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Die beiden Nord Stream-Projekte und die sogenannte „Ukraine-Krise“. Folgen für das russisch-ukrainische Verhältnis

28.09.2020
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Dr. Andreas Umland

Foto: Vuo / Wikimedia Commons, Lizen:z CC BY SA 40 (httpscreativecommonsorglicensesby sa40}Ein Stück der Nord Stream-Pipeline wird in Kotka (Finnland) öffentlich ausgestellt. Foto: Vuo / Wikimedia Commons, Lizenz CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/)

 

Die weltweiten Rückwirkungen der Corona-Pandemie werden offenbar nicht nur ökonomischer Art sein, sondern auch eine sicherheitspolitische Dimension haben. Zu befürchten ist insbesondere, dass fragile Staaten, schwelende Konflikte und instabile Vereinbarungen wieder in Bewegung geraten und ohnehin angespannte Situationen neuerlich eskalieren. Dies gilt etwa für Länder in geopolitischen Grauzonen, die nur gering durch internationale Organisationen strukturiert sind. In Europa betrifft dies in erster Linie die Ukraine.

 

Die russisch-ukrainische Interdependenz bis 2012

Ein grundlegender Bestimmungsfaktor der geoökonomischen Situation der Ukraine bestand bis kurz vor der Euromaidanrevolution von 2014 darin, dass sie sich aufgrund ihres großen Gasleitungssystems in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis mit dem Energieexporteur Russland befand. Ein großer Teil des aus Russland kommenden westsibirischen und zentralasiatischen Erdgases für die EU floss bis 2011-2012 durch die Ukraine. Die hohen jährlichen Einnahmen des staatlichen Großkonzerns „Gazprom“ aus den gewaltigen Gasexporten nach Europa waren und sind für die russische Wirtschaft systemtragend. Sie funktionierten damit vor Inbetriebnahme der Nord Stream-Leitung als eine Art Versicherung für Kyjiw.

Auch profitierte die Ukraine – und profitiert heute noch, wenn allerdings in deutlich geringerem Ausmaß – von den jährlichen mehr oder minder hohen Transitgebühren für die Weiterleitung westsibirischen und zentralasiatischen Gases durch ihr Land. Wichtiger noch als der finanzielle Aspekt war die hohe geoökonomische Hebelkraft gegenüber Moskau, über welche die Ukraine bis 2011-2012 durch ihre Kontrolle eines Großteils der russischen Gasexporte verfügte. Kyjiw hätte seinerzeit mit einem Handschlag über die Hälfte der russischen Erdgasausfuhren in die EU unterbinden können.

Diese Interdependenz Kyjiws und Moskaus verminderte sich bereits durch die Inbetriebnahme des ersten Strangs der Nord Stream-Ostseepipeline im September 2011. Sie sank nochmals nach der feierlichen Eröffnung des zweiten Nord Stream-Strangs im Oktober 2012. Eine dritte Reduktion russisch-ukrainischer Interdependenz durch die Inbetriebnahme der Nord Stream 2-Pipeline würde das ukrainische Leitungssystem für den EU-Russland-Gashandel potenziell überflüssig machen. Dies wäre eine schwerwiegendere geopolitische Folge dieses Projektes, als der häufig zitierte Einnahmeverlust, den die Ukraine durch weitere Umleitungen russischen Erdgases in die neue Ostseeleitung erleiden würde.

 

Lücken in der westlichen Ostwirtschaftsanalyse

Nicht selten sind öffentliche Darstellungen dieser komplizierten Situation nicht nur bei den russischen Propagandainstrumenten, wie „Russia Today“ oder „Sputnik“, sondern auch in den Massenmedien, ja teils bei Expertendebatten in der EU, entstellend. So sind die in den publizierten Beiträgen genannten bisherigen und künftigen russischen Zahlungen für den Gastransport durch die Ukraine und die zu erwartenden finanziellen Einbußen Kyjiws aufgrund einer Reduktion des Gastransits durch Nord Stream 2 als solche irreführend. Oft werden die ukrainischen Einnahmen aus der Weiterleitung russischen Erdgases hierbei nicht den signifikanten Kosten Kyjiws für die technische Sicherstellung der Transportleistung gegenübergestellt. Die ukrainischen Ausgaben für die Aufrechterhaltung des existierenden Landleitungssystems werden darüber hinaus meist unvollständig mit den ökomischen und ökologischen Gesamtkosten für den Bau und Unterhalt der unter Wasser liegenden Nord Stream-Projekte sowie ihrer innerrussischen Zulieferinfrastruktur verglichen. Diese Unterlassungen erzeugen ein schräges Bild von den Gewinnern und Verlierern der beiden kostspieligen Ostseeleitungen. Sowohl der Gazpromkonzern als auch europäische Gaskonsumenten erscheinen manchmal als Geißeln einer ukrainischen Abzocke für eine andernorts angeblich weit billiger zu habende Pumpleistung.

Seit mehr als einem Jahrzehnt zirkuliert unter westeuropäischen Befürwortern der Nord Stream-Projekte die Insiderinformation, dass das von der UdSSR geerbte ukrainische Leitungsnetz kurz vor dem physischen Kollaps stehe. Diese scheinbar plausible Beurteilung postsowjetischer Industriekapazität wird allerdings mit jedem Jahr mehr oder minder zuverlässigen Gastransits durch die Ukraine fragwürdiger. Glaubt man in Brüssel, Berlin, Wien und anderen westeuropäischen Hauptstädten seit Jahren kursierender Binsenweisheiten, hätte der Überlandtransport russischen Erdgases aufgrund des angeblich hochmaroden ukrainischen Leitungssystems längst einbrechen beziehungsweise gar zum Erliegen kommen müssen.

Weitgehend unberücksichtigt bleibt in der westlichen Medien- und Expertendebatte die Frage, welche sozialen Folgen die Inbetriebnahme der Nord Stream 2-Pipeline und eine etwaige Einstellung jeglichen Transits russischen Erdgases durch die Ukraine in die EU hätte. Unter osteuropäischen Energiespezialisten wird diskutiert, ob und wie die Gasversorgung innerhalb der Ukraine für die Bevölkerung in diesem Fall gesichert werden kann. Was passiert, sollte der bislang durch die russische Gaseinspeisung erzeugte Druck im ukrainischen Gesamtleitungssystem entfallen? Derzeit scheint offen zu sein, wie der Energietransport innerhalb der Ukraine technisch zu bewerkstelligen ist, sollte das jetzige Leitungsnetz keine Transitfunktion mehr haben. Das in den siebziger Jahren für eine gleichzeitig externe und interne Nutzung gebaute Pipelinesystem ist womöglich nicht voll betriebsfähig, wenn es nur noch für seine sekundäre Aufgabe, die Gasversorgung ukrainischer Abnehmer, notwendig wäre.

 

Ignorierte Lehren aus der Geschichte

Der 12-jährige „Röhrenkredit I“ Bonns für Moskau vom Jahr 1970 stellte das bis dahin größte deutsch-sowjetische Finanzgeschäft dar. Das 2005 initiierte erste Nord Stream-Projekt war das bis dahin größte Infrastrukturvorhaben Europas. Beide Abkommen haben zur Annäherung von Deutschen und Russen beigetragen. Sie haben für mehr Energiesicherheit in Westeuropa und sozioökonomische Entwicklung in der UdSSR beziehungsweise in Russland gesorgt.

Weder der eine noch der andere Pipelinedeal konnte jedoch den jeweils neun Jahre später erfolgenden Truppeneinmarsch Moskaus in ein Nachbarland 1979 und 2014 sowie die darauffolgenden tiefen Zerwürfnisse des Kremls mit dem Westen verhindern. Tragikomischerweise war es ausgerechnet die verflechtungsfördernde Friedensmacht Deutschland, die seit Unterzeichnung des ersten Nord Stream-Vertrags 2005 eine zentrale Rolle bei der Aufweichung der russisch-ukrainischen ökonomischen Interdependenz gespielt hat. Mit dem Nord Stream-2-Projekt schickt Berlin sich derzeit gerade an, diesen Sack endgültig zuzumachen. In Zeiten sinkenden internationalen Energiebedarfs und wachsender politischer Fragilität ist das von Anfang an fragwürdige Nord Stream-Projekt dubioser denn je geworden.


Eine ausführliche Darstellung dieses Sachverhalts findet sich hier:
Andreas Umland, Die friedenspolitische Ambivalenz deutscher Pipelinedeals mit Moskau – eine interdependenztheoretische Erklärung des russisch-ukrainischen Konfliktes,
in: SIRIUS – Zeitschrift für Strategische Analysen, Band 4, Heft 3, Seiten 293–303, eISSN 2510-2648, ISSN 2510-263X. DOI: https://doi.org/10.1515/sirius-2020-3005

 

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