem Maße autoritäre Züge angenommen. Zwar bezeichnet unser Rezensent das Buch als informativ, kritisiert aber, dass die Frage der gesellschaftlichen Demokratisierung zu sehr ausgeblendet werde. (ste)

Eine Rezension von Rainer Lisowski

Von Zeit zu Zeit bedarf es eines Updates. Wer in einschlägigen Literaturdatenbanken der Politikwissenschaft, wie etwa Pollux, die Suchphrase „Das politische System der Türkei“ eingibt, wird fündig. Die meisten der erfassten Veröffentlichungen stammen aber aus der Zeit, bevor sich die AKP-Regierung unter Recep Tayyip Erdoğan ans Werk gemacht hat, eben dieses System umzuformen. Insofern stellt Hans Hermann Linscheids gleichnamige Publikation eine Aktualisierung dar. Und seine Dissertationsschrift spitzt die Analyse des politischen Systems der Türkei auf eine markante Unterfrage zu: Haben wir es mit einer autoritären Mehrheitsdemokratie oder einer pluralistischen Konsensdemokratie zu tun?

In der 2021 erschienenen Dissertation treffen wir zunächst auf „alte Bekannte“, die jeder Studierende der Politikwissenschaft unweigerlich kennenlernen wird: Stein Rokkan, Arend Lijphart und Seymour Martin Lipset. Linscheid setzt es sich zum Ziel, das politische System der Türkei auf der Grundlage ihrer Theorieansätze zu beschreiben. Rokkan und Lipset begleiten mit ihrer Cleavage-Theorie den gesamten Diskussionsprozess wie ein roter Faden. Lijphart kommt erst spät – vielleicht etwas zu spät – zum Tragen: Erst auf Seite 258 wird sein Modell der Mehrheitsdemokratie vs. Konsensdemokratie beschrieben. Dafür wird dann aber sogleich auf der Grundlage des zuvor diskutierten Materials eine Einschätzung für die Türkei mitgeliefert.

Doch der Reihe nach. Das Buch ist erkennbar übersichtlich in vier Kapitel gegliedert. Eingangs werden Fragestellung, Untersuchungsdesign und vor allem die besagten Referenztheorien vorgestellt.

Gründlich werden im zweiten Kapitel die Polity- und Politics-Ebene beleuchtet. Etwas knapp fällt zunächst die Betrachtung der Verfassungsstrukturen (polity) aus (23-31); hier liegt der Fokus auf der Verfassung von 1982 und ihrer Umformung im Jahr 2017. Für den weiteren Verlauf der Arbeit werden die notwendigen Strukturen klar herausgearbeitet, insbesondere die Rolle des Staatspräsidenten. Aber auch der stark unitaristische Charakter des landesweiten Verwaltungsapparates wird deutlich. Mit gut 60 Seiten nimmt dann vor allem die Detailanalyse des (vor-)politischen Kräftefeldes viel Raum ein (politics). Die großen Parteien des Landes werden ebenso abgebildet, wie wichtige Interessenverbände oder organisierte Minderheiten. Dabei gelingt es Linscheid, seine Leserschaft immer darüber in Kenntnis zu setzen, welche Gruppierungen politisch wen unterstützen. Man erhält einen guten Eindruck von den gesellschaftlichen Machtstrukturen in der Türkei. Kritisch sei an dieser Stelle angemerkt, dass der AKP im Vergleich zu den anderen Parteien sehr viel Raum gegeben und insbesondere der Passus zur Kulturpolitik der AKP (40-54) detailfreudig diskutiert wird. Allerdings muss man wiederum einräumen, dass eben an dieser Stelle natürlich der Brennpunkt vieler politischer Auseinandersetzungen in dem Land liegt.

Hieran anschließend werden der politische Islam in der Republik Türkei und die Bewegung von Erdoğans ehemaligem Verbündeten und heutigem Gegenspieler, Fetullah Gülen, diskutiert. Das zweite Kapitel schließt mit einer gelungenen Zusammenfassung: Nachdem die (vor-)politischen Kräfte vermessen worden sind, werden sie in eine Analyse der Cleavage-Strukturen des Landes übertragen. Ein Abgleich mit dem aktuellen Stand der Forschung wird dabei ebenso umsichtig berücksichtigt wie auch dem Mainstream widersprechende Befunde erfasst werden; etwa die Kritik von Michael Wuthrich (University of Kansas) an der permanenten Fokussierung der Türkei-Beobachter auf den Zentrum-Peripherie-Konflikt.

Die Parteien und ihr vorpolitischer Raum determinieren aber bekanntermaßen nicht zwangsläufig den politischen Kurs eines Landes. Wo Wahlen stattfinden und wo diese einigermaßen frei, gleich und geheim sind, da spricht der Wähler, beziehungsweise die Wählerin ein ganz erhebliches Wörtchen mit. Im dritten Kapitel des Buches werden entsprechend die Wahlergebnisse der vergangenen drei Wahlen analysiert. Linscheid hat an dieser Stelle vor allem die Stimmenwanderung im Auge. Und das ist gut so, verleiten sozialstrukturelle Betrachtungen doch oftmals zu einem gewissen Fatalismus. Im Sinne von: Lebe ich auf dem Lande, dann wähle ich konservativ. Linscheids Diskussion der Wahlergebnisse macht zudem deutlich, dass die Volkspartei AKP durchaus verletzlich ist. Während sie zu Beginn ihres Aufstiegs Menschen unterschiedlicher Lager – zum Beispiel auch viele Menschen aus dem Kurdengebiet in der Türkei – mit ihrem Versprechen eines wirtschaftlichen Aufstiegs für sich gewinnen konnte, verprellte sie zwischenzeitlich nicht wenige dieser Wählerschichten, was an den Stimmergebnissen auch deutlich wird. Um etwas vorweg zu greifen: Aus diesem Umstand zieht Linscheid auch die am Ende der Arbeit geäußerte Hoffnung, dass es bei den nächsten Wahlen vielleicht den für eine lebendige Demokratie nicht unwichtigen Regierungswechsel in der Türkei geben könnte.

Ob es in diesem dritten Kapitel abschließend der (knapp ausfallenden) Betrachtung der türkischen Außenpolitik und dem Stand der EU-Beitrittsverhandlungen bedurft hätte, darf bezweifelt werden. Wirklich Neues zum Stand des politischen Konflikts bieten sie nicht; das Wesentliche wurde bereits zuvor vom Autor selbst erfasst.

Den Höhepunkt des Buches stellen die Seiten 278 ff., in denen der Verfasser seine finale Einschätzung vornimmt und sein erweitertes Cleavage-Modell für die Türkei vorstellt. Gerade die Grafik auf Seite 281 sollte besonders erwähnt werden, skizziert sie doch eine komplexere Sicht auf die Spaltungen des Landes. Zum ersten stehen dabei die urbanen Zentren in Ankara und Istanbul (beziehungsweise der Städte im Westen der Türkei allgemein) in einem geografischen Konflikt, insbesondere zum anatolischen Hochland, zur Schwarzmeerküste und zu den ländlichen Regionen. Zum zweiten, und sich teilweise mit der geografischen Spannung überlappend, ist es vor allem die alte kemalistische Elite in der Verwaltung sowie Justiz, den Universitäten und im Militär, die Teilen der (nicht-städtischen) Mittelschichten (nennen wir sie der Einfachheit halber ‚Erdoğans Mittelschicht‘) gegenüberstehen. Linscheid macht dabei sehr gut deutlich, wie stark der Putschversuch 2016 der AKP in die Hände spielte, um genau einen massiven Elitenwechsel voranzutreiben. Anders ausgedrückt: die staatlichen Apparate in ihrem Sinne zu ‚säubern‘. Als dritte Spaltungslinie erkennt er die religiöse Dimension – konservative Sunniten hier, säkulare und religiöse Minderheiten (Kurden, Aleviten) dort.

Aber wie beantwortet Linscheid am Ende die im Titel aufgeworfene Frage? Er beschreibt die Türkei letztlich als Mehrparteiensystem mit einer stark majoritären Ausrichtung und einer hohen Polarisierung. Hierzu dekliniert er systematisch die von Lijphart selbst vorgeschlagenen Indikatoren, wie etwa die starke Stellung einer Exekutivmacht oder den Unikameralismus (259-264). Zugleich habe das politische System in zunehmendem Maße autoritäre Züge angenommen (286 f.).

Aus Sicht des Rezensenten wird am Ende die Frage der gesellschaftlichen Demokratisierung zu stark ausgeblendet. Eine Demokratie ohne Demokrat*innen funktioniert eben nur schlecht und wenn die Gesellschaft als Ganzes keine Demokratie einfordert, beziehungsweise nicht selbst in starkem Maße demokratische Spielregeln tief verinnerlicht hat, dann kann dergleichen nur bedingt von der Politik erfüllt werden. Hier geht Linscheid zu wenig auf die ggf. mangelhafte Demokratisierung der türkischen Gesellschaft ein, die anderswo gut beschrieben wurde, wie etwa von Louise Sammann.

Etwas seltsam mutet der Ausblick der Arbeit an. Er vermittelt ein wenig den Eindruck, als solle bewusst eine positive Prognose gewagt werden. Dies wirkt gewollt. Fraglich, ob Stadtviertel-Moderatoren (291) tatsächlich en masse helfen könnten, einen politischen Dialog in der Gesellschaft anzustoßen. Und auch die beiden Szenarien (297 f.) für die weitere Entwicklung wollen nicht recht überzeugen, spielen sie beide doch mit der Idee, dass entweder der derzeitige Präsident abgewählt werden würde oder er zu neuen Einsichten käme. Woher insbesondere ein solcher Sinneswandel kommen sollte, bleibt aber das Geheimnis des Autors.

Alles in allem handelt es sich um ein sehr angenehm zu lesendes und informatives Buch. Aber es bleibt ein ‚Update‘. Wer vorher schon einiges über die Türkei wusste, dessen ‚Quellecode‘ wird durch die Untersuchung nicht gravierend verändert. Für die Leserinnen und Leser, für die das Thema Neuland darstellt, sei es unbedingt empfohlen.

 

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