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Sven Hölscheidt

Das Recht der Parlamentsfraktionen

Rheinbreitbach: NDV Neue Darmstädter Verlagsanstalt 2001; 764 S.; geb., 75,80 €; ISBN 3-87576-457-9
Rechtswiss. Habilitationsschrift Kiel; Gutachter: A. von Mutius, R. Hofmann. - Hölscheidt untersucht in seiner sehr umfangreichen, das komplexe Thema nahezu völlig erschöpfenden Arbeit (die 692 Textseiten sind eng und klein bedruckt, allein der zusammenfassende § 18 umfasst 55 Seiten) erstmalig vergleichend das Recht der Bundestagsfraktionen sowie aller deutscher Landtagsfraktionen (also inkl. Bürgerschaften und Berliner Abgeordnetenhaus). Inwieweit lässt sich aus der Rechtsprechung, der Literatur, der Praxis sowie aus den weit überwiegend erst in den letzten 10 Jahren kodifizierten Fraktionsgesetzen in Bund und Ländern ein allgemeingültiges Recht der Parlamentsfraktionen herausarbeiten? Die "konkret-realitätsbezogene" (37) Gesamtstudie ist trotz ihres überwiegend juristisch-theoretischen Charakters immer auch an der politischen Praxis sowie an deren Aufarbeitung durch die Politikwissenschaft orientiert. Dogmatischer Rechtspositivismus ist Hölscheidts Analysen fremd. Sein Ansatz bringt die Staatsrechtslehre einerseits und eine realistisch betrachtete politische Praxis andererseits weitgehend in Einklang. So werden die naturgemäß überwiegend rechtlichen Erwägungen stets mit Beispielen aus der historischen und aktuellen deutschen Parlamentspraxis illustriert. Zahlreiche Tabellen und Grafiken mit den Ergebnissen eigener umfangreicher Auswertungen z. B. zur Fraktionsfinanzierung in allen Parlamenten in der Bundesrepublik seit 1949 (!) steigern den enormen Informationswert des Bandes. Beeindruckend ist auch der Umfang der untersuchten Literatur zu zentralen Fragestellungen und Begriffen (z. B. in der Passage zum Thema "Fraktionszwang" [438 ff.]), wobei jeweils die vorhandenen Meinungen und Argumente - regelmäßig auch mit Kontinuitäten und Brüche aufzeigenden Rückgriffen auf frühere deutsche Parlamente - systematisch gesammelt, sortiert und bewertet werden. Seine eigenen Ansichten, die nicht immer mit der "herrschenden Lehre" übereinstimmen, legt der Autor stets offen dar. Diese Ansichten überzeugen nicht in jedem Fall, z. B. bei Hölscheidts en passant und ohne Prüfung der Implikationen für das politische System geäußertem Wunsch nach einem Selbstauflösungsrecht für den Bundestag (113). Einzelne Aussagen sind sogar untereinander klar inkonsistent (z. B. 417 vs. 469). Grundsätzlich nimmt der Autor eine sehr minderheitenfreundliche Haltung ein; so sei z. B. den Abgeordneten der PDS im Bundestag in der 13. Wahlperiode der Fraktionsstatus "zu Unrecht vorenthalten worden" (417). Hölscheidt bestreitet den gern beklagten "Funktionsverlust" der Parlamente und konstatiert vielmehr einen "Funktionswandel" (255). Trotz seines realistischen Augenmerks auf die politische Praxis vermag er aber das tradierte staatsrechtliche, der Praxis unangemessene Denken in den Analysekategorien "Staatsorgan", u. a. mit dem Gegenüber von Parlament und Regierung, noch nicht ganz zu überwinden. So sieht er wiederholt im angeblichen Einflussgewinn der Exekutive gegenüber dem Parlament die größte Bedrohung des parlamentarischen Systems (z. B. 672). Was dem Buch gut getan hätte, wären systematisch zusammenfassende Abschnitte mit einem Vergleich der Regelungen für den Bundestag einerseits und dem jeweiligen "mainstream" der Regelungen der Bundesländer andererseits. Die Besonderheiten des Bundestages muss sich der Leser aus den Darstellungen selbst erarbeiten. Mit dem sehr gut lesbaren, durch diverse Tabellen und Schaubilder ergänzten Band, der trotz des gewaltigen Umfangs die Dinge jeweils klar und präzise auf den Punkt bringt, ist fraglos ein neues Referenzwerk entstanden, welches die regelmäßige Aktualisierung (und auch die noch verstärkte Berücksichtigung neuester politikwissenschaftlicher Forschung) lohnen würde. Aus dem Inhalt: § 1 Einführung in das Recht der Parlamentsfraktionen; § 2 Verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Determinanten des Rechts der Parlamentsfraktionen; § 3 Parlamentsrecht: II. Das Mandat als Grundnorm des Parlamentsrechts; III. Parteienrechtsartikel; IV. Geschäftsordnungsautonomie; V. Aufgaben des Parlamentsrechts; VI. Parlamentsrecht als Ergebnis von "Selbst-Rechtssetzung"; VII. Verhältnis zur Partei-Politik. § 4 Überblick über die Geschichte der Parlamentsfraktionen; § 5 Rechtsgrundlagen der Parlamentsfraktionen; § 6 Verfassungsrechtliche Verortung der Parlamentsfraktionen: II. Verfassungsunmittelbare Fraktionsverortung; III. Freies Mandat als Koalitionsrecht der Abgeordneten; IV. Parteienrechtsartikel; V. "Synoptische Konkordanz" der Normbereiche; VII. Eigene Ansicht: Dreifach gestützte Verortung. § 7 Abstrakte Bestimmung der Funktion von Parlamentsfraktionen: II. Parlamentsfunktion; III. Mitgliederfunktion; IV. Parteifunktion; V. Außenfunktion. § 8 Organisation und Arbeitsweise der Parlamentsfraktionen; § 9 Rechtscharakter der Parlamentsfraktionen; § 10 Innerparlamentarische Rechte und Pflichten der Parlamentsfraktionen; § 11 Rechtsverhältnisse zwischen dem Abgeordneten auf der einen Seite und auf der anderen Seite dem Volk/Wähler, dem Parlament sowie der Partei; § 12 Rechtsverhältnis zwischen Abgeordnetem und Parlamentsfraktion: I. Begründung des Mitgliedschaftsverhältnisses; II. Vorschriften über die Fraktionsbildung und ihre Anwendung im Bundestag und in den Landesparlamenten; III. Systematisierung der Vorschriften; IV. Bewertung der Vorschriften über Mindeststärke und politische Homogenität; V. Konstituierung der Fraktionen; Mitteilungspflichten und Bezeichnung; VI. Exkurs: Gruppen; VII. Ausgestaltung des Mitgliedschaftsverhältnisses; VIII. Fraktionszwang und Fraktionsdisziplin; IX. Ausschussrückruf; X. Beendigung der Rechtsstellung und der Fraktionsgemeinschaft. § 13 Politische Beziehungen; § 14 Normierungen der staatlichen Finanzierung der Parlamentsfraktionen: III. Tabellarische Übersichten über die staatlichen Geldleistungen. § 15 Analyse und Bewertung des Systems der staatlichen Leistungen an die Parlamentsfraktionen; § 16 Beiträge der Abgeordneten an ihre Fraktionen; § 17 Prozessrechtliche Probleme der Parlamentsfraktionen.
Andreas Beckmann (AB)
M. A., Doktorand, Institut für Sozialwissenschaften, Bereich Politikwissenschaft, Universität Kiel.
Rubrizierung: 2.321 | 2.325 Empfohlene Zitierweise: Andreas Beckmann, Rezension zu: Sven Hölscheidt: Das Recht der Parlamentsfraktionen Rheinbreitbach: 2001, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/16292-das-recht-der-parlamentsfraktionen_18704, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 18704 Rezension drucken