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Alke Jenss / Stefan Pimmer (Hrsg.)

Der Staat in Lateinamerika. Kolonialität, Gewalt, Transformation

Münster: Westfälisches Dampfboot 2015; 321 S.; 34,90 €; ISBN 978-3-89691-972-4
Der mittlerweile Jahrzehnte alte Traum der europäischen Linken, in Lateinamerika warte die bessere Zukunft, ist immer noch lebendig, wie sich in der Einleitung von Alke Jenss und Stefan Pimmer zeigt: „Unter dem Motto ‚Von Lateinamerika lernen‘ wird immer öfter auf lateinamerikanische Erfahrungen verwiesen, um daraus mögliche Strategien für die europäische Krisenbewältigung abzuleiten.“ (11) Wie dies angesichts eines völlig anderen historischen Hintergrundes durch den Kolonialismus und der von Jenss und Pimmer selbst angeführten doch höchst unterschiedlichen Entwicklungen von Staatsprojekten – Fortbestand des Neoliberalismus unter zunehmend autoritären Vorzeichen (Mexiko), neodesarrollistisch (Brasilien, Argentinien) oder plurinational (Bolivien) – konkret auszusehen hätte, bleibt allerdings auch in diesem Band eine unbeantwortete Frage. Dies liegt vor allem daran, dass es sich die Autorinnen und Autoren nicht zur Aufgabe gemacht haben, belastbare Kriterien zu entwickeln. So bleibt die Aussage, in Lateinamerika habe der Neoliberalismus seine Hegemonie verloren, zunächst nur eine Behauptung – zumal ungewiss sein dürfte, welche Pfade nach möglichen Regierungswechseln eingeschlagen werden. Die ersten beiden Kapitel sind einer Annäherung an lateinamerikanische Konzepte und Theoretiker gewidmet, wobei sich die Autor_innen dem marxistischen Zugang verschrieben haben. Es kommt zu einigen unergiebigen Redundanzen, die auch durch die Verweise auf Gramsci nicht interessanter werden. Der Staat wird zwar vornehmlich als Ausdruck sozialer Beziehungen und Verhältnisse verstanden, ein Blick auf die sozialen Bewegungen gerade in jüngerer Zeit als Erklärungsansatz für die Veränderungen von Staatlichkeit bleibt aber weitgehend aus. Rekurriert wird nur wiederholt auf das Konzept der sociedad abigarrado, mit dem der bolivianische Politiker und Philosoph René Zavaletas die fragmentierte Gesellschaft (seines Landes), die nicht vollständig vom Staat erfasst wird, beschrieb. Trotz dieses Kontextes wird die neue plurinationale Verfassung Boliviens nur im Lichte einer linken Transition gedeutet, nicht aber erörtert, inwieweit sie (erst einmal nur) eine nachholende Entwicklung zur Vervollständigung der Staatlichkeit darstellt. Im dritten und vierten Teil werden in den Beiträgen von Carlos Figueroa/Octavio Moreno Velador, Dieter Boris und Mabel Thwaites Rey/Hernán Ouvina konzentrierte Überblicke über den Zusammenhang von staatlicher Macht und Gewalt, Aspekte der Staatsentwicklung im historischen Längsschnitt sowie die Möglichkeit, Reformen als Transition wahrzunehmen, gegeben. Den Abschluss bildet ein Beitrag von Rhina Roux darüber, wie die neoliberale Politik in Mexiko tradierte gesellschaftliche Beziehungen aufgebrochen und allenfalls durch eine fragmentierte Staatlichkeit ersetzt hat.
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Rubrizierung: 2.652.22.215.41 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Alke Jenss / Stefan Pimmer (Hrsg.): Der Staat in Lateinamerika. Münster: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/38543-der-staat-in-lateinamerika_46668, veröffentlicht am 18.06.2015. Buch-Nr.: 46668 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken