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Gilbert Achcar

Die Araber und der Holocaust. Der arabisch-israelische Krieg der Geschichtsschreibungen. Aus dem Englischen übersetzt von Birgit Althaler und Sophia Deeg

Hamburg: Edition Nautilus 2012; 367 S.; 28,- €; ISBN 978-3-89401-758-3
Opferkonkurrenz bezeichnet jenen Vergleich der Geschichten von Völkern, der das jeweils erlebte Leid und erfahrene Unrecht gegeneinander aufrechnen will. Dass damit die Erzwingung einer Angleichung von durch und durch nicht zu vergleichenden Erfahrungen einhergeht, liegt auf der Hand. Umso bemerkenswerter ist Achcars historisch-politische Rekonstruktion der Haltung der arabischen Welt (hier als Pluralbegriff gemeint) zum Holocaust, die sich – vehement um Differenzierung bemüht – gegen die Tendenz zur Entdifferenzierung stemmt. Achcar geht in seiner Analyse konkurrierender Geschichtsschreibungen – die als nachträgliche Deutungen und Sinneinschreibungen auch tagespolitisch höchst relevant sind – der Frage nach, welche wechselseitigen Wahrnehmungen Israel und die arabische Welt voneinander haben, gerade wenn es darum geht, das eigene politische Handeln in der Gegenwart zu legitimieren. Während die Staatsgründung Israels nicht ohne die Shoa gedacht werden kann, existiert für eben diese Staatsgründung im Arabischen der zur Shoa analoge Begriff „Nakba“ (29), was als „schmerzliche Katastrophe“ übersetzt werden kann. Schon in diesem einen Unverstehen wird deutlich, wie verfahren die Lage in Nahost tatsächlich ist: Während die israelische Staatsgründung unverbrüchlich mit der Tatsache der Opferrolle der Juden im Holocaust zusammenhängt, begreifen sich die von der Staatsgründung betroffenen Völker (etwa die Palästinenser) als arabische Opfer der israelischen Opfer – und rechtfertigen so ihren Kampf gegen Israel als letzten antikolonialen Befreiungskampf. Auch die immer wieder zu beobachtende Holocaustleugnung wird so, wie Achcar aufzeigt, aus der Perspektive der beteiligten Akteure plausibel: Aus arabischer Sicht handelt es sich dabei nur um eine Erzählung zur Verdeckung der eigentlichen Absichten Israels im Rahmen der imperialen Durchsetzung seiner realpolitischen Interessen. – „Der gesunde Verstand ist die bestverteilte Sache der Welt“ (259), so lautet das Descartes-Zitat, das Achcar seinem Schlusskapitel voranstellt. Wenn dem so wäre, so muss ein ernüchterndes Fazit nach der Lektüre des hochspannenden Buches lauten, dann dürfte es so etwas wie Opferkonkurrenz nicht geben. Da sie nun aber offensichtlich doch existiert und da sie zudem von allen Seiten politisch instrumentalisiert wird, wird auch Achcars überaus überzeugendes Beispiel für Differenzierung und Empathie sowie sein abschließender Appell für eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts weitgehend ungehört verhallen. Und das in jeder Hinsicht zu Unrecht.
Matthias Lemke (LEM)
Dr. phil., Politikwissenschaftler (Soziologe, Historiker), wiss. Mitarbeiter, Institut für Politikwissenschaft, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.
Rubrizierung: 2.63 | 4.41 | 2.25 | 2.312 | 2.23 | 2.22 Empfohlene Zitierweise: Matthias Lemke, Rezension zu: Gilbert Achcar: Die Araber und der Holocaust. Hamburg: 2012, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/35217-die-araber-und-der-holocaust_42403, veröffentlicht am 13.09.2012. Buch-Nr.: 42403 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken